An die Presbyterien der EKiR

d.d. Superintendentinnen und Superintendenten

An die landeskirchlichen Einrichtungen

An das Diakonische Werk der EKiR

An das Diakonische Werk an der Saar

An die Beauftragten der ev. Kirche am Sitz der Landesregierung

Saarland, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Hessen,

Württemberg und Baden

An den Beauftragten für Diakonie in Rheinland-Pfalz

 

nachrichtlich:

Mitglieder der Kirchenleitung

Landeskirchenamt Abteilung I bis VI

Pressestelle

Frauenreferat

Ev. Kirche von Westfalen

Lippische Landeskirche

DER PRÄSES

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

542961

Az. 24-14-0

 

 

3. September 2004

 

 

 

„Integrieren statt Ignorieren“

Woche der ausländischen Mitbürger / Interkulturelle Woche 2004

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Schwestern und Brüder,

 

„nur wer um seine Identität weiß, ist fähig zur Verständigung“. Dieser auf die christliche Existenz gemünzte Satz von Friedrich Schleiermacher gilt in gleicher Weise für das Thema Migration in ihren verschiedenen Erscheinungsformen. Wenn Politik und Gesellschaft die Tatsache anerkennen, dass Migration im globalen Maßstab geschieht und dies nicht länger verdrängen, sind sie in der Lage, das Wanderungsgeschehen zu gestalten und damit den Boden für ein gedeihliches Miteinander der Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache, Religion und Kultur zu bereiten. Als Grundprinzip gilt: „Nur was man innerlich akzeptiert, kann man auch gestalten“[1]

 

„Integrieren statt Ignorieren“ ist das Leitmotiv der diesjährigen „Woche der ausländischen Mitbürger“, die vom 26.09. bis 02.10.2004 überall in Deutschland stattfindet. In unserer Landeskirche wird die Auftaktveranstaltung am 26.09.2004 mit einem Gottesdienst im Altenberger Dom sein.

 

Integration kann nur gelingen, wenn die notwendigen gesetzlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen vorhanden sind oder wie wir es in einer Broschüre formuliert haben „Integration braucht ein Konzept“. Nach mehrjährigem zähen Ringen sind die Verhandlungen um ein neues Zuwanderungsgesetz Anfang Juli zu einem Abschluss gebracht worden. Leider hat der zuletzt gefundene Kompromiss nur ansatzweise den notwendigen Paradigmenwechsel eingeleitet. Deshalb gilt es in der täglichen Praxis wachsam und entschlossen Partei für diejenigen zu ergreifen, die in unserer Gesellschaft meistens keine Stimme und keine Lobby haben. Vieles geschieht außerhalb unseres Blickwinkels; vieles würde man nicht für möglich halten, wenn es uns nicht durch konkrete Beispiele kenntlich gemacht würde.

 

In der Vergangenheit haben wir uns dafür eingesetzt, Verfahrensberatungsstellen einzurichten, Härtefallkommissionen zu schaffen, und jüngst auch dafür, dass am Flughafen Düsseldorf die bislang erste und einzige Abschiebungsbeobachtungsstelle in Deutschland und Europa eingerichtet und - zusammen mit der Evangelischen Kirche von Westfalen - eine Projektstelle Illegalität geschaffen wurde.

 

Die dadurch erreichten Standards können allerdings nicht verhindern, dass weiterhin

 

·         Familien bei Abschiebungen getrennt werden;

·         Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen aus Kriegsgebieten für reise- und damit abschiebefähig erklärt werden;

·         Menschen, die seit vielen Jahre bei uns leben und in unsere Gesellschaft integriert sind, kein Bleiberecht erhalten, sondern (freiwillig) ausreisen müssen.

 

Wir bitten Sie, vergleichbare Beispiele zu dokumentieren und uns zur Kenntnis zu bringen, wenn sie Ihnen bekannt werden, damit wir sie an die EKD weiterleiten können. Gleichzeitig ermutigen wir Sie, sich mit Ihren Landtagsabgeordneten in Verbindung zu setzen und sie auf die Problematik aufmerksam zu machen. Langfristig „Geduldete“ könnten im Gottesdienst der Gemeinde über ihre Situation berichten und ihrer Lebenssituation „ein Gesicht geben“.

Bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes sollte eine Übergangsregelung analog zu den früheren „Altfallregelungen“ geschaffen werden, um unnötige Belastungen der Ausländerbehörden bzw. Verwaltungsgerichte zu vermeiden.

 

Ein Kernstück des neuen Zuwanderungsgesetzes ist die von den Kirchen seit langem geforderte Härtefallregelung. Wir gehen davon aus, dass die bisherigen Kriterien für die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Härtefallkommission NRW beibehalten werden und als Modell für die Einrichtung neuer Härtefallkommissionen im Bereich unserer Kirchen dienen. Die hohe Akzeptanz der Arbeit der Härtefallkommission NRW beruht nicht zuletzt darauf, dass in ihr erfahrene Mitarbeiter in der Migrationsarbeit mitwirken, die sowohl das Interesse der Antragsteller als auch die gesetzlichen Rahmenvorgaben im Blick haben.

 

Neben der Flüchtlingsarbeit ist es Auftrag von Kirche und Diakonie, den Prozess der Eingliederung von Zugewanderten kritisch zu begleiten. Gegenwärtig sind mehr als 100.000 Menschen in Deutschland lediglich im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, obwohl sie alle Voraussetzungen für eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erfüllen. Sie könnten Gefahr laufen, im Rahmen des neuen Zuwanderungsgesetzes bei Bezug des sogenannten Arbeitslosengeldes II keine Chance mehr zu haben, in den Genuss einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung zu gelangen.

 

Es ist wichtig, im Rahmen der Interkulturellen Woche möglichst viele Betroffene davon zu überzeugen, noch vor Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes Anträge auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu stellen.

 

Ein formaler Fortschritt des neuen Zuwanderungsgesetzes besteht in der notwendigen Verknüpfung von Zuwanderung und Integration. Wir tragen alle an der Hypothek, bis jetzt kein überzeugendes Konzept entwickelt zu haben, wie auf Dauer das Miteinander von Menschen verschiedener Herkunft, Sprache, Religion und Kultur gestaltet werden kann. Wie immer auch eine Integrationspolitik aussieht, die Zielvorstellung sollte klar sein, und notwendig ist vor allem, dass darüber ein gesellschaftlicher Konsens hergestellt wird. Integration ist kein statischer Begriff, sondern ein wechselseitiger Prozess. Damit er gelingen kann, ist folgendes nötig:

 

·         die gleichberechtigte Teilhabe an der Gestaltung unseres Gemeinwesens muss ermöglicht werden;

·         der Lebensunterhalt muss gesichert werden können, d.h. die Möglichkeit, Zugang zum Arbeitsmarkt zu haben, muss gegeben sein;

·         Unverzichtbar sind Kenntnis und Praxis der deutschen Sprache.

 

In diesen Zusammenhang kann auch die Auseinandersetzung mit dem „Kopftuch“ gestellt werden. Ich fürchte freilich, dass die gegenwärtige Diskussion eher zu Konfrontationen führt als dass sie der Integration dient.

Die aktuelle Frage, ob muslimische Lehrerinnen in der Schule mit Kopftuch unterrichten sollten oder nicht, ist sicher auch für den Gesetzgeber nicht leicht zu entscheiden, geht es doch hier um zwei konkurrierende Grundrechte: das Recht auf Religionsfreiheit der Lehrerinnen und das Recht der Religionsfreiheit von Kindern und Eltern. Auch innerhalb der Kirchen gibt es in dieser Frage unterschiedliche Auffassungen. Ich kann an dieser Stelle nicht auf die vielschichtige Problematik eingehen. Wichtig scheint mir aber, dass der Diskurs von allen Seiten mit sachlichen Argumenten geführt wird, um emotional aufgeladene Spannungen, die den Schulfrieden stören können, zu vermeiden. Wenn dieser Streit offen und sachlich geführt wird, so ist er aus meiner Sicht auch eine wichtige Gelegenheit für konstruktive Gespräche mit Muslimen, bei denen es nicht nur auf die Feststellung von grundsätzlichen Übereinstimmungen ankommt, sondern auch auf eine als nützlich und weiterführend anzuerkennende Pflege von Streitkultur, mit deren Hilfe es – mit viel Geduld und Ausdauer – vielleicht zu einem Konsens über zentrale gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Fragen kommen kann.

 

Dass Migration und Integration die Menschen verändern, wird im täglichen Umgang miteinander erfahren, bei der gemeinsamen Arbeit wie beim gemeinsamen Feiern. Wir fangen nicht am Nullpunkt an; es gibt durchaus Erfahrungen gelungener Integration, darauf können wir aufbauen.

 

Unsere Kirche ist von Beginn an in der Migrations- und Integrationsarbeit aktiv. In vielen Gemeinden sind Gruppen und Initiativen entstanden, die in regionalen und überregionalen Netzwerken dazu beitragen, dass Spannungen abgebaut und der soziale Friede in unserem Land gefördert werden. Ich danke allen, die durch ihre Zeit, ihre ehren- oder hauptamtliche Mitarbeit dazu beitragen, dass positive Beispiele der Integrationsarbeit Anreize schaffen, Zuflucht suchenden Menschen bei uns Heimat zu geben und sie bei der Gestaltung ihrer Lebensperspektive zu unterstützen.

 

Ich wünsche Ihnen für Ihre Vorhaben während der „Interkulturellen Woche“ Gottes Segen und grüße Sie herzlich

 

Ihr

gez. Nikolaus Schneider

 

 

Anlagen: Materialien zur „Woche der ausländischen Mitbürger / Interkulturelle Woche 2004“

 



[1] Weihbischof Josef Voss, Münster am 07.02.2004 bei der Auswertungstagung des ÖVA in Düsseldorf