Pressemitteilung

Die Zukunft des Protestantismus, der Protestantismus der Zukunft

Vortrag von Präses Nikolaus Schneider

  • Nr. Vortrag von Präses Nikolaus Schneider im Rahmen der 29. Duisburger Akzente „Woran glauben?“ am 21. Mai 2006, 20 Uhr in der Salvatorkirche, Duisburg. Es gilt das gesprochene Wort.
  • 23.5.2006
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Unruhe herrscht, Ratlosigkeit. Die Leitfigur, die bisher Orientierung vermittelte, ist verschwunden. Aber man braucht doch eine Wegweisung, ein möglichst handfestes Symbol und man ist bereit, dafür viel zu investieren. Gold und Geschmeide wird eingeschmolzen. Ein Standbild wird gefertigt. Da kehrt wieder Ruhe und  Zufriedenheit ein: „Das Volk setzte sich zum Essen und zum Trinken und stand auf, um sich zu vergnügen“ – so wird vom Volk Israel in der Wüste vor dem Berg Sinai berichtet.
Und was stand da? Ein goldenes Kalb, das selber nichts anzubieten hatte – bloß ein Abbild der Sehnsüchte.
Orientierungslosigkeit wird allenthalben auch für unsere Gesellschaft konstatiert.
Aber nicht, weil wir gar nichts hätten, woran wir uns orientieren könnten, sondern weil zu viele Angebote konkurrieren. Und wohl auch, weil die Teilsysteme unserer Gesellschaft je nach eigenen Regeln zu funktionieren scheinen: Politik und Ökonomie, Wirtschaft und Arbeitswelt, soziale Dienste und Bildung.
Das ordnende Ganze, ein gemeinsames Ziel fehlt.
Und zusätzlich ist für die allermeisten bei uns das Gespür dafür geblieben, dass neben der Sorge um die materielle Absicherung des Alltags auch die Sorge für die Seele treten muss. Mit sich selbst so ins Reine kommen, damit das Heute und das Morgen lebenswert bleiben – auch dafür gibt es viele Hilfsangebote: von den Horoskopen über verschiedenste Psycho-Therapien, Meditationsübungen und Rituale aus den Religionen der Welt bis hin zu den Gottesdiensten unserer Kirchen.


Woran sich also orientieren? – „Woran glauben ?“
Dass die 29. Duisburger Akzente unter diesem Leitmotiv stehen, ist hilfreich.
Hilfreich für diejenigen, die Orientierung suchen – sie können vergleichen, abwägen, was wirklich zu tragen vermag. Hilfreich, für diejenigen, die sich mit unterschiedlichsten Angeboten und Präsentationen der Frage stellen, was sie als Antwort anzubieten haben.
Ich danke dem Evangelischen Kirchenkreis Duisburg, dass er mit der Reihe „Dialekte des Glaubens“  Grundlagen und Angebote protestantischer Orientierung im öffentlichen Dialog positioniert. Insbesondere auch deshalb, weil die Erwartung an die christlichen Kirchen bei diesem Kulturfestival gering zu sein scheint.
Im Grußwort wird jedenfalls ihre abnehmende Bedeutung in der Gesellschaft konstatiert und allenfalls wird von einer wachsenden Religiosität gesprochen. Dass dabei der Papst zu den Heils- und Hoffnungserwartungen gehört, die auf das Goldene Kalb des Werbeplakats für die 29. Duisburger Akzente produziert sind, hat wohl eher etwas mit dem medienwirksam geförderten Interesse an seiner Person zu tun, als an der von ihm vertretenen Theologie.



Wenn der Blick in die Zukunft des Protestantismus nicht „offenbarungsgleichen, visionären“ Charakter bekommen soll, bedarf es der Vergewisserung über seine Fundamente und die aktuellen Herausforderungen.
Daher zunächst:


(Teil 1)


Der Blick zurück: Was hat den Protestantismus geprägt?


Neben der Opposition gegen einige Lehraussagen der römisch-katholischen Kirche und ihre Selbstdarstellung standen die Reformatoren an der Schwelle des 16. Jh. unter dem Einfluss des Humanismus und der Renaissance. Die Lösung von der kirchlichen Gebundenheit des mittelalterlichen Denkens begann. Denken und Forschen überschritt vorgegebene Grenzen. Der Mensch nahm sich deutlicher als individuelle Persönlichkeit wahr. Dennoch ging der Glaube daran nicht verloren, dass sich der freier denkende und handelnde Mensch letztlich vor Gott zu verantworten hat. Die prinzipielle Fehlbarkeit des menschlichen Denkens und Handelns, in kirchlich-biblischem Sprachgebrauch „die Neigung zur Sünde“, wurde dabei zum drängenden Problem. Die Suche nach Hilfe, Vermittlung, nach vor Gottes Angesicht gerecht machenden Taten, fasste Martin Luther in der einen Frage zusammen: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
Vor allem gründend auf dem Studium des Neuen Testaments ergaben sich dabei – ungeachtet je besonderer konfessioneller Ausprägungen – folgende reformatorische Erkenntnisse, die bis heute den Protestantismus bestimmen:


Die Botschaft von der Rechtfertigung
Jede und jeder darf sich der grundlosen, rechtfertigenden Gnade Gottes gewiss sein. Und das in der je direkten, persönlichen Beziehung zu Gott – nicht vermittelbar durch Institutionen oder Werke, sondern vielmehr: allein durch Christus, allein durch Gnade, allein durch die Schrift, allein durch Glauben.
Das bedeutet, unser Scheitern und unsere Schuld haben nicht das letzte Wort. Einfach gesagt: Gott hat uns lieb – egal, woher wir kommen und was wir gelten. Eine Erkenntnis, die bis heute trägt und besonders wichtig ist zu vermitteln in einer Welt, in der offenbar alles darauf ankommt, was man tut, was man macht, wie viel man besitzt.


Die Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen
Aus der Erkenntnis der je direkten, persönlichen Beziehung zu Gott erwächst Freiheit. Die Freiheit des Glaubens, die Freiheit des Denkens, die Freiheit des Handelns – verantwortet alleine vor dem Grund des Glaubens und dem eigenen Gewissen.
Das heißt, wir unterliegen keinen klerikalen Zwängen, keiner religiösen Bevormundung. Aber die Freiheit ist nicht total. Sie hat eine Bindung. Begründet im Glauben bedeutet, sich des Lebens in Beziehungen, in der Liebe bewusst zu werden – zu Gott und zu den Menschen.


Die Botschaft von der Selbstachtung und Würde des Menschen
Aus der direkten Beziehung zu Gott und der individuellen Gewissensfreiheit lässt sich die Bedeutung des Individuums, die Würde jedes einzelnen unabhängig von der Leistungsfähigkeit und gesellschaftlicher Stellung ableiten. Dieses immer wieder nicht nur in Glaubensfragen in Erinnerung zu bringen, sondern vor allem in den gesellschaftlichen Diskussionen gehört zu den protestantischen Traditionen.



 (protestantisches Kirchenverständnis)
Diese reformatorischen Grundaussagen haben zu einem dynamisch-funktionalen Kirchenverständnis im Protestantismus geführt. Kirche sieht sich nicht mehr als „heilsbringende Institution“, sondern fördert durch ihre Strukturen das Gotteslob des mündigen Christen und achtet auf die bibelgemäße Fundierung von Predigt und Verkündigung. Protestantische Kirche in diesem Sinne versteht sich als Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern in Christus. Ihre Amtsträger sind der Gemeinde rechenschaftspflichtig und das Zusammenwirken der theologisch Ausgebildeten und in den Dienst Berufenen mit theologischen Laien in der Gemeindeleitung ist konstitutiv.


 (Bekenntnisschriften)
Traditionsbildend und bis heute von Bedeutung sind für den Protestantismus die verschriftlichten Bekenntnisse und Lehrstücke geworden, die das reformatorische Glaubens- und Kirchenverständnis formulieren. Obwohl an ihre besondere geschichtliche Situation gebunden, haben sie ordnende und legitimierende Funktion. In veränderten Lebensvollzügen bedürfen sie der erklärenden Auslegung. Auch wird die Kirche durch diese Bekenntnisschriften nicht gehindert, sondern eher im Gegenteil dazu herausgefordert, neue verbindliche Bekenntnisse zu formulieren, wenn neue biblische Erkenntnisse oder geschichtliche Situationen dazu nötigen.
Aus der Zeit der Reformation sind Luthers Katechismus (von 1529), der Heidelberger Katechismus (von 1563) von besonderer Bedeutung sowie das sogenannte „Augsburger Bekenntnis“. Das Augsburger Bekenntnis, formuliert für den 1530 von Kaiser Karl dem V. nach Augsburg einberufenen Reichstag, ist zu einer der wichtigsten Bekenntnisschriften der lutherischen Kirchen geworden, obwohl es ursprünglich mit dem Ziel verfasst war, die Kirchenspaltung aufzuheben.
Ein den gegenwärtigen Protestantismus stark prägendes Lehrzeugnis ist die „Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen“ von 1934. Die stellt den Versuch dar, angesichts staatlicher und kirchlicher Bedrohung verbindliche Aussagen über Wesen und Auftrag der Kirche festzuschreiben. Die Herrschaft des Staates über die Kirche und ihre nationalsozialistisch-ideologische Unterwanderung werden entschieden zurückgewiesen.



 (zwei Hauptströmungen im Protestantismus)
Auf der Basis dieser Bekenntnisschriften und der grundlegenden reformatorischen Erkenntnisse, nämlich der unmittelbaren Beziehung zu Gott, der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der Bedeutung der Person, haben sich zwei Strömungen im Protestantismus entwickelt, die bis heute wichtige Elemente bei der Identitätsbildung unserer Kirche sind:


Ein tiefer, individualisierter verinnerlichter Glaube, der sich der Fürsorge für den Nächsten nicht verschließt einerseits, und das aufgeklärte diskursive Denken andererseits, das den Glauben verstehen will und das mit Kriterien der Schriftsauslegung und ihren Gegenwartsbezug stets aufs Neue ringt.
Beide Richtungen haben ihre Bedeutung, aber nicht in Ausschließlichkeit, sondern als sich ergänzende Facetten:


Tiefer persönlicher Glaube prägt unsere Gestaltung von evangelischer Spiritualität, Seelsorge und Fürsorge; der kritische, an der Bibel orientierte Diskurs fördert die Zuwendung zur Welt, die Toleranz, die Partizipation sowie die profilierte Gesellschaftsdiakonie des Protestantismus.


 (geistlich-geistige Auseinandersetzungen)
Prägend für den Protestantismus waren darüber hinaus die geistlichen Auseinandersetzungen mit den geistigen Strömungen der Zeit. So ist die These nicht von der Hand zu weisen, dass die Reformation die fortschreitende Säkularisierung in den folgenden Jahrhunderten vorbereitet hat. Wer Gewissensfreiheit und die Freiheit von kirchlicher Bevormundung propagiert, muss damit rechnen, dass dieses auch von den mündigen, selbstbewussten Menschen genutzt wird – bis hin zu der Freiheit, religiös und atheistisch zu leben.
Bis heute fruchtbar ist die Auseinandersetzung der Theologie mit Denken und Philosophie der Aufklärung. Aufklärung im Sinne Kants als „Befreiung von selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu begreifen, konnte als Attacke gegen Glaube und Kirche gedeutet werden, als Ruf nach einer prinzipiellen Religionslosigkeit.
Die Grundanliegen der Aufklärung aber, die individuelle Mündigkeit, die vernünftige Urteilskraft und eine umfassende Bildung zu fördern, trifft auch für das protestantische Glaubensverständnis zu. Denn Mündigkeit setzt klare Urteilskraft und verständige Auskunft über den eigenen Glauben voraus. Insofern trägt der Protestantismus eine eigene Form der Glaubenskritik in sich. Diese Kritik bezieht sich nicht nur auf die biblischen Texte, auf die Einsicht in das geschichtliche Gewordensein der eigenen Gestalt und in die Vorläufigkeit aller menschlichen Wahrheit. Gute Theologie stellt immer auch Urteilsvermögen und kreative Sprachformen zur Verfügung, um andere kulturelle Phänomene in den Blick zu nehmen.


Diese Fähigkeit zur Selbstkritik und zur Selbstaufklärung hat den Protestantismus durch etliche geistliche und geistige Traditionsabbrüche geleitet und sie hat den Protestantismus durch die Phase der postmodernen Ideologienvielfalt geführt, die in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon als das „Ende aller Religionsgemeinschaften“ (P. L. Berger) apostrophiert wurde.


(Teil 2)
Gegenwartsbeschreibung: Aktuelle Herausforderungen


(Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge)
Aktuelle Herausforderungen wahrnehmen, bedeutet zunächst, eine sorgfältige Analyse der eigenen Situation vorzunehmen. Die Evangelische Kirche in Deutschland untersucht in regelmäßigen größeren Abständen die Einstellung ihrer Mitglieder zu ihrer Kirche. Die vorletzte Untersuchung in den 90er Jahren wurde unter dem bezeichnenden Titel „Fremde Heimat Kirche“ herausgegeben. Kirche war ihren aktiven und nominellen Mitgliedern im Lebensvollzug fremd geworden. Sie war aber dennoch als eine „Heimat“ im Bewusstsein, in die man in krisenhaften Situationen oder an den Schaltstellen des Lebens zurückkehren konnte.
Diese Feststellung gilt nach wie vor. Die jüngste, gerade veröffentlichte Studie beachtet daher stärker den Alltag der Menschen, ihre Grundeinstellungen und Erwartungen. Ihr richtungweisender Titel lautet: „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“. In der Studie werden differenziert Lebensstile und Weltsichten der Befragten analysiert. Daraus erwächst an die evangelischen Kirchen die Mahnung, sich mit ihren Angeboten nicht auf eine „Milieu-Verengung“ einzustellen. Gerade die Vielfalt der Lebensbezüge bedarf der Aufmerksamkeit der in der Kirche und in ihrem Auftrag Tätigen.


Zwei Aspekte aus der umfangreichen Studie will ich  besonders in den Blick nehmen:


Zunächst die stärkere Beachtung der Konfessionslosen mit kirchlichem Hintergrund.
Drei Viertel der Konfessionslosen im Westen waren früher Mitglied der evangelischen Kirche, nur ein Viertel bezeichnet sich als „schon immer konfessionslos“. Bei über 80 Prozent von ihnen vollzog sich der Austritt in den letzten 25 Jahren, ist also noch nicht biographisch sedimentiert und sozial vererbt. Der Kirchenaustritt wird primär kirchen- und nicht religionskritisch begründet: „weil ich auch ohne die Kirche christlich sein kann“ – so heißt es dann. Im Blick auf die missionarischen Herausforderungen und Chancen der evangelischen Kirche sind diese und die noch weiter entfalteten Differenzierungen von großer Bedeutung.
Geht man davon aus, dass über 5 Millionen Menschen in Deutschland leben, die aus der Evangelischen Kirche ausgetreten sind, so besitzt die evangelische Kirche schon allein an dieser Gruppe ein immenses Wachstumspotential. 5 Millionen Menschen, die getauft sind, oft konfirmiert wurden, kirchlich geheiratet haben und so einen lebensgeschichtlichen Bezug zur evangelischen Kirche haben. Meines Erachtens befinden wir uns gegenwärtig in einer Art „Schlüssel-Zeit“, in der sich entscheidet, ob sich die Kirchenaustritte zu dauerhafter Konfessionslosigkeit verfestigen und an die nächste Generation weitergegeben werden – oder ob es gelingt, Menschen neu einen Weg zu ihrer eigenen Kirche zu eröffnen.


Der zweite Aspekt:
Immer wieder wird betont, dass sich die Kirche auf ihr „Kerngeschäft“ besinnen solle – auf die Verkündigung, insbesondere in den Gottesdiensten und durch die Amtshandlungen.
Diese im kirchlichen Sprachgebrauch sogenannten „Kasualien“ sind von nicht zu unterschätzender missionarischer Bedeutung. Auch und gerade diejenigen, die sich nur von Fall zu Fall am kirchlichen Leben beteiligen, erwarten bei einer Taufe, Hochzeit, Konfirmation oder der Beerdigung eines Angehörigen Lebensbegleitung aus dem Glauben heraus, erwarten Gebet und Segen, biblische Texte und Verkündigung. Ich glaube nicht, dass Menschen bei diesen Anlässen nur die Wiederholung des ihnen schon Bekannten wollen. Sie sind durchaus offen dafür, dass ihnen in der Kirche etwas heilsam Fremdes begegnet, das sie gerade so befreiend und ermutigend erreicht. Was dabei für Pfarrerinnen und Pfarrer das Alltägliche und Normale ist, ist für die jeweils Betroffenen das Einmalige und Besondere – und sollte deshalb auch mit besonderer Aufmerksamkeit gestaltet werden.
Wolfgang Huber, der Ratsvorsitzende der EKD, hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass dabei  neben der theologisch-handwerklichen Sorgfalt mindestens ebenso der Geist bzw. die Haltung wichtig ist, aus denen heraus das Evangelium kommuniziert wird. Er fragt weiter: „Stimmt der Geist unserer Aktion? Wollen wir Gott feiern oder Mitglieder jagen? Merkt man die Absicht und ist verstimmt oder spürt man den einladenden Geist der Freiheit und der Zuwendung und wird so gestimmt, dass man in Freiheit mit einstimmen kann?“


Bei jedem dieser „Gottesdienste bei Gelegenheit“ wird übrigens über den Kreis der unmittelbar Betroffenen immer ein weiterer Umkreis von Menschen erreicht, darunter immer auch solche, die nicht (mehr) zur Kirche gehören. Und für viele, die (wieder) in die Kirche eintreten, ist nach eigener Aussage eine „gelungene Kasualie“ der letzte Anstoß gewesen: So geben 41% aller Neu-Eingetretenen und 24% aller Wieder-Eingetretenen an, dass sie „eine Amtshandlung angesprochen hat“.
Es gilt auch zu bedenken: Gelegenheiten machen Gottesdienste. Deshalb kann es lohnend sein, auch neue und ungewohnte Anlässe für besondere Gottesdienste zu nutzen. So machen Kirchengemeinden gute Erfahrungen etwa mit einem Gottesdienst zum Valentinstag für Verliebte allen Alters oder einem Gottesdienst zum Ferienbeginn mit einem Reisesegen für alle Aufbrechenden – am besten unter freiem Himmel, so dass auch viele „treue Kirchenferne“ und Nichtchristen gern dazukommen, auch wenn sie bei diesem ersten Versuch nicht gleich eine Kirchenschwelle überschreiten müssen. Eine selbstbewusste Kirche geht mit ihrer Freiheitsbotschaft auf die Marktplätze dieser Welt und an die „Hecken und Zäune“, weil sie die Freiheit der Kinder Gottes allen Menschen gönnt – im Namen Gottes, „der will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1 Tim 2, 4).



Zur Gegenwartsanalyse gehört auch, auf die Herausforderungen durch den Rückgang finanzieller und personeller Ressourcen in unseren Kirchen – protestantische wie katholische – zu blicken. Ich will das aber nur kurz erwähnen. Jede Kirche muss damit sehr differenziert und verantwortungsvoll umgehen.
Der in diesem Zusammenhang öfters zu hörende Begriff vom „Gesundschrumpfen“ ist allerdings nach meiner Meinung unangemessen. Die Ausweitung kirchlicher Angebote in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts mit einer Vielzahl von Spezialistinnen und Spezialisten in den jeweiligen Tätigkeitsbereichen ist nicht als „Krankheit“ zu sehen. Es war zu der gegebenen Zeit im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten eine Chance, auf Erwartungen und Erfordernisse der Zeit zu reagieren.
Die Möglichkeiten werden in Zukunft begrenzter sein. Die demografische Entwicklung – und damit zusammenhängend die Zahl der zur Kirche Zählenden und für sie zahlenden – wird Einschränkungen fordern. Nicht mehr allen wird überall alles geboten werden können. Dabei ist sorgsam abzuwägen, durch welche strukturellen Konzentrationen und welche begründeten Prioritätensetzungen ein möglichst breites kirchliches Angebot zur Wahrung des Protestantischen Profils erhalten werden kann.



Noch ein Letztes in diesem Zusammenhang der Gegenwartsbeschreibung:
Protestantische Positionen sind und bleiben auch im öffentlichen Diskurs gefragt; nicht im Sinne alleiniger autoritativer Normsetzung, aber beratend für eine grundsätzliche Orientierung.
Die jüngste Diskussion um werteorientierte Erziehung belegt dies. Ich halte es für völlig überzogen und unangemessen, zur Konsultation der Familienministerin mit den beiden großen deutschen Kirchen anzudeuten, als werde die „Liaison von Thron und Altar“ wiederbelebt – so wie es der SPIEGEL getan hat oder gar von der Installation der „Polizei Gottes“ zu schreiben, wie es in einer Schlagzeile der „taz“ geschehen ist.
Wir Christen brauchen uns nicht zu verstecken, wenn es darum geht, daran zu erinnern, dass die ethische Grundlegung unserer Gesellschaft christlich fundiert ist und dass das Gute daran zu bewahren ist. Wohl wissend, dass falsches Handeln, verbrecherische Taten auch durch vermeintlich christliche Grundüberzeugungen legitimiert wurden oder das Schuld durch schweigende Zustimmung und Unterlassung des Widerspruchs entstanden ist.
Dabei gehört es zum protestantischen Verständnis, dass Werte nicht produziert werden können. Vielmehr geht es darum, gründend auf biblischen Traditionen Orientierung zu geben, Lebenshaltungen zu prägen: Ehrfurcht vor Gott und der Schöpfung zu haben, sich für partizipatorische Gerechtigkeit einzusetzen, die friedlichen Koexistenz der Menschen untereinander fördern und Freiheit verantwortlich in der Gesellschaft zu leben.
(Teil 3)


Ausblick: Protestantismus hat Zukunft


Vor diesem Hintergrund blicke ich nun nach vorn, in die Zukunft des Protestantismus.
Nicht im Sinne einer Vision oder eines utopischen Entwurfes. Solche Entwürfe haben durchaus ihre Berechtigung, weil sie das, was man hoffen darf oder was grundsätzlich denkbar ist, im Positiven oder im Negativen mit der erfahrbarer Realität vergleichen – so etwa bei den großen gemeinwohlorientierten Staatsentwürfen des Humanismus und der Aufklärung oder den bekannten theologischen Visionen der Propheten vom „neuen Himmel und der neuen Erde“, in der Friede als Frucht der Gerechtigkeit zu erfahren ist und wo das Kleinkind gefahrlos neben dem Raubtier spielen kann.
Ich versuche eher wünschenswerte Entwicklungen des Protestantismus vorzustellen, zu Profil und Inhalten und zu den Erwartungen an die Evangelische Kirche;
dieses für einen Zeitraum von etwa 20 – 30 Jahren. Auch das hat manche Unwägbarkeiten; es ist aber ein Zeitraum, den diejenigen, denen die profilierte Entwicklung des Protestantismus bereits heute am Herzen liegt, aktiv mitgestalten können.


Dieser Teil ist überschrieben: „Protestantismus hat Zukunft“.
Das ist kein professioneller Zwangsoptimismus. Ich werde vielmehr in sechs Haupt-sätzen mit einigen Erläuterungen begründen, warum Protestantismus Zukunft hat.


 


Der 1. Hauptsatz:
Der Protestantismus hat als „creatura verbi“ ein sicheres Fundament.


In der VI. These der Barmer Theologischen Erklärung wurde es insbesondere gegen die Indienstnahme der Kirche für die nationalsozialistische Ideologie formuliert: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.“
Aber: dieser Grundsatz ist und bleibt auch eine stete Ermahnung an die Kirche selber, ihr Selbstverständnis zu überprüfen. Die Theologen der Reformation haben uns Protestanten ins Stammbuch geschrieben: Die Kirche hat keinen Wert in selbst. Sie ist gegründet im Wort, im Beispiel und in den Verheißungen Jesu. Keine eigenmächtig gewählten Wünsche, Zwecke und Pläne leiten sie. Sie darf sich einzig und allein als Schöpfung des Wortes begreifen. Das ist unser Fundament und unsere Orientierung für die Zukunft.
Gottes Wesen und Wille ist von uns Menschen niemals vollständig zu ergründen. Die Lebenserfahrungen und Glaubenszeugnisse, die uns in den beiden Testamenten der Bibel überliefert sind, lassen aber erkennen, wie ein auf Gott hin orientiertes Leben zu gestalten ist: Aus der lebendigen, ehrfürchtigen Beziehung zu Gott ergeben sich das Eintreten für partizipatorische, soziale Gerechtigkeit, das Streben nach friedlichem Zusammenleben der Menschen untereinander und der Auftrag für den einzelnen Menschen, Freiheit gemeinwohlorientiert und verantwortlich zu leben. Vertieft werden diese Einsichten durch das Beispiel Jesu, durch den Gott sich uns weiter genähert und erfahrbar gemacht hat.


Der Bezug auf diese biblische Verkündigung, das Ringen um ihr Verständnis ist das Fundament jeder protestantischen Theologie. Und in diesem reformatorischen Sinne kann sich die Protestantische Kirche auch von der Erwartung lösen, „Heilsbringenden Anstalt“  sein zu sollen. Sie steht im Dienst der Gemeinschaft der Glaubenden, stützend und fördernd. Das bedeutet für die Kirche, sich selbst als veränderbar zu begreifen, offen für neue Entwicklungen.


2. Hauptsatz:
Der Protestantismus ist zur „Freiheit berufen“.


Dieses Bewusstsein, auf das Wort hin bezogen zu sein und vom Worte her Denken und Handeln auszurichten, bringt die Freiheit, sich allen Herausforderungen der Zukunft offensiv und selbstbewusst zu stellen.
„Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“, so fasst Paulus seine Glaubenserfahrung im Galaterbrief zusammen. Doch präzisiert er auch, dass diese Freiheit nicht selbstbeschränkt, individualistisch gelebt werden darf: „Sorgt dafür, dass die Freiheit nicht eurer Selbstsucht die Bahn gibt, sondern dient einander in der Liebe!“
Freiheit in diesem Sinne ist kommunikativ, auf die Lebensbezüge ausgerichtet. Martin Luther hat das in der anscheinend paradoxen Doppelthese so formuliert: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Freiheit grenzt nicht Menschen voneinander ab, sondern ordnet ihr Miteinander. Zunächst ist die Freiheit also die Unabhängigkeit von fremden Verfügungsansprüchen, betont den Selbstwert der Person. Der Erkenntnis aber, dass diese Freiheit nicht durch eigene Leistung erarbeitet wird, sondern Gottes Geschenk ist, führt dazu, Selbstbestimmung und Anerkennung des anderen, Liebe zu sich selbst und Liebe zum Nächsten zusammen zu sehen.


Das, was hier zur personalen Freiheit als Konsequenz der Zuwendung Gottes zum Menschen ausgesagt ist, gilt auch für das Selbstverständnis des Protestantismus:
Das „Für-Wahr-Halten“ der in der Bibel bezeugten Zusagen Gottes befreit zum selbstbewussten und selbstkritischen Glauben, Denken und Handeln; ohne sich anderen Mächten und Gewalten, politischen oder geistigen Strömungen untertänig anbiedern zu müssen, ohne sich in egozentrischer Selbstbezogenheit abzukapseln.
Kommunikativ verstandene Freiheit bindet sich an Verantwortung für andere, die freie Selbstbestimmung tritt an die Seite der Solidarität.


 


3. Hauptsatz:
Der Protestantismus wendet sich dem einzelnen Menschen zu.


Die reformatorische Botschaft von der freien Gnade Gottes ist kein abstrakter, kirchenpolitischer Lehrsatz. Sie ist vor allem für diejenigen von großer Bedeutung, die mit existentiellen Fragen ringen. Das „simul justus et peccator“, also nach theologischen und weltlichen Maßstäben fehlbar und sündig, aber dennoch angenommen und ohne Rechtfertigungszwang, nimmt den Menschen in seiner gebrochenen Existenz ernst.  Das ist zukunftsweisend in einer Zeit, in der es weniger um Individualität als um das Funktionieren geht, weniger um das Sein als das Haben.
Obwohl das Schlagwort vom „protestantischen Arbeitsethos“ anscheinend das Gegenteil belegt, ist Glauben im reformatorischen Verständnis an keinen Leistungsnachweis gebunden. Glauben allein genügt für die andauernde Beziehung zu Gott. Die sogenannten „guten Werke“, Orientierung an den biblischen Geboten und die Hinwendung zum Nächsten, sind als freiwillige Antwort, nicht als Voraussetzung zu verstehen.
Aus der Erkenntnis der engen Beziehung des Einzelnen zu Gott erwächst für die Kirche die Verpflichtung, auch mit ihren Angeboten den Einzelnen anzusprechen und ernst zu nehmen: in der gottesdienstlichen Feier, in Seelsorge und Diakonie, in Betreuung, Beratung und Bildung.
Gerade unsere kirchliche Bildungsarbeit in ihren vielfältigen Formen betont diese protestantischen Grundanliegen: jede und jeder darf sich als individuelles Geschöpf Gottes begreifen, fähig zu selbstbewusstem und selbständigem qualifizierten Urteilen und Handeln. Ziel ist die Mündigkeit  im Sinne eines begründeten „Ja“ oder „Nein“ sagen Könnens, Eigenständigkeit gegen den Druck der Masse.



4. Hauptsatz:
Der Protestantismus dient der Gesellschaft.


Der institutionenkritische Grundzug, der protestantische  Identität seit der Reformation auch kennzeichnet, muss in der Kirche selbst ernst genommen werden, ist aber im Gegenüber zu den staatlichen Institutionen nicht zu vergessen. Der Protestantismus versteht sich nicht als selbstgenügsame Institution, die allenfalls einer individualistischen Glaubensvermittlung dient. Insbesondere das Verständnis der kommunikativen Freiheit führt zu einer diskursiven Zuwendung zur Welt, zur aktiven Mitgestaltung. Gerade in diesem Sinne wird sich auch der Protestantismus der Zukunft „volkskirchlich“ weiter entwickeln und sich nicht – trotz sinkender Mitgliederzahlen in den Kirchen – in eine Nische zurückziehen.
Wir stehen hier vor der Frage, wie sich der Glaube im alltäglichen Handeln bewährt.
Beispiele dafür hat der Ökumenische Rat der Kirchen mit seiner letzten Vollversammlung, die im Februar dieses Jahres in Brasilien stattfand, gegeben. Die Versammlung stand unter dem Leitmotiv „Gott, in deiner Gnade, verwandle die Welt!“
Bitten um die Gnade Gottes?  – Viele, die den ÖRK durch seine engagierten weltweiten Programme und Aktionen kennen, waren verwundert.  Lautet die Richtung  jetzt: Rückzug aus der Welt, Verinnerlichung? – Beten, die Hände in den Schoß legen und abwarten, wie die Welt sich entwickelt ?
In den Gottesdiensten, den Plenar- und Arbeitssitzungen und im Rahmenprogramm der Vollversammlung wurde deutlich, dass dieses keine Alternative ist. Der Einsatz in der Welt und für die Welt, Jesu Beispielen der Nächstenliebe folgend, bleibt wichtig und wird nicht aufgegeben.  Doch dieses menschenmögliche Handeln ist begrenzt, es bleibt Stückwerk. Die Besinnung auf die Grundlage des Glaubens gehört dazu; die Erkenntnis, dass wir nur aus Gottes Gnade heraus leben, dass sie unser Denken und Tun leiten muss.


 


Der Protestantismus wird auch in Zukunft seine Aufgabe im Hören auf das Wort,
in der Auslegung des Wortes im Tun des Wortes haben. Und in dem Zusammenhang begreift er sich als kritischer Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklungen und als Mahner, wenn hohle goldene Kälber als vermeintliche Orientierungspunkte voran in die Wüste getragen werden:
Als ein solches goldenes Kalb als Projektion aller Zukunftshoffnungen sehe ich die vom Gemeinwohl abgelöste Ökonomie.
Sie hat pseudowissenschaftliche, religionsartige Glaubenssätze geprägt, die kaum befragt werden dürfen. Wie etwa „Die Gesetze des Marktes regeln unsere wirtschaftlichen Probleme, wenn sie sich frei entfalten können“ oder „Senkung der Lohnnebenkosten für eine höhere Rendite der Unternehmen fördern das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand der Gesellschaft“. In den letzten Jahren ist die Einlösung dieser Versprechen ausgeblieben. Vielmehr hat sich die Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme, in Gestaltende und Abhängige dramatisch verschärft. Dieses darf nicht durch schleichende Gewöhnungsprozesse hingenommen werden, sondern ist öffentlich zu diskutieren.


Die protestantischen Kirchen werden allerdings nicht nur mahnend der Gesellschaft dienen. Vielmehr wird sie sich auch in konkreter Fürsorge für die Schwachen einsetzen. Diakonische Arbeit wird Kennzeichen eines Protestantismus bleiben, der sich der Welt zuwendet, weil Hören und Tun des Wortes zusammen gehören.



5. Hauptsatz:
Der Protestantismus ist eingebunden in die ökumenischen Gemeinschaft.


„In Zukunft wird man uns nicht fragen, ob wir evangelisch oder katholisch sind, sondern ob wir Christen sind und woran man das erkennt.“ Das hat einer meiner Amtsvorgänger, Peter Beier, mit Blick auf die Zukunft der Kirche gesagt. Was hier für das Verhältnis der evangelischen zur römisch-katholischen Kirche festgestellt ist, gilt auch für das Verhältnis der protestantischen Kirchen untereinander. Nicht das Trennende und die Unterschiede sind zunächst zu betonen, sondern das gemeinsame Verständnis von der Auslegung der biblischen Botschaft und des Gotteslobs.


Unterschiede wird es freilich weiterhin geben. Die Vorstellung von einer Ökumene der Kirchen ist nicht die einheitliche, im wesentlichen gleich strukturierte Kirche.
Ökumene besteht vielmehr darin, dass wir auch den geistlichen Reichtum der unterschiedlichen Kirchen in ihrer Vielfalt klarer erkennen und darin miteinander das Zeugnis Christi für die Welt sind. Bereits die Schriften im Kanon des Neuen Testaments begründen nicht die Einheitlichkeit der Kirche. Sie sind vielmehr der Grund für verschiedene, geschichtliche Erscheinungsformen christlicher Spiritualität.
Geschwisterlichkeit, „versöhnte Verschiedenheit“ sind die Orientierungspunkte auf dem Weg in die ökumenische Zukunft.
Dieses ist allerdings keine Legitimation dafür, dass sich der kirchlich verfasste Protestantismus in Deutschland auch weiterhin als zersplitterte Gremienkirche darstellt.
Vielfältige und häufig einander widersprechende öffentliche Stellungnahmen verwirren die Menschen und sorgen zu Recht für Irritation und Ärger. Wir verschleißen viele Kräfte, weil sich häufig dieselben Menschen in vielen Leitungsgremien der einzelnen Kirchen und ihrer Bünde immer wieder treffen.
Es stimmt hoffnungsfroh, dass in diesem Bereich ein Verständigungs- und Konzentrationsprozesse in Gang gekommen sind. Nicht nur auf den äußeren Druck hin, künftig mit weniger Kirchensteuermitteln auskommen zu müssen, sondern vor allem auch auf der Grundlage der gemeinsamen theologischen Überzeugungen.


Wir sollten auch nicht außer Acht lassen, dass im Verhältnis zwischen den Nationalstaaten und der Europäischen Gemeinschaft immer weitergehende Verlagerungen von Kompetenzen aus den einzelnen Ländern in die Europäische Gemeinschaft hinein stattfinden. Das hat auch erhebliche Auswirkungen für das Leben der Kirchen. Aus diesem Grunde ist es notwendig, dass auch der Protestantismus in Europa ein Ohr und eine Stimme erhält. Ergänzend zur Konferenz Europäischer Kirchen, dem  Zusammenschluss protestantischer Kirchen, der Anglikaner und der orthodoxen Kirchen, halte ich die Überlegungen für sinnvoll, auch eine Europäische Protestantische Synode einzuberufen. Sie könnte die zeitgemäße theologische Basis formulieren, von der aus Verständigung mit der römisch-katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen zu Fragen des Kirchen-, des Amts- und des Ordinationsverständnisses gesucht werden soll. Und sie würde die Zusammenarbeit mit den anderen Kirchen der weltweiten Ökumene fördern.



6. Hauptsatz:
Der Protestantismus ist als „ecclesia semper reformanda“ in lebendiger Entwicklung.


Ein letzter Hauptsatz soll mit Blick auf die Zukunft des Protestantismus zitiert werden: „ecclesia est semper reformanda“. Dieses ist kein vorausschauender Appell der Reformatoren, dass sich Kirche stets dem jeweils herrschenden modernen Zeitgeist anzupassen habe. Eher eine gegenteilige Warnung: Weder das traditionell Gegebene, noch die äußeren Rahmenbedingungen sind unveränderlich, haben absolute Geltung. Vielmehr ist immer wieder zu überprüfen, ob die theologischen Grundaussagen, Leitungs- und Organisationsstrukturen in der Kirche oder die Vermittlungsweise der zu verkündigenden Botschaft vor dem aktuellen Stand des Wissens und dem Maßstab des Gewissens Bestand haben.


 


Diese stete selbstkritische Reflexion ist vor allem eine missionarische Herausforderung:
Wir leben in einer Zeit, in der das Wissen um Religion und Glauben stark abgenommen hat. Wir sprechen von Traditionsabbrüchen. Seit der Wiedervereinigung wissen wir genauer, dass es in den östlichen Gliedkirchen unseres Landes häufig so ist, dass ganze Generationen noch nie etwas von Religion und Glaube gehört haben. Von Ablehnung des Glaubens kann man also gar nicht sprechen, da die Menschen überhaupt keine Kenntnisse darüber haben, was sie ablehnen oder annehmen könnten. Deshalb sind wir in besonderer Weise herausgefordert, den Menschen das Evangelium, die gute Botschaft von der Liebe Gottes in Jesus Christus nahe zu bringen. Um mit dieser Herausforderung zurecht zu kommen, sind einige besondere Anstrengungen erforderlich.


Vier Anstrengungen möchte ich dabei nennen:
Zum ersten geht es darum, die Einstellung von Christinnen und Christen und Pfarrerinnen und Pfarrern zu verändern. Alle Christinnen und Christen sind heute neu herausgefordert, in allen Lebensbereichen von ihrem Glauben zu sprechen. Dabei sind die familiären und persönlichen Zusammenhänge des Lebens gemeint, aber auch die beruflichen. Dieser Herausforderung werden wir nur gewachsen sein, wenn wir in allen Gemeinden neu so etwas wie Sprachschulen des Glaubens einrichten. Wir alle müssen neu miteinander lernen, von unserem Glauben so selbstverständlich und nachvollziehbar zu sprechen, dass für unsere Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner unmittelbar seine Relevanz für ihr Leben und ihren Alltag deutlich wird.
Aber auch die Amtsträgerinnen und die Amtsträger unserer Kirche sind angesprochen. Zwar begegnet man nur noch selten einer sogenannten „Kommstruktur“, also der Einstellung: Ich bin in der Kirche, im Gemeindesaal, im Unterrichtsraum oder in meinem Büro – und die Leute sollen zu mir kommen!
Im Normalfall bemühen sich unsere Pfarrerinnen und Pfarrer sehr darum, auf Menschen zuzugehen, sie an den Orten und in den Zusammenhängen ihres alltäglichen Lebens aufzusuchen. Auch hier besteht die Herausforderung darin, nicht abstrakt theologisch zu sprechen, sondern so, dass die Alltagstauglichkeit des Glaubens unmittelbar einleuchtet. Menschen sollen ohne große Umwege begreifen können, weshalb unser Glaube für ihr Leben heilsam und notwendig ist.


Damit komme ich zur zweiten Anstrengung: Es geht um unsere Sprachfähigkeit.
Unsere großartige biblische Tradition, der reiche Schatz aus der Geschichte unserer Kirche verbindet sich mit der Aufgabe, beides nicht nur zu rezipieren und zu verstehen, sondern auch immer wieder neu für uns und unsere Zeit zu formulieren. Die Reichhaltigkeit, Komplexität und manchmal auch die Kompliziertheit unserer Tradition führt dazu, dass es schon große Mühe bereitet, das alles richtig zu verstehen und zu begreifen. Die Frage des Transfers in unsere Zeit erfordert besondere Mühen.


Das führt zur dritten Anstrengung: Glaubenspraxis im Lebensvollzug, im Alltag.
Die Zwiesprache mit Gott hat ihren Ort nicht nur im Gottesdienst. Die bekannten Formen der Frömmigkeit haben ihre Bedeutung für heute nicht verloren: ein Bibelwort lesen, ein Lied zum Lobe Gottes bei einer Familienfeier, das Gebet bei Tisch oder am Abend, ein Segensgruß bei der Verabschiedung.
Diese kleinen Rituale geben nicht nur dem Tag Gestalt; sie sind grundlegend, wenn wir dem viel beklagten Traditionsabbruch entgegenwirken wollen. Nur so bleibt Kindern und Eltern das Verständnis davon erhalten, was es heißt, sich als Gegenüber des lebendigen Gottes zu begreifen.


Und die vierte  Herausforderung besteht darin, mit den Medien in zeitgemäßer Weise umzugehen. Denn unsere Gesellschaft entwickelt sich immer mehr zu einer Mediengesellschaft. Ich bin zwar davon überzeugt, dass die Begegnung von Angesicht zu Angesicht nach wie vor die Entscheidende ist, gerade im missionarischen Zusammenhang. Andererseits erreichen wir aber über Rundfunk, Fernsehen, die Printmedien oder mit einem gelungenen Internetauftritt so viele Menschen, dass hierin eine besondere Herausforderung und Chance liegt.
Auf alle Weise und in jeder Form Menschen zu erreichen und ihnen die gute Botschaft des Evangeliums weiterzusagen, ist das Ziel all diesen Bemühens, sich als Protestanten in reformatorischer lebendiger Entwicklung zu verstehen.



Fazit


Warum ist die Vergewisserung über diese sechs Hauptsätze zukunftweisend für den Protestantismus?
An dieser Grundlage werden sich alle anstehenden Veränderungen messen lassen müssen – aber sie bieten auch das Potential für die Weiterentwicklung.
Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen:


Der Protestantismus der Zukunft wird bewahrend sein.
Die Orientierung am Wort der Bibel als unverrückbarem Fundament führt zur bleibenden Wertschätzung der Lebenserfahrungen und Erkenntnisse der Frauen und Männer, die über Jahrhunderte einem besseren Verständnis der biblischen Aussagen nachgespürt und die unsere bis heute gültigen Bekenntnisse formuliert haben.
Die geistlichen Sammlung durch Schriftlesung, Gebet und Feier des Gottesdienstes, in dem in der Gemeinschaft Fehlverhalten und Sünde bekannt, befreiender Zuspruch Gottes erfahren und Stärkung für die Zuwendung zur Welt erlangt werden kann, erhält uns in lebensbejahender Frömmigkeit.
Die Zukunft in diesem Sinne bewahrend und fromm anzugehen, bedeutet für den Protestantismus auch, die biblischen Geschichten immer wieder neu zu erzählen, Psalmen und apostolische Briefe in Erinnerung zu rufen. Es bedeutet, Traditionen lebendig zu erhalten, die in Liturgie, Fest und Feier den Glaubenden Orientierung im Jahres- wie im Lebenszyklus geben.
Und dieses sowohl im öffentlichen als auch persönlich-familiären Bereich. Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit ersetzt nicht, in überzeugender Weise auch öffentlich ein Gebet zu sprechen oder kirchliches Leben in öffentlicher Liturgie zu organisieren.  Spirituelle Erfahrungen haben ihren Ort nicht nur in der Gemeinschaft des Gottesdienstes. Gebet, Fürbitte, Segenshandlungen in täglichen oder in bestimmten, krisenhaften Situationen unseres privaten Lebens erlebt, sind Formen spirituellen Lebens, die allein durch ihre Ausübung sprechen und eine missionarische Dynamik in sich tragen.


 


Der Protestantismus der Zukunft wird lebensorientiert sein.
Der Protestantismus ist aus einer Krise hervorgegangen. Das Bewusstsein, in der Krise zu stehen, ist ihm immanent. Krise nicht als das letzte Aufbäumen vor dem Zusammenbruch, sondern vielmehr im Sinne des griechischen Ursprungs krisis: Entscheidung. In schwieriger Situation kritisch prüfen zu müssen, Position zu beziehen, Entscheidungen zu treffen, kann lähmend wirken. Wer aber vorwärts-, fortschreiten will, erkennt darin den dynamischen Impuls für den nächsten Schritt.
Neben dem, was es aus gutem Grund an Traditionen zu bewahren gilt, tritt das neu zu Entwickelnde. Nicht als Konzession an den jeweilig herrschenden Zeitgeist,  sondern aus ernsthaftem, wissenschaftlich fundiertem Theologie-Treiben heraus. Die Fragen „Warum und woran glaubst du?“ sind stets neu in Erinnerung zu rufen. Die Antworten müssen sich der kritischen Befragung durch Materialisten und Skeptizisten stellen, sich im Dialog mit aktuellen Erkenntnissen der Naturwissenschaften messen,  im philosophischen und interreligiösem Diskurs bestehen.
Progressive Entwicklung trifft nicht nur auf die Inhalte protestantischer Theologie zu. Auch die Vermittlung wird neue Wege gehen. Dabei denke ich nicht nur an zeitgemäße Sprache sowie die Beachtung und Nutzung der neuen Medien. Auch die Orte
und  Formen der Gemeinschaft, durch die sich evangelische Kirche erfahrbar macht, werden sich ändern. Gemeinsame Feste von Kirchen- und Bürgergemeinde weisen in diese Richtung. Bei aller Progressivität müssen aber Inhalt und Form auf einander abgestimmt bleiben. Spektakuläre Events faszinieren für den Augenblick, der Reiz des Außergewöhnlichen ist jedoch nur von kurzer Dauer.



Der Protestantismus der Zukunft wird ökumenisch sein.
Obwohl kirchenspaltend in seinen Ursprüngen, war die Suche nach der Einheit der Christlichen Kirche, nach dem gemeinsamen Verständnis der Schriftauslegung doch stets ein tragendes Motiv des Protestantismus; zunächst in dem Bestreben, die eigenen unterschiedlichen Strömungen zusammenzuführen, dann aber auch in der engen Zusammenarbeit mit den anderen christlichen Kirchen.
Ein Neben- oder gar Gegeneinander wird in Zukunft in den Hintergrund treten. Es wird dem Miteinander auf dem Weg zum Verständnis und zur lebendigen Praxis der christlichen Botschaft weichen. Die Selbstvergewisserung über die eigene Identität ist dabei die Grundlage für den Prozess der Verständigung.
Die Ökumene weitet unseren Horizont über Deutschland und Zentraleuropa hinaus:
Die Menschen am Rande Europas oder in den anderen Teilen des bewohnten Erdkreises sind nicht nur in der Fürbitte gegenwärtig, sondern werden auch durch tatkräftige Partnerschaft begleitet.



Der Protestantismus der Zukunft wird aktiv in der Mitte der Gesellschaft stehen.
Der als protestantisches Selbstverständnis in der Barmer Theologischen Erklärung formulierte Auftrag der Kirche „an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“ weist die Kirche über sich selbst hinaus.
Die grundsätzliche Orientierung an Jesu Botschaft, für partizipatorische Gerechtigkeit einzutreten, das Streben nach friedlichem Zusammenleben der Menschen untereinander zu fördern und der Auftrag für den einzelnen Menschen, Freiheit verantwortlich zu leben, gilt nicht nur für die Gläubigen. Diese gemeinwohlorientierten Aufgaben werden aber für uns Protestanten christlich begründet. Sie sind für uns auch Maßstab für die Mitgestaltung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Weiterentwicklung dieser Gesellschaft.
Der Tradition des Jesus von Nazareth folgend ist der Gesellschaft auch durch Widerspruch zu dienen. Nicht aufgrund selbstherrlicher Einmischung in die Angelegenheiten dieser Welt, sondern weil das, was wir als Botschaft zu verkünden haben, auf die alltäglichen Herausforderungen zu beziehen ist.



Schlussbemerkungen
Diese Kennzeichnung der Zukunft des Protestantismus als bewahrend, lebensorientiert, ökumenisch und gemeinwohlfördernd ist keine Mixtur nach dem Goethe’schen Motto : „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen – und jeder geht zufrieden aus dem Haus“. Es sind vielmehr die Facetten des einen bewahrten, gelebten und praktizierten Glaubens.



Bewusst habe ich wenig zu anstehenden strukturellen Veränderungen in den protestantischen Kirchen gesagt. Das wird auch wichtig werden, weil die Form immer auch Auswirkungen auf den Inhalt hat. Aber hier sind die einzelnen Kirchen in der Pflicht, die geringer werdenden finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen auf die bleibenden Möglichkeiten und Grenzen hin auszuwerten.


Bedeutsamer war es hier, Elemente des Profils vorzustellen, die im Protestantismus der Zukunft erwartet werden dürfen:
Glauben als je persönliche Grundhaltung – aber nicht ausschließlich: biblische Orientierung und Lebenswirklichkeit gehören zusammen; Kirche ereignet sich in der Vielfalt der Lebensbezüge. 


Der dem Protestantismus zugeschriebene Bedeutungsverlust, ist durch Selbstmarginalisierung dann teilweise selbst verschuldet, wenn er sich in institutionellen Strukturdebatten zu sehr mit sich selbst beschäftigt, wenn er einladend-missionarische Elemente, die über die Kerngemeinde hinausweisen, vernachlässigt, wenn er sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs und aktiver Mitgestaltung des Gemeinwesens zurückzieht.
Dieser Bedeutungsverlust wird nicht anhalten, wenn Profil und Inhalte des Protestantismus vor Ort (im Gemeindeleben) und in der Gesellschaft  (in Politik und Wirtschaft) selbstbewusst vertreten werden.



„Woran glauben?“ – Wo Orientierung suchen, wenn der Zweifel an dem bisher Gültigen wächst und der Verlockungen und Angebote viele sind?
Uns ist Orientierung für die Zukunft gegeben, so wie sie zum Beispiel in der Barmer Theologischen Erklärung formuliert ist: „Die Kirche vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.“
Dieses Vertrauen und dieser Gehorsam hat die Evangelische Kirche durch viele Krisen geführt. Möge das eine Einladung an diejenigen sein, die neu Orientierung suchen. Und mögen die Suchenden auf hörende und dialogoffene Menschen treffen, die bezeugen, dass die Kraft des Wortes auch den Einzelnen in seinem Leben tragen kann.