Pressemitteilung

Manuskript der gemeinsamen Bibelarbeit

Dialogbibelarbeit von Präses Nikolaus Schneider und Joachim Kardinal Meisner beim 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Köln

  • Nr. 119 / 2007
  • 7.6.2007
  • 29722 Zeichen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
nachfolgend stellen wir Ihnen das gemeinsame Manuskript zu Ihrer Verwendung zur Verfügung. Bitte beachten Sie die angegebene Sperrfrist und den Wortlautvorbehalt.
Jens Peter Iven
Pressesprecher
(Vom 6. bis 10. Juni erreichen Sie uns unter den bekannten, unten angegebenen Rufnummern per Anrufweiterschaltung in Köln oder auch persönlich in der Pressestelle, Medienzentrum, CC-Ost, Ebene 1, Raum 39.)
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Bibelarbeit zu Jeremia 23,16-32
1. Gott allein (Kardinal Meisner)
„Gotteswort in Menschenwort“: So definieren wir die Heilige Schrift. Diese Formulierung hebt besonders hervor, dass sie auf göttliche Eingebung zurückgeht, die freilich die jeweiligen schriftstellerischen Eigenarten nicht aufheben. In ganz besonderer Weise trifft dieses auf prophetische Worte zu. Schon der 2. Petrusbrief weist darauf hin, dass „niemals …eine Weissagung ausgesprochen [wurde], weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet“ (1,21). Deutlich wird das spätestens dann, wenn wir in den Prophetenworten immer wieder auf Formeln wie „So spricht der Herr“ oder „Spruch des Herrn“ treffen. Aus Liebe zu uns Menschen ist Gott dieses große Wagnis eingegangen, indem er uns sein ewiges Wort im Menschenwort schenkte, was dann natürlich seinen Höhepunkt gefunden hat, indem das Ewige Wort Gottes, der Sohn, in Jesus Christus Mensch geworden ist.
In unserem Sprachgebrauch hat sich im Hinblick auf den Propheten das Missverständnis eingenistet, er sei so etwas wie ein Wahrsager. Entscheidend aber ist nicht die Vorhersage des Propheten, sondern sein Anspruch, in Gottes Auftrag dessen Wort authentisch zu verkünden. Die Initiative zu dieser Verkündigung in Vollmacht liegt ganz und gar bei Gott. Als der Priester Amazja dem Amos verbieten will, weiterhin als Prophet aufzutreten, antwortet ihm dieser: „Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler, sondern ich bin ein Viehzüchter und ich ziehe Maulbeerfeigen. Aber der Herr hat mich von meiner Herde weggeholt und zu mir gesagt: „Geh und rede als Prophet zu meinem Volk Israel!“ (7,14-15). Der Prophet weiß sich so sehr in eine Pflicht genommen, von der ihn kein Mensch dispensieren darf oder nur dispensieren kann. Damit ergibt sich ein wichtiges Kriterium für die Echtheit des Propheten und seines Wortes, die im heutigen Jeremia-Text zur Sprache kommt: Der Prophet ist Diener des Gotteswortes und vermag folglich nicht darüber zu verfügen, als sei er dessen Herr. Das kann bittere Folgen haben für denjenigen, der gewissermaßen als „Mund Gottes“ auftritt. Nicht zufällig klagt Jeremia Gott geradezu der Vergewaltigung an: „Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt. Zum Gespött bin ich geworden den ganzen Tag, ein jeder verhöhnt mich. …Denn das Wort des Herrn bringt mir den ganzen Tag nur Spott und Hohn. Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen!, so war es mir, als brenne in meinem Herzen ein Feuer, eingeschlossen in meinem Innern“ (20,7-9). Prophet zu sein ist keine Auszeichnung oder Bevorzugung, sondern ist Dienst, harter Dienst am Heil des Menschen.


2. Prophetie- risikoreiches menschliches Reden (Präses Schneider)
Prophetie steckt voller Risiken. Das gilt schon in einem sehr einfachen Sinn: erst die Zukunft wird erweisen, ob die Ankündigungen des Propheten oder der Prophetin wirklich eintreffen. Jeder Mensch mit prophetischen Ansprüchen redet in eine nach menschlichem Ermessen und Erkennen offene Zukunft hinein. Und deshalb kann sich auch jeder und jede als wahre Prophetin oder als falscher Prophet erweisen. Das ist das Risiko allen Prophezeiens.
Und dieses Risiko müssen nicht allein die Prophetinnen und Propheten tragen. Auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer stellt sich unabweisbar die Frage nach der Wahrhaftigkeit und Seriosität prophetischen Redens und Handelns. Sollen wir uns beeindrucken lassen, uns den Propheten anschließen, uns nach Ihren Ankündigungen richten oder sollen wir widersprechen, nüchtern und kühlen Sinnes und Herzens bleiben – Ankündigungen der großen Weltkatastrophe haben sich noch immer als Scharlatanerie erwiesen: ‚Am 30. Mai ist der Weltuntergang, wir leben nicht mehr lang’ – ja, ja!
Auch für Hörerinnen und Hörer ist die Zukunft wie ein offener Raum, den zu überschauen für den normalen Menschen unmöglich ist. Schon das Geschehen in einem kleinen, überschaubaren Land ist kompliziert und so komplex, dass es völlig unmöglich scheint, auch noch größere weltweit reichende Zusammenhänge einzubeziehen. Am Ende kann man als leicht verführbarer Trottel dastehen, als hysterisch, weil durch ‚Brandreden’ manipulierbar.
Prophetie ist riskant. Sie lädt nicht zum Abwägen, zum Erwägen der Pros und Contras ein. Sie verlangt Entscheiden, dafür oder dagegen. Alternativen gibt es nicht. Sie malt schwarz und weiß, sie beansprucht genau zu wissen, was richtig und was falsch ist, sie bezeichnet kompromisslos Wahrheit und Lüge – und allein schon diese Art des Auftretens macht die Prophetie für die Zeitgenossen, die sie unmittelbar erleben, so unsympathisch. Sie wirkt arrogant und anmaßend, überheblich und unverschämt. Prophetinnen und Propheten sind keine ‚netten Menschen’, mit denen man gerne zusammen leben möchte. Sie sind anstrengend und nervig. Denn sie provozieren, ihre ganze Existenz ist im Grunde eine einzige Provokation.
Und Provokationen rufen Widerspruch hervor. Es ist häufig schon die Art des Auftretens, die zur Bestreitung reizt, weil der selbstherrlich erscheinende Anspruch einfach unerträglich wirkt. Und jede scharfkantige Argumentation, jede klare und steile Behauptung schreit geradezu nach Differenzierung. Die Zuhörenden denken sofort an viele Fragen und Einwände, wenn sie hören: so und nicht anders wird es kommen.
Ferner moralisieren die Prophetinnen und Propheten auch noch! Sie beleuchten den Lebenswandel, gerade der besseren Kreise und scheuen vor ethischen Urteilen nicht zurück.
Sie reden schonungslos von Recht und Unrecht, Machtmissbrauch, Korruption und Habgier – sie haben keine Hemmungen, sich die Hände an den heißen Eisen zu verbrennen.
Menschen mit Macht und Einfluss pflegen darauf nicht verständnisvoll oder gleichgültig zu reagieren. Sie wissen sich zu wehren, Kampagnen zu entfachen, auch die Staatsgewalt für ihre persönlichen Interessen zu mobilisieren.
Prophetinnen und Propheten leben deshalb gefährlich, müssen damit rechnen, Anfeindungen, Gefängnis, Folter und Tod zu erleben. Und das gilt natürlich in mehr oder weniger abgeschwächter oder gar gleicher Weise für die Parteigängerinnen und Parteigänger der Prophetinnen und Propheten. Wer sich für oder gegen sie entscheidet, trifft keinen akademischen Entschluss, sondern entscheidet sich für reale Risiken, die seine ganze Existenz betreffen können.
Propheten reden über den Glauben der Einzelnen, die Gottesdienst und die offizielle und öffentliche Religion. Respekt und Pietät lassen sie dabei vermissen. Über tiefe und heilige Gefühle von Menschen gehen sie hinweg wie eine Dampfwalze. Und das ruft genauso tiefen, emotionalen und gewalttätigen Ärger hervor – ja Hass bekommen sie zu spüren, wenn sie den Glauben und die Religion, inneres Erleben von Menschen anzweifeln und in Frage stellen, denunzieren und lächerlich machen oder als Lüge und Gotteslästerung brandmarken, was anderen heilig ist. Wenn Menschen im Innersten getroffen werden, dann schlagen sie zurück.
Prophetinnen und Propheten spalten also, sie polarisieren. Sie wollen, sie verlangen geradezu Entscheidungen für oder gegen sie. Und sie behaupten dabei etwas wahrhaft Ungeheuerliches, was auch nichts anderes als Gotteslästerung sein könnte.
Sie behaupten nämlich, dass eine Entscheidung für oder gegen sie eins zu eins eine Entscheidung für oder gegen Gott sei. Im Grunde erschrecken oder begeistern sie die Menschen dadurch, dass nach ihrem menschlichen Anspruch Gott selbst unmittelbar die Menschen anspricht, auf Menschen zugeht, Menschen zum ja oder nein für oder gegen Gott selbst herausfordert. Das macht in Wahrheit die Brisanz der Prophetie aus.
Denn wie soll ein Mensch beweisen, dass Gott selbst in seinen Worten zur Sprache kommt?
Und wie soll ein Mensch entscheiden, ob er Gottes Wort im Menschenwort hört?
Und wenn Propheten auftreten, die in derselben Sache mit einander konkurrieren und genau Gegensätzliches ankündigen – wer soll wie ein Schiedsrichter über wahr und falsch entscheiden? Woran können wir wahre und falsche Prophetie erkennen?


3. Wahre und falsche Propheten (Kardinal Meisner)
Hier setzt die scharfe, beißende Kritik an den falschen Propheten an, die sich nur scheinbar in den Dienst des Gotteswortes und des Heils des Menschen stellen. Nicht Gottes Ratschluss verkünden sie, sondern ihre eigenen Einfälle und Gedanken. Wie ihr Anspruch, so sind ihre Worte Lug und Trug, nichtiges Geschwätz, das niemandem nützt und vielmehr allen schadet.
Wie aber unterscheidet man nun den wahren vom falschen Propheten? Wie erkennt man, ob derjenige, der da das Wort ergreift, auch seinerseits vom Wort ergriffen ist? Sofort sicher auszumachen ist das häufig gar nicht; eben darin besteht ja die Gefährdung des falschen Propheten. Aber es gibt ein Kriterium: Der falsche Prophet redet den Leuten immer nach dem Mund. Er verkündet, was die Menschen gerne hören wollen: „Das Heil ist euch sicher. Kein Unheil kommt über euch“. Und dabei scheuen sie sich auch nicht, mit dem Worte Gottes zu jonglieren.
Ein Prophet der Neuzeit, der französische Dichter Léon Bloy, der von 1846 bis 1917 lebte, hat uns Verkündern ins Stammbuch geschrieben: „Um nicht in den Verdacht des Fanatismus zu geraten, haben sich die modernen Prediger etwas ausgedacht, was sie mit Bescheidenheit das Wort Gottes nennen. Es besteht darin, stundenlang zu salbadern und sich mit vollendeter Geschicklichkeit um das Ja und Nein herumzudrücken“. Wirkliche prophetische Rede bewegt immer zur Endscheidung, zu einem Ja oder einem Nein, nicht zu einem „Sowohl als auch“. Darum sagt Jesus dann ausdrücklich: „Euer ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen“ (Mt 5,37). Das ist wahrlich kein bequemer Verkündigungsauftrag.
Jeremia lässt sich auf diese Legitimation ein. Er weist sich gerade dadurch als wahrer Prophet Gottes aus, dass er Unheil ankündigt: „Hört, der Sturm des Herrn bricht los. Ein Wirbelsturm braust hinweg über die Köpfe der Frevler. Der Zorn des Herrn hört nicht auf, bis er die Pläne seines Herzens ausgeführt und vollbracht hat“ (23,19-20). So etwas hört man nicht gerne, und genau deshalb verkündet man so etwas auch nicht gern. Aber das Wort, das der Herr spricht, ist eben nicht immer nur mild und angenehm, sondern bisweilen auch hart und schwer anzuhören. Die Lügenpropheten dagegen reden den Leuten, besonders den Einflussreichen, nach dem Mund, weil ihre Wort eben nicht von dem großen Gott stammen, sondern von kleinen, opportunistischen Menschen. Aber noch etwas fehlt der Botschaft des falschen Propheten: die Kraft des Lebendigen und des Ursprünglichen. Jeremia legt es schonungslos offen: Die Pseudopropheten erdenken ihre Prophetie selbst. Ja mehr noch: Sie „stehlen einander Gottes Worte“. Robert Musil hat in diesem Zusammenhang gesagt: „Wie wird man aufs einfachste Prophet? Wenn man eine Dummheit ausspricht und andere sie nachahmen…“. Falsche Prophetie ist gewissermaßen inzestuös. Um es bildlich zu formulieren: Während Gottes Wort lebendiges, frisches Wasser ist, gleicht das erdachte Wort der Scheinpropheten einer schalen Brühe, die bald verdunstet und nichts zurücklässt als einen schalen Nachgeschmack.
Das Wissen der selbsternannten Propheten greift zu kurz. Sie sind sich ihrer Lächerlichkeit nur nicht bewusst. Tatsächlich aber machen sie ihre Rechnung ohne Gott – und vergessen damit das Entscheidende, ja den Entscheidenden. Die Lügenpropheten sitzen schlicht und einfach ihrem eigenen, falschen Gottesbild auf. Sie halten Gott für einen „Nahen“, d.h. für einen Götzen, denen konkrete Lebensbereiche wie Fruchtbarkeit, Gesundheit oder Kriegsführung zugeordnet wurden. Man bringt ihnen Opfer dar und glaubt, sie dadurch für sich verpflichten und vor den eigenen Karren spannen zu können. Der eine, wahre Gott aber ist der Heilige schlechthin. Was das heißt, kleidet Gott in eine rhetorische Frage: „Bin ich denn ein Gott aus der Nähe – Spruch des Herrn – und nicht vielmehr ein Gott aus der Ferne?“ (Jer 23,23). Gottes Ferne anzuerkennen verhindert jegliche Vereinnahmung Gottes für die eigenen, menschlichen Vorstellungen. Diese Haltung lässt Gott Gott sein und nach seinem Willen fragen. Sie bewahrt mich davor, die Souveränität seines Wortes zu relativieren. Dieser Haltung korrespondiert die Gottesfurcht als Gegenteil einer Grundeinstellung, die Gott zum lieben, alten Mann degradiert, dessen Geschäft es ist, zu allem „Ja“ und „Amen“ zu sagen. Die Aufhebung der Distanz des Menschen zu Gott ist zugleich auch die Aufhebung jeglichen Ernstes vor Gott und unserer Verantwortung für die Welt.
Das Problem der Lügenpropheten hat Jeremia ganz besonders beschäftigt; der Begriff findet sich im Alten Testament insbesondere bei ihm. Aber auch das Neue Testament kennt neben den Propheten die Pseudopropheten: von den sprichwörtlich gewordenen „Wölfen im Schafspelz“, vor denen Jesus in der Bergpredigt warnt, über den falschen Propheten Elymas, den Paulus auf Zypern durch eine Machttat zum Schweigen bringt, bis hin zu jenem Lügenpropheten der Apokalypse, der in der Endzeit viele Menschen verführt, dessen Los aber letztendlich das Verderben ist.


4. Die Kraft des Wortes Gottes ( Präses Schneider )
Die Kraft des Wortes Gottes ist ein ganz eigentümliches Phänomen. Denn sie darf nicht verwechselt werden mit der Machtfülle der jeweiligen menschlichen Sprecherinnen und Sprecher. Sie hat auch nichts zu tun mit deren rhetorischen Fähigkeiten oder ihrem Geschick, anderen zu imponieren.
Die Kraft des Wortes Gottes steckt in diesem Wort selbst. Das gilt unabhängig von den jeweiligen Sprechern.
Ein Hinweis darauf ist die Tatsache, dass Prophetinnen und Propheten nur im Ausnahmefall erfolgreich waren, Karriere machten oder ihnen öffentliche Anerkennung und Zustimmung zuteil wurde.
Ganz im Gegenteil: das persönliche Erleben von Propheten und Prophetinnen war häufig von Scheitern und vergeblichem Bemühen gekennzeichnet. Die Lebensspur von Jeremia etwa verliert sich im Dunkel der Geschichte. Seine Widersacher setzten ihm zu. Konkurrierende Propheten widersprachen im öffentlich und setzten sich damit auch in der Öffentlichkeit durch. Er wurde gefangen gesetzt und musste um sein Leben fürchten. Üble Nachrede umgab ihn – all dem fühlte er sich hilflos ausgesetzt. Und so ist es kein Wunder, dass er in bewegenden und auch krassen Worten sein Prophetenschicksal beklagte. Er hätte es vorgezogen, kein Prophet zu sein. Er wäre lieber nicht geboren worden, fühlte sich mit brutaler Gewalt von Gott zu dieser Aufgabe gedungen. Gott konnte er sogar als einen trügerischen Auftraggeber bezeichnen!
Nein, es war wahrlich nicht Jeremias Stärke, die die Kraft seiner prophetischen Worte ausmachte und wahr werden ließ, was er seinen Landsleuten voraussagte.
Die prophetische Kraft des Wortes Gottes, wie überhaupt jede Kraft des Wortes Gottes, liegt darin begründet, dass Gott selbst in seinem Wort anwesend und mächtig ist. Es wäre nun aber zu einfach gedacht, wollte man meinen: Lies die Bibel und du wirst immer und überall die Kraft des in seinem Wort gegenwärtigen Gottes erfahren. So einfach geht das nicht. Lies die Bibel – das ist ein nützlicher und vernünftiger Hinweis. Denn die Bibel ist Zeugnis lebendiger Begegnungen von Menschen mit Gott. Die Bibel ist sozusagen Gottes Wort und Menschenwort in einem, ohne dass wir das genau auseinanderhalten könnten. Aber: Gott muss in seinem Wort gegenwärtig werden, damit er uns ansprechen kann. Das galt für damals und das gilt für heute. Das ist ja auch, wie schon vorher gesagt, das Problem prophetischer Rede. Gott muss es selbst zu seiner Rede machen, und das hat kein Mensch in der Hand. Denn Gott bleibt frei in seiner Zuwendung zum Menschen, er kann das Wort und die Geschichten der Heiligen Schrift nutzen, sie können aber auch allein unsere Überlegungen, Anregungen und Erfahrungen bleiben.
In gleicher Weise und mit gleichem Nachdruck gilt aber auch: Gott wirkt und ist mächtig in seinem Wort. Das ist eine Realität. Darauf können wir uns verlassen. Durch sein Wort hat er die Welt geschaffen. Menschen in seine Nachfolge gerufen, den Bund mit seinem Volk Israel begründet.
Dass sein Wort nicht leer zu ihm zurückkehren wird, das hat er durch den Mund des Propheten Jesaja weitergesagt. Dass sein Wort – und nichts anderes – in Ewigkeit bleibt, das lässt er uns durch die Heilige Schrift weitersagen. Seine Gegenwart in seinem Wort kann zwar nicht mit rituellen Mitteln, durch einen besonderen Akt menschlicher oder kirchlicher Vergegenwärtigung Gottes erreicht werden. Seine Gegenwart bleibt sein Versprechen, seine Zusage. Da wo wir sie erfahren, wird sie uns zum aller gewissesten Fundament unseres Denkens und unsere Entscheidungen, unseres Lebens überhaupt.
Wir bekennen, dass Jesus Christus das eine Wort Gottes ist. An ihm können wir ablesen, wie Gott zu uns sprechen will. Deshalb sind die Evangelientexte und die Berichte über Jesu Leben unser wichtigstes Licht auf unserem Wege. Durch ihn wirkt Gottes Kraft, auch seine prophetische Kraft.
Er hat uns gezeigt, in welcher Weise das Wort Gottes wirken will:
Es will Menschen helfen, sich über ihre jeweilige Lebenssituation klar zu werden. Es ruft Menschen in seine Nachfolge. Es ist Heilung für reale Gebrechen und es ist stärker als alle Todesmächte, die nach Menschen greifen können. Mit seinem Wort rief Jesus Menschen ins Leben zurück, Gott hat das lebendige Wort Gottes lebendig erhalten, auch durch Gefangenschaft und Folter hindurch, in dem er ihn auferweckte.
Das Wort Gottes ruft Menschen in die Gemeinschaft, es lässt Ausgrenzungen nicht zu. Denn auch hier erweist es sich als eine Kraft, die zum Leben führt und das Leben bewahrt.
Auf eine bestimmte Weise der Kraftdemonstration verzichtet das Wort Gottes aber: Es ist die weltliche Machtanwendung. Es soll nicht durch Häme oder Macht geschehen, sondern durch mein Wort, so heißt es schon beim Propheten Zacharia . Und Jesus Christus hat uns vorgelebt, wie sein Wort auf diese Weise weiterwirken wird. In den Schwachen ist es mächtig, es verzichtet auf staatliche Gewalt, seine Macht entsteht nicht durch die Macht der Gewehre.
Denn lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert ist das Wort Gottes – gerade dadurch, dass es auf andere Zwangsmittel verzichtet.


5. Prophetie heute ( Kardinal Meisner)
Auch heute noch treffen wir an allen Ecken und Enden auf selbsternannte Propheten, die ihre Träume und Wünsche an die Stelle des Gotteswortes setzen. Auf diese wollen wir nun in einem letzten Schritt unseren Blick richten. Denn gerade als Teilhaber am prophetischen Amt Jesu Christi müssen wir Gläubige zum einen darauf achten, nicht selbst zu Scheinpropheten zu werden, und zum anderen, solchen Scheinpropheten nicht auf den Leim zu gehen.
Das biblische Wort ist immer in eine konkrete Situation hinein gesprochen, birgt aber auch – so möchte ich es sagen – einen Bedeutungsüberschuss, einen Verheißungsüberschuss in sich, der die Zeiten bis zum Jüngsten Tag überdauert. Schon der 2. Petrusbrief aktualisiert Klagen wie die des Jeremia, wenn er warnt: „Es gab aber auch falsche Propheten im Volk; so wird es auch bei euch falsche Lehrer geben“ (2,1). Und es hat mich geradezu erschreckt, als mir bewusst wurde, wie leicht der Abschnitt aus dem Prophetenbuch Jeremia in die heutige Zeit einzupassen ist.
Wo treffen wir auf Menschen, die zu Unrecht prophetische Rede für sich in Anspruch nehmen? Im übertragenen Sinn beispielsweise da, wo eine ganze Industrie sich bemüht, menschliche Sexualität zu vermarkten, und zwar auf Kosten der Menschenwürde, namentlich der weiblichen. Wo das Geschlecht nicht mehr die Liebe zwischen Mann und Frau zum Ausdruck bringt, sondern zum Mittel der Umsatzsteigerung degradiert wird, muss der christliche Prophet laut und deutlich Einspruch erheben: Lasst euch nicht um die Wahrheit betrügen!
Dann sind da die Propheten der Naturwissenschaften, der Forschung und insbesondere die der Industrie, die uns weismachen wollen, alles Machbare sei auch erlaubt. Die Natur wird hemmungslos manipuliert, sei es nun die um uns herum oder die in uns. Rohstoffressourcen werden ausgebeutet, Sicherheitsinteressen hintangestellt, ja sogar Embryonen, d.h. ungeborene Kinder, werden als Ersatzteillager und Stammzelllieferanten missbraucht. Gott selbst achtet die Gesetze, die er in seine Schöpfung hineingelegt hat; woher nehmen wir die Legitimation, diese zu missachten? Auch hier heißt es wieder: Lasst euch nicht um die Wahrheit betrügen!
Dann die Frage nach Liebe und Treue bei den ernstlich Verliebten und Verlobten, bei den Eheleuten und den Familien! Müssten wir nicht zusammenzucken, wenn Studien uns vor Augen stellen, dass sich die heutigen Jugendlichen durchaus nach Treue, Verlässlichkeit und Verantwortungsbereitschaft sehnen, ihre Eltern ihnen aber oft das entsprechende Lebenszeugnis verweigern? Die Lügenpropheten erklären uns, offene Beziehungen gehörten zu einer modernen Welt. Aber solange ein Mensch einen Menschen liebt, ihn ehrlich liebt, wird er danach trachten, dass diese Liebe fortdauert. „Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ hat Friedrich Nietzsche gesagt. Lasst euch nicht um die Wahrheit betrügen!
Und wenn dann die Liebe zweier Menschen selbst Mensch wird, wenn ein Kind entsteht? Dann flüstert uns der moderne Scheinprophet ein, in der heutigen Zeit müsse man dieses Kind erst gegen eventuell verpasste berufliche und soziale Chancen abwägen. Senkt sich die Waage zu Ungunsten des Kindes, dann bleibt ja immer noch – so heuchelt man uns vor – die Abtreibung. Nein: Die Tötung eines ungeborenen Kindes ist nie und nimmer eine Form der Familienplanung, die vor Gottes Augen bestehen kann! Im Übrigen stirbt mit dem Kind immer auch ein Stück der mütterlichen Seele. Denn die Mutter ist der Ort, wo Gott dem Menschen die Seele geschenkt hat. Lasst euch nicht um die Wahrheit betrügen!
Und wenn der Mensch alt und krank geworden ist und nach dem Verständnis der Gesellschaft nicht mehr sinnvoll menschlich leben kann, dann redet ihnen der Scheinprophet ein, die Souveränität über sein Leben in Anspruch zu nehmen und sein Leben in eigener Vollmacht zu beenden. Euthanasie nennt man fälschlicherweise diese Prophetie, die aus dem Arsenal des Antichristen kommt. Und man will dem Menschen einreden, das schon in der Blüte seiner Jahre schriftlich für den Fall von Alter und Krankheit festzulegen. Das Leben des Menschen kommt aus Gottes Hand, – und darum ist es heilig. Und Christus hat am Kreuz für jeden Menschen sein Blut vergossen, – und darum ist es dreimal heilig; – und darum ist Euthanasie ein Attentat auf die Heiligkeit Gottes selbst. Lasst euch nicht um diese Wahrheit betrügen?
Wogegen würde Jeremia heute auftreten? Wir wissen es nicht, aber Missstände wie die genannten würde er ganz gewiss nicht schweigend hinnehmen. Der Prophet ist zwar nicht von Natur aus ein Quertreiber, aber er stellt sich quer, wenn Gottes Wort und Wille ihm dies vorgeben. Als Prophet muss man folgerichtig lernen, mit dem Unmut, der Verachtung oder sogar dem Hass der Umgebung zu leben. Aber als Getaufte haben wir nun einmal nicht den Menschen nach dem Mund zu reden, sondern einzig und allein dem lebendigen Gott. Versäumen wir dies, dann verfehlen wir nicht nur unseren Auftrag, sondern sind überdies „diesem Volk ganz unnütz – Spruch des Herrn“ (23,32). Was einen wahren Propheten auszeichnet, hat schon vor vielen Jahren Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., treffend formuliert: „Der Prophet ist sich in einer doppelten Weise selbst enteignet. Er ist sich enteignet zugunsten dessen, den er vertritt, und er ist sich enteignet zugunsten derer, vor denen er ihn vertritt“ (Glaube und Leben 41, 1968, 357). Das wird sichtbar bei Jesus Christus selbst. Bei ihm hören wir prophetische Rede in Reinkultur, besonders in der Bergpredigt. Seine prophetischen Weisungen beginnen immer stereotyp: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde…“ und sie endet immer stereotyp: „Ich aber sage euch…!“. Als Beispiel sei Matthäus 5,27-28 zitiert: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“. Wir heute argumentieren unprophetisch oder manchmal antiprophetisch, indem wir sagen: „Alle machen es doch heute so! Die Statistiken belegen das, also auch wir wollen so sein und so handeln“. Prophetisch leben heißt für uns: das „Ich aber sage euch“ des Herrn zum Maßstab unseres Denken, Sprechens und Handeln zu machen!  


6. Prophetie heute ( Präses Schneider)
Wenn ich an Prophetie heute denke, dann stelle ich zunächst bei mir dasselbe Dilemma fest, was für die Menschen zurzeit des Jeremia auch gegolten hat. Wie soll man das entscheiden, ob jemand als Prophet oder als Scharlatan redet?
Noch mehr rückt mir die Frage auf den Pelz, wenn ich nach meiner eigenen Verpflichtung frage, prophetisch zu reden. Das gilt in gleicher Weise auch für unsere Kirchen.
Ich für meine Person – und ich denke, das gilt in gleicher Weise für Kardinal Meisner – muss Ihnen mitteilen, dass ich weder eine Berufungsvision noch eine Audition erhalten habe. Gleichwohl gibt es viele Fragen unserer Zeit, die jenseits eines klugen Erwägens und intelligenter Lösungen nach klaren Positionen verlangen. Um mit dieser Situation zurecht zu kommen, orientiere ich mich an dem „prophetischen Amt“, das wir Jesus Christus selbst zuschreiben. Orientieren wir uns an dem Verhalten Jesu, so haben wir bedingungslos konsequent für das Leben einzutreten. Wir haben darauf zu achten, dass Menschen nicht aus der Gemeinschaft ausgegrenzt werden. Damit meine ich die Armen und die Kranken, auch die mit den ansteckenden Krankheiten. Ich meine unanständige Berufe wie Zöllner und wie Huren. Ich denke daran, dass Menschen mit großem Reichtum den Weg zu ihm gesucht haben, Jesus ihnen aber nicht nach dem Munde redete oder gar die Bedingungen für das Reich Gottes klein handelte.
Ich denke an seinen kompromisslosen Umgang mit der Gewalt. Wir haben uns dem deutlich und entschieden entgegenzustellen, wo Einzelne, Gruppen oder Nationen allein auf Gewalt setzen, um ihre Interessen durchzusetzen oder ihre Lebensrechte zu wahren.
Und ich denke natürlich an die Bergpredigt: Die Friedensstifter werden selig genannt, die mit dem sanften Mut und die, die es hungert und dürstet nach Gerechtigkeit. An diesen Themen müssen dann jeweils konkrete Entscheidungen fallen: Sind die Probleme noch mit den Mitteln menschlicher Klugheit zu lösen, oder wird Intelligenz allein für den Krieg, die Gewalt und zur Ausbeutung anderer eingesetzt.
Auch wenn wir uns an diese Orientierungslinien halten, prophetisches Reden bleibt risikobehaftet. Denn wir müssen konkret werden. Und wir müssen auch Grenzen ziehen. Nach meinem Eindruck ist es so, dass dies nicht täglich geschehen kann. Es ist die Ausnahme und weist auf eine Extremsituation hin. So reden wir mit unseren Schwesterkirchen aus der Dritten Welt darüber, ob die Vereinigten Staaten wirklich „das Imperium“ sind, die Globalisierung alleine der Verwüstung ihrer Länder und ihrer Ausbeutung dient, oder ob es nicht doch eine vernünftige Chance gibt, globalisierte Beziehungen und Verhältnisse zum Wohle aller zu gestalten. Konkretionen sind notwendig, sie sind aber auch schwierig. Die prophetische Rede ist für uns keine alltägliche Rede – aber wo es um des Glaubens, des Lebens und des Reiches Gottes notwendig ist, da ist prophetische Rede nötig, auch heute.