Pressemitteilung

Die Arbeit gehört zur Würde des Menschen

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer (Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken)

  • 13.3.2002

Rede beim Sozialpolitischen Aschermittwoch in Oberhausen (08.03.2000)


„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So beginnt Artikel 1 des Grundgesetzes. Die Achtung der Menschenwürde ist also Grundwert und Ausgangspunkt unserer Verfassung. Worin besteht aber die Würde des Menschen? Denn Worte sind oft Hüllen für unterschiedliche Begriffe. Das wird schon deutlich, wenn die Bedeutung eines Wortes in Wechselwirkung tritt zu seinem Zusammenhang. Außerhalb der Wortverbindung „Menschenwürde“ verliert der Begriff der Würde rasch an Wert. Wir brauchen nur an den Würdenträger zu denken. Gewiss will das Grundgesetz nicht alle Menschen zu Würdenträgern machen. Vielmehr hat der Ausgangssatz unseres Grundgesetzes nur Sinn, wenn die Würde eine wesentliche dem Menschen eigene und ihm nicht nur übertragene Eigenschaft ausmacht und sich daraus zwingend Konsequenzen für unser Verhalten zu allen unseren Mitmenschen ableiten.


Ein Weg, den Inhalt dieses Grundwertes zu verdeutlichen, könnte darin bestehen, jene Folgerungen näher zu betrachten, die die Schöpfer des Grundgesetzes aus dem Ausgangssatz des Verfassungstextes ableiteten. Und in der Tat: Worin sich die Achtung vor der Menschenwürde rechtlich manifestiert und was insbesondere zum Schutz dieser Würde zählt, wird durch die Verfassung in den folgenden Artikeln festgelegt. Sie definieren den Freiheitsraum, in dem sich die Menschenwürde verwirklichen kann: Die Freiheit der Person, die Gleichberechtigung aller Menschen, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, die Freiheit der Berufswahl. Zusammen mit den Schutzrechten der Person, des persönlichen Lebensbereichs und des Eigentums beschreiben die Freiheitsrechte jene Chancen und Möglichkeiten, in denen sich Menschen entfalten und verwirklichen können. Aber auch wenn Menschenwürde und Freiheit auf das Engste miteinander verbunden sind, so fallen sie damit doch nicht zusammen. Vielmehr stehen Menschenwürde und Freiheit in einem notwendigen Ergänzungsverhältnis, das jedoch durchaus auseinanderfallen kann. Weder für unsere Gegenwart, noch für den Verlauf der Geschichte können wir sagen, dass die meisten Menschen in einer freiheitlichen Ordnung nach dem Verständnis unserer Verfassung leben. Der Versuch, die Unantastbarkeit der Menschenwürde als dem ersten Grundsatz unserer Rechtsordnung durch die Konkretisierung dessen, was die Achtung der Menschenwürde verlangt, juristisch zu definieren, stößt also bald an seine Grenzen. Ein solcher Versuch muss vor allem deshalb scheitern, weil sich die Würde des Menschen aus seiner inneren Bestimmung ergibt und nicht aus rechtlichen Ordnungen.


Darum können auch die Grundwerte der Verfassung in ihrem Inhalt nicht ohne jene ethische und kulturelle Werteordnung erfasst und beschrieben werden, auf denen das Grundgesetz seinerseits beruht. Und diese Wertvorstellungen stehen in ihrer Wirkung in einem bis heute prägenden geschichtlichen Zusammenhang mit der abendländischen Tradition und ihren christlichen Wurzeln. Es ist daher nicht nur erlaubt, sondern notwendig, auf den christlichen Begriff der Menschenwürde Bezug zu nehmen, der in der Überzeugung wurzelt, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist. So lesen wir in Gaudium et Spes, jenem bedeutenden Beschluss des II. Vatikanums:


„Ein besonderer Grund für die menschliche Würde liegt in der Berufung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott.“ (Gaudium et Spes, 19,1)


Und der 1992 von Papst Johannes Paul II. approbierte Katechismus der Katholischen Kirche formuliert in Ziffer 1700:


„Die Würde des Menschen wurzelt in seiner Erschaffung nach Gottes Bild und Ähnlichkeit; sie kommt in seiner Berufung zur Seligkeit Gottes zur Vollendung. Aufgabe des Menschen ist es, in Freiheit auf diese Vollendung zuzugehen.“


Aus solchen Sätzen spricht zugleich eine allen Christen gemeinsame Glaubensüberzeugung. Und wir wissen überdies, dass auch für viele Menschen anderer Religion oder Weltanschauung die Menschenwürde ein hohes Gut ist.


Aber auch wenn der Grund der Menschenwürde jenseits rechtlicher Regelungen steht, so ist es doch nicht gleichgültig, ob die staatliche Ordnung auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde verpflichtet ist oder ob dem Staat andere Vorstellungen wichtiger sind. In Wahrheit ist die Verwirklichung der Menschenwürde für den Charakter unserer Gesellschaft und die Qualität menschlicher Lebensmöglichkeiten von großer praktischer Bedeutung. Daher liegt es im Sinn unseres Themas, sich insbesondere einem Freiheitsrecht zuzuwenden, das für die Arbeit des Menschen als einer Dimension der menschlichen Würde die eigene Entscheidung und die Chance zur je eigenen Erfüllung garantieren soll. Ich meine das im Artikel 12 verbürgte Recht, „Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen“, und das Verbot, jemanden zu einer bestimmten Arbeit zu zwingen, außer bei einer gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht oder bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung.


Nach den traurigen Erfahrungen der Geschichte wird niemand dieses Recht gering schätzen. Freilich gilt für dieses Freiheitsrecht, was für alle Freiheitsrechte gilt: Es ist nicht nur ein individuelles Recht, sondern zugleich ein Element der gemeinsamen freiheitlichen Ordnung. Niemand kann glauben, eine Gesellschaft könne auf Dauer bestehen, in der unbeschränkter Egoismus herrscht und in der mit dem eigenen Freiheitsrecht nicht auch das Freiheitsrecht nicht auch das Freiheitsrecht des Anderen und seine Chance zur Wahrnehmung dieses Rechts beachtet wird. Paul Kirchhof, prominentes Mitglied des ZdK und langjähriger Bundesverfassungsrichter hat die notwendige Wechselseitigkeit im Verständnis von Freiheit kürzlich wie folgt auf den Punkt gebracht:


„Wir definieren häufig Freiheit als eine jeden Tag neue beliebige Entscheidung. Das ist ein Trugschluss. Die Berufsfreiheit lädt zum Arbeitsvertrag ein, die Ehefreiheit zur Bindung, die Religionsfreiheit zur Zugehörigkeit, die Wissenschaftsfreiheit zur beharrlich vertretenen Erkenntnis.“ (Christ in der Gegenwart, 12.12.1999)


Freiheit und Bindung gehören also zusammen. Freilich genügen bei der Berufsfreiheit der Wille und die Fähigkeit zur Bindung nicht. Wer einen Arbeitsvertrag schließen will, braucht jemand, der eine Arbeitsstelle anbietet. Für eine erschreckend hohe Zahl unserer Mitmenschen fehlen solche Arbeitsstellen. Und in nicht wenigen Ländern ringsum in der Welt ist Arbeitslosigkeit mit all ihren bedrückenden Folgen das bittere Schicksal vieler Menschen. Beim Recht auf freie Berufswahl zeigt sich in besonders dramatischer Weise, dass die Freiheit zur eigenen Entscheidung – auch die Freiheit, sich an eine Aufgabe zu binden – der Chance in der gesellschaftlichen Wirklichkeit bedarf. Andererseits dürfen wir aber auch die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der die Menschen tätig werden, nicht auf die Berufswahl einengen.


Wenn wir die Bedeutung der Arbeit für die Menschenwürde erkennen wollen, müssen wir die berufliche Erwerbsarbeit als einen Teil jener Arbeit ansehen, in der sich unser Menschsein äußert. Tätigsein ist ein wesentlicher Ausdruck menschlichen Lebens. Zugleich müssen wir uns aber davor hüten, durch abstrakte Überlegungen die Realität aus dem Blick zu verlieren oder ihre Belastungen harmonisierend zu überdecken oder gar wegzureden. Daher dürfen wir einerseits Erwerbsarbeit und Arbeit nicht gleichsetzen, andererseits können wir keinen Augenblick vergessen, welche elementar notwendige Bedeutung die Erwerbsarbeit für die Chance zu einem menschenwürdigen Leben hat. Sowohl die Arbeit im Sinne des menschlichen Tätigseins als auch die Erwerbsarbeit sind notwendig für ein menschenwürdiges Leben, aber sie sind nicht identisch und darum besteht zwischen beiden ein Spannungsfeld.


So wichtig das Recht der freien Berufs- und Ausbildungswahl ist, so offensichtlich ist doch, dass sich das Grundgesetz damit allein auf die Erwerbsarbeit bezieht. So wichtig die Erwerbsarbeit ist, so darf doch Arbeit nicht auf Erwerbsarbeit enggeführt werden, wenn wir über das Verhältnis von Arbeit und Würde des Menschen.


Im Gegenteil. Wir müssen die Engführung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit überwinden, wenn wir eine an der Würde des Menschen orientierte Arbeits- und Lebenswelt schaffen wollen. Das gilt mit Sicherheit für die künftige Stellung in Familie und Kindererziehung in der Gesellschaft. Jeder weiß, dass die Geringschätzung von Familie und Kindererziehung die Zukunft unserer Gesellschaft unterminiert. Freiheit bei der Wahl der Arbeit oder des Arbeitsplatzes muss für Männer und Frauen die Freiheit einschließen, zeitweise keiner Erwerbsarbeit nachzugehen, um sich voll der Erziehung ihrer Kinder zu widmen, oder die Berufstätigkeit in geeigneter Weise mit den Aufgaben als Vater oder Mutter verbinden zu können. Auch die Pflege von Familienangehörigen gehört in diesen Zusammenhang. Wenn die Familie nur noch eine Funktion der Erwerbsarbeit ist, dann ist die Würde des Menschen ebenso gefährdet wie die Zukunft der Gesellschaft. Unser Rechtssystem gibt übrigens durchaus Hinweise auf diese zweite Ebene der Arbeitsfreiheit. Im Familienrecht, dem 4. Buch des BGB regelt § 1356 das Verhältnis von Erwerbstätigkeit zu familiären Aufgaben. Dort heißt es:


„Beide Ehegatten sind berechtigt, erwerbstätig zu sein. Bei der Wahl und Ausübung einer Erwerbstätigkeit haben sie auf die Belange des anderen Ehegatten und der Familie die gebotene Rücksicht zu nehmen.“


Gerade die Menschenwürde ist es also, die der Freiheit, erwerbstätig zu sein, Grenzen setzt in übergeordneten Pflichten in Ehe und Familie. Wer über dem Beruf seine familiären Beziehungen verkümmern oder zerbrechen lässt, missversteht und missbraucht das Freiheitsrecht auf Arbeit. Die Sorge für die Familie kann auch nicht schlicht an den anderen Ehepartner abgegeben werden, obwohl natürlich Schwerpunktsetzungen innerhalb der Partnerschaft sinnvoll und zulässig sind.


Auch unabhängig von der Familie wird heute zunehmend kritisch gesehen, wie stark durch die geschichtlichen Entwicklung während der beiden letzten Jahrhunderte das Ideal vom tätigen Leben auf das Leitbild von der Erwerbsarbeit zusammengeschrumpft ist. Unsere Gesellschaft hat sich unter dem Einfluss der Industrialisierung in eine „Arbeitsgesellschaft“ verwandelt, in der sich Männer und Frauen weiterhin über ihre bezahlte Arbeit definieren. Da nur bezahlte Berufsarbeit existenzsichernd ist, wird auch nur noch diese als sinnstiftend erfahren. So werden Arbeitsmarktkrisen zu Gesellschafts- und Persönlichkeitskrisen. In der Arbeitsgesellschaft, in der nur zählt, wer Arbeit hat, ist so in den letzten Jahrzehnten alles zur Arbeit geworden: Dichter und Denker legen Wert darauf zu arbeiten und in Wortschöpfungen wie Beziehungs- und Erziehungsarbeit, Glaubens- und Gefühlsarbeit, Traum- und Trauerarbeit, Forschungs- und Friedensarbeit feiert „Arbeit“ einen begrifflichen Siegeszug, der symptomatisch zu sein scheint. Einerseits wird dadurch der Leistungsanspruch, der in der Bedeutung der Arbeit steckt, generell anerkannt. Andererseits verwischen sich aber dadurch die Konturen der Erwerbsarbeit.


Allerdings: So notwendig es ist, über den Charakter von Arbeit und Tätigsein und über das Verhältnis von aktivem und kontemplativem Leben nachzudenken, so müssen wir uns doch vor einem Irrtum hüten: Es wäre eine Illusion, wollten wir durch einen neuen Arbeitsbegriff, der die Bedeutung der Erwerbsarbeit zurücknimmt, die Probleme einer Gesellschaft, in der die Zahl der bezahlten Arbeitsstellen abnimmt, entschärfen oder gar lösen. Das wäre doch wohl ein Gedanke, der nur in einer existenzsicheren Studierstube entstehen könnte. Natürlich wird die Arbeitslosigkeit keineswegs geringer, wenn wir entweder den von der Berufswelt geprägten Arbeitsbegriff unbesehen auf das gesamte tätige Leben ausweiten oder die übergeordnete Tätigkeit des menschlichen Tätigseins gegenüber der Erwerbsarbeit hervorheben. Und dennoch bietet sich durch die Krise, in die die Zentrierung unseres ganzen Lebens auf die Erwerbsarbeit geraten ist, auch eine Chance. Die Chance nämlich, der Arbeit zuzuordnen, was wirklich Arbeit ist, und den sonstigen Tätigkeiten ihren je eigenen Wert zuzumessen. Wir bedürfen also nicht des begrifflichen Krückstocks, der alle menschliche Tätigkeit mit „Arbeit“ nach dem Leitbild der Erwerbstätigkeit gleichsetzt und sie dadurch zu entwerten droht.


Die Chance einer klaren Scheidung zwischen der Arbeit und den anderen Formen des tätigen Lebens ist heute groß und durch den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozess, den wir jetzt erleben, auch dringend notwendig. Viele Bereiche klassischer Erwerbsarbeit schrumpfen, und bislang nicht professionell erbrachte Dienstleistungen werden professionalisiert. Dennoch hatte Hannah Arendt recht, als sie in ihrem Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (1960) schrieb, mit der These „der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus“ könne nicht gemeint sein, dass es in unserer Gesellschaft nichts mehr zu tun gäbe. Im Gegenteil: Allzu vieles bleibt liegen, was dringend getan werden müsste, allzu vieles wird heute versäumt, was dann, wenn es unausweichlich geworden ist, kaum noch rechtzeitig getan werden kann.


Aus der zurücktretenden Rolle der Erwerbsarbeit erwächst jedoch nur dann eine Chance, die anderen Formen des tätigen Lebens aufzuwerten, wenn wir gesellschaftliche Modelle entwickeln, die eine menschenwürdige Existenz für alle sichern. Denn dies ist die Voraussetzung für alles andere, und darum bleibt gültig, was im Gemeinsamen Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ gesagt wird:


„Aus christlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde. Der Mensch ist für ein tätiges Leben geschaffen und erfährt dessen Sinnhaftigkeit im Austausch mit seinen Mitmenschen.“


Allerdings müssen wir uns angesichts der Dauerarbeitslosigkeit und der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Arbeitslebens fragen, was das praktisch bedeutet. Können wir soziale Grundrechte, wie das „Recht auf Arbeit“, in die Verfassung schreiben? Ist es realistisch, staatliche Aktionen durchzuführen oder einzuklagen, um solche sozialen Grundrechte umzusetzen? Denn, dass sich das Recht auf Arbeit nicht schon dadurch realisiert, dass es rechtlich ausgestaltet und also geschützt ist, erweist die Wirklichkeit. Es ist wahr: Wo im Verhältnis zu den Schulabgängern zu wenig Ausbildungsplätze angeboten werden, wo im Verhältnis zur Arbeitssuche der Arbeitswilligen und Arbeitsfähigen zu wenig Erwerbsarbeitsplätze vorhanden sind, kann die gesetzlich garantierte Wahlfreiheit des Arbeitsplatzes leicht als Zynismus empfunden werden. Aber wäre die Definition eines Rechtes auf Arbeit, das der Staat in einer freiheitlichen Gesellschaft gar nicht einlösen kann, nicht noch viel zynischer? Zwar hat das Bundesverfassungsgericht einmal formuliert:


„Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen …, das Freiheitsrecht wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos.“ (BverfGE 33, S. 330f)


So logisch diese abstrakte Überlegung ist, so wissen wir jedoch alle: Die wirtschaftlichen Voraussetzungen, um die es beim Recht auf Arbeit und Berufsfreiheit geht, lassen sich in einer Marktwirtschaft nicht durch Verfassungsgarantien produzieren. Art und Maß der möglichen Leistungen sind vielmehr bedingt durch die wirtschaftliche Situation und die gesellschaftliche Entwicklung, die ein freier Staat nur sehr bedingt beeinflussen kann. Soziale Grundrechte sind also als gerichtlich durchsetzbare Rechte nicht realisierbar. Das Grundgesetz hat daher aus guten Gründen auf die Aufnahme sozialer Grundrechte verzichtet. Damit hat der Verfassungsgeber der Illusion widerstanden, man könne gesellschaftlichen Prozessen mehr als einen Rahmen vorgeben und sie statt dessen in eine bestimmte Richtung zwingen. Die Erfahrungen der DDR und jeder anderen zentralen Planungswirtschaft zeigen, dass die Garantie des Arbeitsplatzes notwendigerweise zur mangelnden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit führt. Damit wird aber das Versprechen sozialer Sicherheit über kurz oder lang entwertet. Überdies ist eine solche Wirtschaftsordnung nach aller bisheriger geschichtlichen Erfahrungen nur in einer Gesellschaft möglich, in der die Freiheit durch eine zentrale politische und ideologische Führung ersetzt wird. Ebenso wenig wäre es aber auch realistisch, die Herausforderungen des Lebens und der gesellschaftlichen Entwicklung dadurch in den Griff bekommen zu wollen, dass man individuelle gerichtlich einklagbare Rechtstitel einführt, wie das in der Bundesrepublik lange geglaubt wurde. Einer solchen Vorstellung mag man anhängen, so lange es unaufhaltsam aufwärts geht. Jede Krise und jede Umwälzung erweist die Hohlheit solcher individuellen Rechtsansprüche.


Ist jedoch damit die Frage nach der Erwerbsarbeit beantwortet? Soll jeder oder jede selbst zusehen, ob er oder sie in einer Gesellschaft, in der die Möglichkeit zur Erwerbsarbeit abnimmt, eine Chance zur menschenwürdigen Existenz findet? Angesichts der Massenarbeitslosigkeit gibt das Gemeinsame Wort der Kirchen für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit uns hier eine klare Antwort:


„Auch in Zukunft wird die Gesellschaft dadurch geprägt sein, dass die Erwerbsarbeit für die meisten Menschen den bei weitem wichtigsten Zugang zu eigener Lebensvorsorge und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben schafft. In einer solchen Gesellschaft wird der Anspruch der Menschen auf Lebens-, Entfaltungs- und Beteiligungschancen zu einem Menschenrecht auf Arbeit. Wenngleich dieses ethisch begründete Anrecht auf Erwerbsarbeit nicht zu einem individuell einklagbaren Anspruch werden kann, verpflichtet es die Träger der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Tarif- und Sozialpolitik, größtmögliche Anstrengungen zu unternehmen, um die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu gewährleisten.“ (RdNr. 151)


Es ist und bleibt also eine Aufgabe aller, die politische Verantwortung tragen – nicht nur jener, die ein staatliches Amt wahrnehmen – entschlossen nach Möglichkeiten zu suchen, um die reale Arbeitsplatzsituation zu verbessern. Es ist darüber hinaus die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, neue Modelle dafür zu entwickeln, wie wir den Notwendigkeiten der Existenzsicherung durch menschenwürdige Arbeit gleichermaßen gerecht werden können wie den vielen anderen Formen menschlicher Tätigkeit und menschlicher Verantwortung, die für die Gegenwart und vor allem für die Zukunft der Gesellschaft erforderlich sind. Am dringendsten ist es dabei, das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Familie zukunftsfähig neu zu bestimmen, denn dies ist für das Überleben unserer Gesellschaft von allgemeiner Bedeutung. Daneben gibt es in unserer Gesellschaft aber auch Gruppen und Minderheiten, deren Probleme und Schwierigkeiten in besonderer Weise berücksichtigt werden müssen.


Hier denke ich vor allem an die Chance der älteren und behinderten Menschen in der Berufswelt. Die Frage, wie die Würde des Menschen durch Arbeit zu sichern ist, wird für Christen dann besonders drängend, wenn unübersehbar die Chance zur Arbeit allein zum Feld des Starken wird. Zwar bedarf der Arbeitsmarkt der Leistungsorientierung, was sich z.B. in leistungsgerechter Bezahlung ausdrückt. Dennoch darf er nicht so organisiert sein, dass schwächere Menschen gar keinen Platz in der Erwerbsarbeit finden. Wo Erwerbsarbeit wichtigster Zugang zu eigener Lebensvorsorge und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben darstellt, muss dieser Zugang auch offen sein für Kranke, Behinderte und ältere Menschen, aber auch für Frauen, die durch familiäre Pflichten in ihrer beruflichen Leistungskraft gemindert sind. Tatsächlich funktioniert aber auf dem Arbeitsmarkt ein sehr harter Selektionsmechanismus. Zwar haben wir ein ausgebautes System der sozialen Sicherung, das ein Netz unter jene spannt, die durch die Maschen des Erwerbsarbeitslebens fallen – aber die finanzielle Alimentierung ist kein befriedigender Ersatz für tatsächliche Teilhabe am Berufsleben.


Überdies erhöht die technologische Entwicklung die Anforderungen an die beruflichen Fähigkeiten und verringert damit die einfachen Beschäftigungsmöglichkeiten. Ohne naiv und nostalgisch alten Zeiten nachweinen zu wollen: Aber die Spülhilfe oder der Bürobote – sie sind der Automatisierung der Arbeitsabläufe zum Opfer gefallen. Es ist billiger eine große Spülanlage zu kaufen, die von einer Fachkraft bedient und gewartet wird, als drei Spülhilfen in der Küche zu beschäftigen. Es ist billiger ein automatisches Postsortiersystem zu installieren, als den Hausboten weiter anzustellen. Wir brauchen aber ein gesellschaftliches Modell des beruflichen Lebens, das auch Menschen, die den gewachsenen Anforderungen unserer Zeit an Wissen und Können nicht gewachsen sind, eine Lebenschance bietet. Auch bei älteren Menschen erleben wir, dass es oft billiger und effizienter angesehen wird, Menschen mit 55 aus dem Erwerbsarbeitsleben hinauszudrängen. Statt dessen müssen wir nach Lösungen suchen, die deren Fähigkeit und Erfahrungen für den Arbeitsprozess nutzen.


Ein seit langem kontrovers diskutiertes Thema der Arbeitsmarktpolitik ist die Frage, wie den Langzeitarbeitslosen wirksam und nachhaltig geholfen werden kann. Dazu hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken im November 1998 eine viel beachtete Erklärung beschlossen, die neue Beschäftigungschancen für diese Gruppe von wirtschaftlich Schwachen eröffnen will. Um diesem Ziel näher zu kommen, müssen zunächst einmal die Merkmale jener Gruppen differenziert beschreiben, die in besonderer Weise von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Es sind dies vor allem Jugendliche ohne Schulabschluss, Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Behinderte und Benachteiligte, Menschen, die über längere Zeit Familienarbeit geleistet haben sowie Ausländer mit unzureichenden deutschen Sprachkenntnissen. Um diesen Personengruppen neue Chancen zur Beteiligung an bezahlter Arbeit zu erschließen, ist es notwendig, den Sektor einfacher Dienstleistungen gezielt auszubauen. Nachhaltige Lösungen werden hier nur zu erreichen sein, wo geeignete staatliche Rahmenbedingungen, ein sozial verantwortliches Unternehmertum und Eigeninitiative und Eigenanstrengung der Betroffenen zusammenkommen. Anders gesagt, wir brauchen Bedingungen, die Selbsthilfe und Eigeninitiative fördern und dafür eine realistische Aussicht auf Erfolg bieten.


Auch das Memorandum „Mehr Beteiligungsgerechtigkeit“, das 1998 unter Mitwirkung von Persönlichkeiten aus dem ZdK erarbeitet wurde, um auf Initiative von Bischof Josef Hohmeyer die Aussagen des Gemeinsamen Wortes der Kirchen noch einmal zuzuspitzen, hat sich die Frage zugewandt, wie jene Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden können, deren Produktivität gering ist. „Im Hinblick auf die gering qualifizierten Personen erscheint (den Experten) eine Kombination von niedrigen Einstiegstarifen, von auf konkrete Zielgruppen begrenzten und zeitlich befristeten Einkommenszuschüssen und von qualifizierenden Maßnahmen unumgänglich.“ (S. 10) Dabei misst das Papier insbesondere dem Unternehmergeist eine zentrale Rolle für die Öffnung der Arbeitsmärkte zu: „Vor dem Hintergrund einer schwierigen Arbeitsmarktsituation müssen sich die Mitglieder der Gesellschaft und ihrer Gruppen und Verbände über Prioritäten verständigen mit dem Ziel, Fesseln für Unternehmergeist und Eigeninitiative zu lockern und Barrieren für Innovation und Investition abzubauen. Das Gebot der Beteiligungsgerechtigkeit fordert aber zugleich, keine Prioritäten zu setzen, die in ihren Folgewirkungen zu Lasten der nachfolgenden Generationen gelten.“ (8f)


Über die Zukunft der Arbeit und die Zukunft einer menschenwürdigen Arbeitsgesellschaft machen sich in diesen Jahren viele Wissenschaftlicher und Kommissionen Gedanken. In der Tat stehen die reifen Industrieländer an einer Wendemarke, wie sie die Agrargesellschaften vor 150 Jahren erlebt haben. Damals hat die Landwirtschaft 80 Prozent der Beschäftigung aufgenommen, heute sind es gerade mal 2-4 Prozent. In unserer Zeit verändert sich die industrielle Konsumgesellschaft in eine Wissensgesellschaft, und es entsteht zugleich eine kulturelle Dienstleistungs- und Erlebnisgesellschaft. Auf diesen Wandel müssen wir uns vorbereiten – durch neue Bildungskonzepte von Schule, Hochschule und Berufsausbildung wie durch unsere eigenen Anstrengungen. Viele Entwicklungstendenzen deuten darauf hin, dass Kommunikationsbereitschaft, Kommunikationsfähigkeit und soziale Kompetenzen wie auch musische Neigungen und Talente einen größeren Stellenwert erhalten. Wir sich aber die Wertschöpfung in kulturellen Dienstleistungen, die unter solchen Bedingungen von größerer Bedeutung sein werden, nach den gleichen Maßstäben richten können, die sich in der Industrie bewährt haben, etwa nach dem Leistungskriterium der Produktivität? Schon heute wird die Leistung eines Musikers, eines Arztes oder eines Rechtsanwalts danach beurteilt, wie wertvoll seine Angebote und seine Fähigkeiten für andere Menschen sind. Freilich wird dies auch in Zukunft vor allem gemessen an der Kaufkraft derer, die, um ihr Leben zu bereichern, an solchen qualifizierten Angeboten interessiert sind. Also wird sich auch in der Zukunft die Frage stellen, wie in unserer Gesellschaft Menschen fairen Zugang zu den Lebenschancen erhalten und ob sie die Kraft und den Willen haben, diese Chancen zu nutzen. Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach hat seine Vision einer Menschenwürdigen Zukunft der Arbeitsgesellschaft wie folgt formuliert:


„Das Ende der Industriearbeit ist nicht das Ende der Arbeitsgesellschaft. Die Zukunft der Arbeit liegt in den personennahen Dienstleistungen, die sich kombiniert marktförmig, gesellschaftlich und durch individuelle Vorlieben lenken lassen. Am Ende dieses Jahrhunderts haben zahlreiche Menschen in Osteuropa und Ostdeutschland eine friedliche Revolution angestoßen, um materiellen Wohlstand und persönliche Freiheit zu erringen. Die Zukunft der Arbeit im nächsten Jahrhundert wird davon abhängen, dass Kapitalismus und Demokratie miteinander versöhnt werden, dass die Marktwirtschaft in eine demokratische Gesellschaft eingebettet wird.“ (F. Hengsbach, Die Zukunft der Arbeit ist nicht ihr Ende, Orientierung, 31.1.1999, S. 13-15)


Die Arbeit gehört notwendig zur Würde des Menschen. Aber die Zukunft wird uns vor große Herausforderungen stellen, um dieser Notwendigkeit auch unter völlig neuen Bedingungen gerecht zu werden. Diese neuen Bedingungen bringen neue Chancen, aber auch neue Schwierigkeiten und Belastungen. Was bleibt, ist die ethische und politische Aufgabe, dass die Menschen durch Arbeit in einer ihrer Würde gemäßen Weise ihre Existenz sichern und zur persönlichen Erfüllung finden können.