Pressemitteilung

Statement von Kirchenrat Karl-Wolfgang Brandt, Evangelischer Beauftragter bei der NRW-Regierung, anläßlich der Preisverleihung zum Wettbewerb "Familie und Kirche: Auf in die Zukunft"

Düsseldorf - Zu einem Internet-Wettbewerb für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufen I und II l

  • 15.3.2002

 


Sehr geehrter Herr Präses Sorg,


sehr geehrter Herr Landessuperintendent Noltensmeier,


sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger,


liebe Mitarbeiterinnen der EAF,


liebe Mitgäste,


sehr geehrte Damen und Herren!


 


Die evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen „macht sich stark für Familien“, so heißt es im Motto des Verbandes. Und an anderer Stelle wird ausgeführt: Die EAF ist aus christlicher Verantwortung eine „Lobby für Familien“. In ihren Leitlinien bezeichnet sich die EAF weiterhin als Anwalt von Familien, sie vertritt die Interessen von Familien gegenüber (und ich denke auch häufig: zusammen mit) kirchlichen und staatlichen Ebenen . Sie will die Auseinandersetzung in Kirchengemeinden mit den spezifischen Bedürfnissen von Familien initiieren.


Dieses ihr Programm verfolgt sie insbesondere in hervorgehobener Weise auch heute mit diesem Wettbewerb und der Preisverleihung.


Lassen Sie uns fragen, wie denn das in diesen programmatischen Sätzen immer wiederkehrende Stichwort „Familie“ inhaltlich zu verstehen und zu füllen ist.


In einer Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1997 mit dem Titel „Gottes Gabe und persönliche Verantwortung – Zur ethischen Orientierung für das Zusammenleben in Ehe und Familie“ heißt es dazu:


„Da, wo Kinder geboren werden, entsteht Familie: Familie wird durch Elternschaft konstituiert. Die Zunehmende Pluralisierung von Formen und Stilen mit einem tiefgreifenden familienstrukturellen Wandel führen immer wieder zu der Frage, was als „Familie“ gelten kann oder soll. Auch aus biblischer Betrachtung und theologischer Auslegung läßt sich keine unwandelbare, normativ verbindliche Beschreibung von Familie ableiten. Selbst ethisch begründete Leitbilder gelten situationsbezogen. Ihre Normen werden durch sozialen und kulturellen Wandel immer wieder der „Bewährung“ unterzogen.“


In der Tat spielen im Neuen Testament in der Verkündigung Jesu vom Anbruch des Reiches Gottes Lebensformen eine nur untergeordnete Rolle. Ja, es kann sogar sein, daß sie sich als Hindernis auf dem Weg der Nachfolge erweisen, so daß man ihnen Absage


erteilen muß: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder? ….Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (Markus 3, 33 + 35). Und an anderer Stelle: „Laßt die Toten ihre Toten begraben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes!“ (Lukas 9, 60).


So wird der Familienbegriff im Neuen Testament durch Jesus selber relativiert. Andererseits gibt es aber auch keine definitive Absage an die Familie. Klares Regulativ für jegliches Zusammenleben von Menschen ist bei Jesus und im übrigen Neuen Testament die Liebe (Agape). Sie ist das Maß für die Formen menschlichen Zusammenlebens. Im Blick auf die Kinder darf man getrost sagen, daß Jesus geradezu revolutionär über Kinder denkt: „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ (Markus 10, 14 + 15)


So erscheint es auch vom Neuen Testament sachgemäß, wenn die EKD in ihrer schon zitierten Stellungnahme einen kindzentrierten Ansatz beim Nachdenken über Ehe und Familie verfolgt: „Familie ist da, wo im Zusammenleben mit Kindern verbindliche elterliche Verantwortung getragen und gelebt wird. Kinder haben einen elementaren Anspruch auf Familie.“ Bei Betonung dessen, daß die Institution Ehe und das Leitbild der Familie als Lebensgemeinschaft zwischen Eheleuten und ihren Kindern unangetastet bleibt, erweitert die Stellungnahme ihren Familienbegriff jedoch auch auf andere Lebensgemeinschaften: „Es gilt inzwischen als weitgehender Konsens, daß Staat und Gesellschaft auch den auf Dauer angelegten nichtehelichen Lebensgemeinschaften, insbesondere wenn sie Kinder haben, Achtung, Schutz, Unterstützung und notwendige Hilfe schulden. Niemand sollte solchen Gemeinschaften von Eltern und Kindern streitig machen, daß sie Familien sind. Die Sozialstatistik belegt, daß es sich bei weitem nicht um wenige Einzelfälle handelt. So gesehen ist es auch richtig, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern als Herausbildung eines neuen Familientyps zu betrachten.“


Welchen Rang nun nehmen Familien und Lebensgemeinschaften mit Kindern in der Gesellschaftspolitik ein? In welcher Weise werden sie besonders gefördert?


Durch Bundesgesetzgebungen werden die finanziellen Rahmenbedingungen bestimmt. Die Steuerreform soll vor allen Dingen auch Familien finanziell entlasten. Aber nach übereinstimmender Meinung der Kritiker geht diese Entlastung längst nicht weit genug, um als echte Förderung von Familien gelten zu können. Ähnliche Kritik richtet sich auch gegen die bereits vorgenommene Erhöhung des Kindergeldes für die beiden ersten Kinder. Auch sie ist nur der berühmte erste Schritt in die richtige Richtung. Doch auch diese Erhöhung ist noch deutlich von dem durch das Bundesverfassungsgericht festgestellten Existenzminimums in Höhe von rund 300 DM entfernt. Im übrigen ist dazu zu bemerken, daß auch weitere Schritte sich allenfalls auf die Gleichstellung von Familien hinbewegen. Eine darüber hinausgehende ausdrückliche Förderung von Familien ist noch in keinem Falle in Sicht.


Die Feststellung des Gemeinsamen Wortes der Kirchen zur sozialen Lage in Deutschland vom Februar 1997: „Mehrere Kinder zu haben, ist heute zu einem Armutsrisiko geworden“ (Seite 32), ist noch längst nicht überholt.


 Auf der Ebene des Landes NRW hat das MFJFG Positionen bezogen mit einem Papier vom Oktober 1999 unter dem Titel „Zukunft der Familie. Familienförderung in NRW: Bilanz und Ausblick!“


Darin wird der Familienpolitik in NRW hohe Priorität eingeräumt. Dies wird folgendermaßen begründet: „In Zeiten des Strukturwandels unter dem Einfluß der Globalisierung erhalten Solidarität, soziale Gerechtigkeit und sozialer Frieden immer existentiellere Bedeutung. Ohne diese soziale Basis ist Veränderung nicht gestaltbar. Eine soziale Politik, die positive Lebensbedingungen für Kinder, Jugendliche und Familien fördert, ist daher weitblickende Strukturpolitik – eine nur den Globalisierungstendenzen ausgelieferte Politik würde erleben, daß ihr die sozialen Grundlagen wegbrechen, auf denen sie beruht“ (Seite 8). Familienpolitik wird als Querschnittsaufgabe verstanden, die die Einbeziehung weiterer Politikfelder wie zum Beispiel Wohnungs-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, Bildungs- und Umweltpolitik einzubeziehen hat.


Einige statistische Angaben stellen die Wichtigkeit der Familienpolitik für NRW deutlich vor Augen. Im Lande leben insgesamt rund 6.9 Mio. Familien und zwar in unterschiedlichen Lebensformen. Es gibt die alte Kernfamilie, aber auch Alleinerziehende Eltern, oft auch „Wahlfamilien“. Darüber hinaus sind verschiedene Familienphasen zu berücksichtigen wie auch die Rollenveränderungen im Verhältnis Mann – Frau. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist die heute allgemein geforderte Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Männer und Frauen. Das Positionspapier des MFJFG betont, daß es den meisten Familien in NRW finanziell gut gehe, daß die Leistungen der Familie im allgemeinen hoch sind und die meisten ihre Aufgaben eigenständig und eigenverantwortlich erfüllen. Aber dem gegenüber wird nicht verschwiegen, daß 85.000 Lebensgemeinschaften von Eltern und Kindern von Sozialhilfe leben müssen. 1998 betrug bundesweit der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Zahl der Sozialhilfeempfänger


38 %. Das entspricht knapp einer Million Kinder und Jugendlicher unter 18 Jahren. In Nordrhein-Westfalen waren die unter 15jährigen zu 11,9 % und die 15- bis unter 25jährigen zu 20,8 % auf Hilfen zum Lebensunterhalt angewiesen.


Aus denen im Positionspapier genannten Politikzielen greife ich drei heraus, von denen ich denke, daß sie in besonders enger Relation zur Arbeit von Kirchengemeinden zu sehen sind:


1. Das MFJFG sieht die Notwendigkeit, die Betreuung von Kindern zu sichern und auszubauen und weist in diesem Zusammenhang auf die Kindergartenpolitik sowie auf ergänzende Angebote, zum Beispiel Grundschule von acht bis eins und flexible Angebote der Über-Mittag-Betreuung und der Betreuung am Nachmittag.
Das bedeutet, daß Schule und Kindertagesstätte immer mehr zum Lebensort für Kinder werden. Wie reagieren Kirchengemeinden darauf? Es kann nicht nur darum gehen, eigene Lebensräume zu schaffen, sondern Menschen auch in deren Lebensräumen aufzusuchen. Wie verhält es sich zum Beispiel mit der Wahrnahme der sogenannten Kontaktstunde in der Grundschule? Sie könnte Kontaktfläche zum Lebensraum Schule sein und Ansätze bieten für die Entwicklung einzelner weiterer kirchlicher Arbeitsformen in Kooperation mit dem Lebensraum Schule/Kindertagesstätte.


1. Das Positionspapier fordert, für Familien ein kinder- und familienfreundliches Wohnumfeld zu schaffen. Ein Beispiel, das uns dabei vor Augen stehen dürfte, sind die Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf. Kirchengemeinden sind hier oft vorbildlich in ihrer integrativen, sozialfördernden und umfeldwirksamen Arbeit. Einzelne Spielplatzinitiativen sind da noch das einfachste Beispiel. Auch in der Arbeit der heutigen Preisträger spielen wohnumfeldbezogene und stadtteilbezogene Aktivitäten eine große Rolle.


2. Das MFJFG nimmt sich vor, die sozialen Fähigkeiten der Familie zu stärken und Benachteiligungen abzubauen. Auf seiten kirchengemeindlicher Arbeit entspricht dieser Forderung etwa die Familienbildung, die Familien- und Kindererholung sowie die Erziehungsberatung.
Schon an Hand dieses Ausschnitts aus dem Panorama der Familienpolitik wird deutlich, wie sehr Kirchengemeinden in all den beschriebenen Feldern tätig sind. Sie arbeiten oder können arbeiten: generationsübergreifend und integrierend, sozial-integrativ, lebensumfeldgestaltend, sie machen qualifizierte, auf lebensgestaltende und existentielle Ziele gerichtete Bildungsangebote, sie haben eine ausgedehnte Freizeit und Erholungsarbeit, sie sind kommunikativ und begleitend und können oft frühzeitig beraten und überweisen, zum Beispiel an Erziehungs- und Lebensberatungsstellen usw. Sicher gilt auch hier, das Gemeinden oft die Familienarbeit gar nicht neu entdecken, sondern sie nur neu als Querschnittsaufgabe begreifen müssen. Die vom Positionspapier des MFJFG beschriebene Aufgabe der Vernetzung der vorhandenen Aktivitäten steht für Kirchengemeinden untereinander sowie für Kirchengemeinden und weitere Initiativen von kommunaler Seite oder freien Trägern für die nächste Zeit im Vordergrund der familienpolitischen Aktivitäten.


Bei allem stellt sich natürlich auch die Frage nach den Ressourcen, das heißt, die Frage nach den Menschen und den Mitteln. Beim Studium der Veröffentlichungen aus dem Ministerium NRW war für mich die Frage nach der Finanzierung und der Finanzierbarkeit auch eines der drängendsten Probleme, das leider unbeantwortet blieb. Bei der Weiterbildung im Bereich Lebensgestaltung und Existenzfragen haben wir gefährdende Kürzungen abwenden können. Bei der Novellierung des Gesetzes über die Kindertagesstätten saßen wir im Blick auf knapper werdende Finanzmittel mit Kommunen und Land in einem Boot. Von zusätzlichen Finanzmitteln ist auch jetzt in der Veröffentlichung des Ministeriums nicht die Rede. Vielmehr wird verstärkt auf bürgerschaftliches Engagement gesetzt und partnerschaftliche Gestaltung der Familienpolitik unter Einbeziehung auch der Kirche eingeworben: „Die Familienpolitik des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit kann nur ein Beitrag im System familienbezogener Leistungen der Landesregierung insgesamt sein. Die Kommunen, die Träger der freien Jugendhilfe, die Familienverbände und Kirchen geben der Familienförderung wichtige Impulse und übernehmen viel Verantwortung. Sie sind unverzichtbare Partner in der Familienpolitik, denn die Pluralität in der Familienpolitik ist zugleich ihre Stärke.


Besonders wichtig ist dabei, daß Hilfe und Unterstützung für Familien in diesen Organisationen in vielfältiger Weise auch von ehrenamtlich Tätigen geleistet wird.


Wichtig ist für das Land die konstruktive Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, denn sie bringen ihre Kompetenz und ihr Engagement in den Prozeß ein. Es geht um eine


partnerschaftliche Zusammenarbeit mit allen Verantwortlichen in dem breiten und vielfältigen System der Familienhilfe. Sie muß erhalten und weiterentwickelt werden“ (Seite 29).


Ich denke, durch das praktische Handeln von Kirchengemeinden wird täglich unter Beweis gestellt, daß die Kirchen sich ihrer Verantwortung für die Gestaltung von Familienpolitik bewußt sind. Auch dieser Wettbewerb mit seiner heutigen Preisverleihung zeigt dies deutlich und sagt: Kirche möchte nicht nur dabei sein, sondern sie ist von ihrem Grundauftrag zu einer aktiven Sorge um den Menschen gerade auch in seinen familiären Bezügen verpflichtet. Partnerschaft mit dem Staat ist dabei selbstverständlich.


Allerdings wird dazu dann auch das ständige Ringen um Aufgabenverteilung, Zielsetzungen und Ressourcen gehören.


Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ergibt sich aus der Tatsache, daß der überwiegende Teil der Familienarbeit in Kirchen, aber auch bei vielen anderen freien Trägern von Ehrenamtlichen geleistet wird. Das ehrenamtliche Engagement will, wie wir gehört haben, auch das NRW-Familienministerium fördern. Auch in anderen politischen programmatischen Erklärungen liegt darauf ein starkes Gewicht.


Das müßte dann aber auch gesellschaftspolitische Folgen haben, etwa : Zertifizierung und Anerkennung solcher Tätigkeiten für berufliche Werdegänge; Auslagenersatz und/oder steuerliche Anerkennung geldwerter Leistungen.


Die Ehrenamtlichen dürfen mit ihrer „Ehre“ die oft – wenn überhaupt – nur in einem flüchtigen Dank zum Ausdruck kommt, nicht allein gelassen werden.


Die Evangelische Frauenhilfe hat zusammen mit anderen Verbänden vor drei Jahren eine wertvolle Initiative zur Strukturierung des Ehrenamtes ergriffen. Eine Reihe von kirchlichen Entscheidungsträgern hat sich dem inzwischen angeschlossen. Eine politische Gestaltwerdung dieser Bestrebungen steht noch aus. Auch in dem Programm des MFJFG ist davon (noch) nichts zu lesen.


Wir können in Staat und Kirche der EAF nur dankbar dafür sein, daß sie mit ihrer Arbeit und besonders mit diesem Wettbewerb der Entwicklung der Familienarbeit neue Impulse gegeben hat. Aber ich kann nicht schließen ohne den besonderen Dank an die preisgekrönten und die vielen anderen Kirchengemeinden, die mit ihrer täglichen engagierten und phantasievollen Arbeit vor Ort aus ihrer christlichen Verantwortung Familienarbeit, und das heißt auch „Politik für Familien“, machen.