Sperrfrist: Beginn des Gottesdienstes

 

Predigt von Präses Nikolaus Schneider

über Markus 12, 30 – 31

anlässlich des 50-jährigen Bestehens

der Rheinischen Gesellschaft für Innere Mission und Hilfswerk

am 25. September 2004

in der Christuskirche zu Bonn-Bad Godesberg

 

Gnade und Friede von Gott unserem Vater und von unserem Herrn Jesus Christus sei mit uns allen.

Liebe Gemeinde,

die Rheinische Gesellschaft für Innere Mission und Hilfswerk feiert heute ihr 50-jähriges Bestehen. Dazu überbringe ich Ihnen herzliche Glück- und Segenswünsche im Namen der Kirchenleitung und aller Gemeinden der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Rheinische Gesellschaft, dieser Name steht für diakonische Dienste in der Alten- und Jugendhilfe, dazu das Engagement in der Ausbildung und in der Beratung. Die Rheinische Gesellschaft wirkt mit ihren Einrichtungen in unseren Kirchengemeinden, sie ist mit ihnen verbunden. Die Ausrichtung ihres Dienstes geschieht in der Weise, dass rheinische Kirchengemeinden diesen diakonischen Dienst als ihren kirchlichen Dienst erfahren und annehmen können. Wo die Zusammenarbeit zwischen der Diakonie der Rheinischen Gesellschaft und den Kirchengemeinden gelingt, dort kommen kirchliche Diakonie und diakonische Kirche zusammen.

Das ist nicht selbstverständlich in Zeiten, in denen der durch sich verschärfende ökonomische Rahmenbedingungen vermittelte Druck auf die Arbeit übermächtig zu werden droht. Dass die rheinische Gesellschaft sich nicht auf das erfolgreiche Wirtschaften eines sozialen Dienstleisters reduzieren lässt, hat mit dem inneren Kompass für die Ausrichtung und Durchführung der Arbeit zu tun. Diese inhaltliche Orientierung lässt sich festmachen an einem Ort aus Markus 12, die Verse 30 und 31. Ich lese diesen Text nach der Übersetzung von Nico Terlinden:

"Einer der Schriftgelehrten ging zu Jesus und fragte: Welches Gebot ist das erste von allen Geboten?

Dieser Mann wollte ernsthaft wissen, worauf es Jesus zu Folge im Leben ankommt.

Jesus antwortete:

Das erste Gebot ist das: Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit allen deinen Kräften.

Und das zweite Gebot ist dies:

Du sollst deinen nächsten Lieben, er ist wie du.

Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden."

Der Schriftgelehrte wollte ernsthaft wissen, worauf es Jesus zu Folge im Leben ankommt. Die Antwort Jesus hilft uns, für das Leben der Rheinischen Gesellschaft, aber auch für das Leben unserer Gemeinden Antwort auf die Frage zu geben, worauf es für unser Arbeiten, Leben, Planen und Entscheiden wirklich ankommt.

Die Antwort Jesu auf die Frage des Schriftgelehrten legt den inneren Kompass, die Philosophie des Unternehmens fest.

Grundlegend ist zum ersten unser Bekenntnis, das wesentliche Fundament unseres Glaubens.

Höre Israel, so beginnt das jüdische Glaubensbekenntnis. Jesus hat zwar deutlich seine Bedenken darüber geäußert, in welcher Weise dieses Bekenntnis interpretiert und in Tradition verwandelt wurde. Doch das uralte Bekenntnis steht für ihn fest: Gott ist einzigartig, nichts und niemand darf vergöttlicht werden, der Herr ist Gott, der Herr allein!

Dass wird die Gottheit Gottes anerkennen und ehren, das also ist das tragende Fundament von allem. Denn wenn klar ist, wo Göttliches und Gott selber zu suchen und zu finden sind, dann kann auch Gültiges über den Menschen gesagt werden. Der Mensch ist eben nicht Gott, es eignet ihm keine Göttlichkeit und Menschen dürfen nicht vergötzt, und das heißt vergöttlicht werden. Auf diese Weise können wir in nüchterner und vernünftiger Weise das Maß des Menschlichen bestimmen. Gerade in seinen Grenzen und in seiner Relation zu Gott finden wir einen vernünftigen Zugang zur Bestimmung der Würde des Menschen. Sie besteht gerade nicht in seiner Göttlichkeit, in seinen herausragenden Leistungen oder Fähigkeiten. Es geht nicht um Intellekt oder vollkommene Körperlichkeit.

Die Würde des Menschen besteht darin, dass er ein Geschöpf Gottes ist. Aus seiner Geschöpflichkeit heraus ist auch seine Würde zu achten. Denn die achtende Würde des Menschen ist zugleich Ausdruck der Erfurcht vor dem Schöpfer. Die Göttlichkeit Gottes wird gerade dadurch anerkannt, dass die Würde seiner Geschöpfe, seines Gegenübers und Partners menschliches Handeln und Planen zu besonderer Verantwortung und Achtung herausfordert.

Dieses Bekenntnis des Glaubens ist also die wesentliche Basis für unser Tun. Es gibt nur einen Gott, er ist der Schöpfer, aus ihm leitet sich das Leben und damit auch das Leben eines jeden Menschen ab.

Diesen Gott des Lebens soll der Mensch lieben, und im gleichen Atemzug heißt es zum zweiten, dass der Menschen den Nächsten lieben soll.

Er – der Nächste – ist wie du. Auch er hat seine merkwürdigen Eigenschaften, auch er bedarf der Vergebung. Auch er verlangt nach einem Flecken unter der Sonne, nach Wärme, nach Geborgenheit.

Liebe deinen Nächsten – das hat nichts mit romantischen Aufwallungen oder Gefühlen zu tun. Die Nächstenliebe hat etwas mit Vernunft, Einsicht in Beziehungen und Bereitschaft zur Anstrengung zu tun. Deshalb empfiehlt unser Text eine gute Portion Realismus: Der Nächste ist wie ich. Und meine Merkwürdigkeit, meinen Bedarf an Vergebung kenne ich sehr wohl. Ich bin nicht besser, ihm nicht überlegen. Und eins weiß ich genau: Meinen Nächsten brauche ich zum Leben so notwendig wie die Luft zum Atmen. Denn ohne die Gemeinschaft von Menschen ist Leben überhaupt nicht möglich. Ich und du gehören zusammen.

Die Einsicht in meine engen Grenzen und das Verständnis dafür, dass Leben allein in Gemeinschaft gelingen kann, fordern mich zur Nächstenliebe heraus.

Wie ich ist mein Nächster Geschöpf Gott. Wie ich hat Gott ihm eine unverlierbare Würde beigelegt, die mich zur Achtung, Respekt und Hilfe herausfordern, wenn sie in Frage gestellt oder von meinem Nächsten selbst aus eigener Kraft nicht mehr gelebt werden.

Der Nächste ist wie ich – das fordert mich auch zur Demut heraus. Demut ist die realistische Sicht meiner Selbst verbunden mit dem Mut, meinem Nächsten in allem zu dienen, was er zum Leben nötig hat.

"Welches Gebot ist das erste von allen Geboten?", hatte der Schriftgelehrte gefragt. Nur ein Gebot kann das erste sein, doch es hat zwei Seiten:

Gott lieben und den Nächsten, das eine nicht ohne das andere, und das andere nicht ohne das eine.

Menschen, die dieser Einschätzung zustimmen und diesem höchsten Gebot folgen, werden aus ihrem Glauben heraus verändert. Das tut nicht nur ihnen gut, sondern auch allen Menschen, die mit ihnen verbunden sind. Solche Menschen sind schließlich ein Segen für die Gesellschaft. Das von ihnen ausgehende Licht der Menschlichkeit erleuchtet eine nur allzu oft dunkle Welt. Sie vermitteln dem Leben den entscheidenden Geschmack der Erfurcht vor Gott und der Achtung der Würde eines jeden Menschen, so wie das Salz die Speise bekömmlich macht.

Uwe Seidel hat über solche durch das erste Gebot von allen veränderte und gegründete Menschen das Folgende gesagt:

"Tröstet die Traurigen,

greift den Amen unter die Arme.

Bringt die Einsamen zusammen,

besucht die Kranken.

Ihr bringt die Freude Gottes in ihr Haus –

mit einem Lächeln.

Ihr seid das Licht der Welt.

Verschließt eure Türen den Menschen nicht.

Schließt euch auf für Freund und feind;

Denn eure Liebe hat Hand und Fuß

und ein Gesicht.

Ihr seid das Salz der Erde.

Haltet schützend die Hände über die,

die schwach und elend sind.

Schafft Raum für Freund und Feind.

Bringt ihnen die Freundlichkeit Gottes entgegen.

Ihr seid Gottes Kinder.

Lebt mit neuen Gedanken einen neuen Glauben;

seid ein Echo des Himmels hier auf Erden.

Ihr wandelt das Böse in das Gute.

So werdet ihr zum Spiegel des Himmels."

Amen