Landessynode 2004
Himmel und
Erde werden vergehen;
meine Worte
aber werden nicht vergehen.
(Markus 13,31)
BERICHT
ÜBER DIE FÜR DIE KIRCHE
BEDEUTSAMEN EREIGNISSE
der Landessynode gemäß Artikel 181
der Kirchenordnung erstattet
von
Präses Nikolaus Schneider
Sperrfrist: 12. Januar 2004, 13.00 Uhr
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Gliederung
I. Strukturen und Ordnungen unserer Kirche
I.1 Regionale
Konzentration theologischer Arbeit
I.2 Theologiestudierende
I.3 Vom
"WEG" zu "chrismon plus rheinland"
I.4 Neue
Projekte kirchlichen Lebens
I.4.1 Evaluation des
Gemeindekonzeptionsprozesses
I.4.2 Pilotprojekt
"Verwaltungsberatung"
I.4.3 Ehrenamt und Presbytertag
I.4.4 Airportseelsorge
I.4.5 Wiedereintrittsstellen
I.4.6 Kirchenordnungsreform
I.4.7 Projekt
"Scharfe Gegner"
II. Theologische Äußerungen und Herausforderungen unserer
Kirche, die Ökumene und das Verhältnis Christen/Juden
II.1 Missionarische Kirche
II.2 Diakonische Kirche
II.3 Protestantismus in
Deutschland und Europa
II.3.1 Union Evangelischer Kirchen
II.3.2 Leuenberg
II.4 Evangelisch-katholische
Ökumene
II.4.1 Ökumenischer Kirchentag in Berlin
II.4.2 Comunità di Sant‘Egidio
II.5 Arbeitsgemeinschaft
christlicher Kirchen
II.6 Mission und Entwicklung
II.6.1 Vereinte Evangelische Mission
II.6.2 Namibia
II.6.3 Aidsprojekt
II.7 Christen und Juden
II.7.1 Nes Ammim
II.7.2 Antisemitismus
III. Die
Weltverantwortung unserer Kirche und der Dialog mit dem Islam
III.1 Frieden
und Gerechtigkeit
III.2 Islam
III.3 Solidarität
und Gerechtigkeit
III.3.1 Ländlicher Raum
III.3.2 Aktion 7 x 7 – Kirche für Ausbildung
III.3.3 Zuwanderung und Integration
III.4 Bildung
Schlussbemerkung
Bericht des
Präses
über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse
Hohe Synode,
verehrte Gäste,
liebe Schwestern und Brüder!
"Himmel
und Erde werde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen."
(Markus 13,31) Diese Verheißung Jesu an seine Jüngerschaft und an seine Kirche
ist die Jahreslosung für das vor uns liegende Jahr 2004. Unter diese Worte
möchte ich meinen Präsesbericht stellen.
Man könnte
meinen, Jesus stelle die Vorstellungen von Beständigkeit auf den Kopf. Denn er
stellt dem Himmel und der Erde, den bei der Schöpfung bereiteten Grundfesten,
etwas Flüchtiges gegenüber: Worte, im Augenblick gesprochen und mit Händen
nicht zu greifen.
In
der jüdisch-christlichen Tradition hat das Wort
aber eine andere Bedeutung als "Schall und Rauch" zu sein.
Gottes Wort
erschuf Himmel und Erde.
Gottes Wort
sprach Menschen auf der Basis der Gottesebenbildlichkeit den Auftrag zu, die
Schöpfung zu bebauen und zu bewahren.
Gottes
Wort wurde Fleisch in Jesus von Nazareth. Das unvergängliche Gotteswort nahm
"Knechtsgestalt" an. Es wurde Teil der Vergänglichkeit von Himmel,
Erde und menschlichem Leben. In Jesus Christus hat Gott, der Ewige, die
irdische Vergänglichkeit unter die Verheißung seiner Nähe, Gnade und Liebe
gestellt.
"Himmel
und Erde werden vergehen ...", Strukturen und Ordnungen unserer Kirche
werden vergehen, unsere Systeme gesellschaftlichen, wirtschaftlichen,
politischen und staatlichen Lebens werden vergehen, aber:
Vergänglichkeit
ist aufgrund unseres Glaubens an Gott den Schöpfer nicht identisch mit
Belanglosigkeit und Bedeutungslosigkeit.
Schöpfungsauftrag
und Nachfolge Christi fordern Christinnen und Christen und die christlichen
Kirchen dazu heraus, in Bindung an und im Vertrauen auf das unvergängliche Wort
unter den Bedingungen einer vergänglichen Welt und Kirche zu leben.
Dabei ist Jesus
Christus der Grund und das Zentrum unserer Kirche. Das gilt für den Weg der
Kirche durch die Zeiten hindurch. Deshalb ist auch die vergängliche Gestalt
unserer Evangelischen Kirche im Rheinland nicht rein pragmatisch zu ordnen,
sondern muss sich ebenso wie ihr Zeugnis in der Welt am Wort Gottes ausrichten
und theologisch verantworten.
Unter diesen
Voraussetzungen berichte ich über die Strukturen und Ordnungen unserer Kirche
(I.), über die theologischen Äußerungen und Herausforderungen unserer Kirche
(II.) und über die Weltverantwortung unserer Kirche (III.).
I. Strukturen und Ordnungen unserer Kirche
Jesus
Christus ist der Grund und das Haupt der Evangelischen Kirche im Rheinland. In
seinem Namen erkennen und erfahren wir die Barmherzigkeit Gottes, seine
liebende Zuwendung zu den Menschen und sein Versöhnungsangebot. Dieses
verbindet sich mit dem Anspruch auf unser ganzes Leben als Einzelne und als
Kirche. Deshalb können Strukturen und Ordnungen unserer Evangelischen Kirche
nicht beliebig sein, sondern müssen sich messen und hinterfragen lassen, ob und
inwieweit sie den Aufträgen und Ansprüchen des Wortes Gottes dienen.
Ferner
ist die Diskrepanz zwischen "geglaubter Kirche" und "gelebter
Kirche" nicht zu überwinden: die Strukturen und Ordnungen der
Evangelischen Kirche im Rheinland sind immer auch Teil und Ausdruck der unerlösten
Welt, in der wir leben.
Konkret
heißt das, dass "weltliche Probleme" wie stagnierendes
Wirtschaftswachstum, hohe Arbeitslosigkeit, Überalterung unserer Bevölkerung
auch unser innerkirchliches Leben betreffen.
Auch
die Evangelische Kirche im Rheinland muss sich dem Paradigmenwechsel von
"Wachsen" zu "Stillstehen" bis hin zu
"Schrumpfen" stellen. Wir stehen am Anfang eines Lernprozesses im
Umgang mit zurückgehenden Mitteln und Möglichkeiten. Es muss uns gelingen, dass
die Beratungen der Haushaltspläne nicht zu jährlichen Aufgeregtheiten führen.
Der Veränderungsprozess darf nicht zu "Depressionen“ führen, wenn es um
die notwendige Anpassung des ‚Mantels an dem kleiner werdenden Körper‘ geht.
Unsere
Kirche hatte und hat Abschiede zu organisieren und mit Verlusten zu leben:
Abschiede von Standorten, von Arbeitsfeldern, von bezahlbaren Stellen.
Um
so nötiger war und ist es, uns gegenseitig zu neuen Aufbrüchen und kreativen
Projekten zu ermutigen. Fülle und Gelingen ist auch mit geringeren materiellen
Mitteln möglich; Freude gewinnen wir aus der Gemeinschaft mit Gott und der
Gemeinschaft untereinander. Das gilt auch für eine veränderte äußere Gestalt
der Evangelischen Kirche im Rheinland.
Danken
möchte ich allen, die diese Situation annehmen und sich ihr stellen.
Verantwortliche auf allen Leitungsebenen und Mitarbeitende in Gemeinden,
Kirchenkreisen, Ämtern, Einrichtungen und Werken und im Landeskirchenamt setzen
sich schon geraume Zeit unter "Wehen und Schmerzen", aber auch
kreativ und erfolgreich damit auseinander, die Gestalt unserer Kirche um- und
neu zu bauen. Für Mitarbeitende, die ihren Arbeitsplatz ohne direkten Übergang
in eine neue Tätigkeit verlieren, ist das eine besonders schmerzliche
Erfahrung. Deshalb ist Begleitung und solidarisches Handeln geboten.
Die
Landessynode 2003 hatte dazu weitreichende Beschlüsse gefasst, deren Umsetzung
unverzüglich in Angriff genommen wurde. Vizepräsident Drägert wird dazu
ausführlich berichten. Deshalb reichen an dieser Stelle einige grundsätzliche Anmerkungen.
I.1 Regionale
Konzentration theologischer Arbeit
Die
Evangelische Akademie "Haus der Begegnung" in Mülheim/Ruhr hat am 4.
Dezember 2003 den Abschied vom Standort Mülheim und den Übergang zum neuen
Standort Bad Godesberg vollzogen.
Der Abschied war
geprägt von Wehmut und Schmerz, aber auch von der Erwartung, in
gemeinschaftlicher Nutzung des Hauses und der Dienstleistungsstrukturen des
Pädagogisch-Theologischen Institutes in Bad Godesberg die mit der
Akademiearbeit verbundenen Herausforderungen in angemessener Weise erfüllen zu
können.
Der
Umzug wird mit einer Veränderung der inhaltlichen Konzeption unserer Akademie
verbunden sein. In Bonn ansässige mögliche Kooperationspartner aus den
Arbeitsfeldern "Entwicklung und Frieden" sowie das Gespräch mit dem
Islam, aber auch die Bearbeitung der Europa-Thematik werden zu einer neuen
Akzentuierung der inhaltlichen Ausrichtung beitragen.
Die bisherigen
Gespräche zwischen den Verantwortlichen des Pädagogisch-Theologischen
Institutes und der Akademie erlauben die Zuversicht, dass in Bad Godesberg zwei
selbständige Institutionen unserer Kirche mit eigenem Profil unter dem Dach
eines Hauses mit dem Namen "Haus der Begegnung" einen wesentlichen
Dienst leisten werden.
Wie in Mülheim
gab es auch einen Abschiedsgottesdienst im Predigerseminar Bad Kreuznach am 13.
Dezember 2003.
Die
Zusammenlegung der Predigerseminare in Wuppertal ist durch einen Fusionsvertrag
zum 1. Januar 2004 realisiert worden. Das neue Seminar steht in Trägerschaft
von vier Landeskirchen und trägt den Namen 'Seminar für pastorale Aus- und
Fortbildung Wuppertal'. Es führt die Arbeit des ehemaligen Predigerseminars Bad
Kreuznach und des ehemaligen Reformierten Seminars fort. Ein Basiscurriculum
wurde vereinbart, in dem ehemalige Wuppertaler (Seelsorgeausbildung) und
Kreuznacher Anteile (Reformmodell 'Integriertes pädagogisches Vikariat') zu
einem neuen Ganzen verschmolzen worden sind. Da dies lediglich eine
Ausgangsbasis zu weiteren Reformüberlegungen in Richtung engerer
Kooperationsmöglichkeiten zwischen 1., 2. und durch die Präsenz des
Pastoralkollegs auch der 3. Ausbildungsphase ist, behält das neue Curriculum
einen vorläufigen Charakter.
An der Kirchlichen Hochschule Wuppertal wurden im Rahmen des Aus-
und Fortbildungszentrums Wuppertal folgende Reformen bereits eingeführt:
- Einführung
eines Tutorialsystems in Kooperation mit dem Predigerseminar
Die Studierenden werden in den
ersten Semestern in Lerngruppen
(Tutorials) zusammengefasst und von Assistierenden begleitet, die ihrerseits
vom Predigerseminar pädagogisch und didaktisch begleitet werden.
- Einführung der interdisziplinären Studienwoche
Die
Studienwoche zum Abendmahl ist sehr gut angelaufen und fand gute Resonanz bis
hin zu begeisterten Reaktionen. Ihre große Stärke ist die Interdisziplinarität.
Das Abendmahl wurde aus der Sicht aller Fächer und aller seiner Aspekte
behandelt, u.a. in einem gemeinsamen Seminar von Prof. Kreuzer (AT) und Herrn
D. Bukowski (Predigerseminar). Zahlreiche Teilnehmer/innen kamen von außen,
nicht zuletzt im Rahmen der Fortbildung. An der nächsten Woche zum Thema Gebet
wird auch die VEM beteiligt sein.
- Planung
studiennaher Durchführung von Praktika
Die Auswertungstagungen der
Gemeindepraktika werden künftig in Kooperation von Kirchliche Hochschule (KiHo)
und Gemeindeberatung und Organisationsentwicklung (GMO) begleitet. Dadurch
werden insbesondere Ekklesiologie und Kybernetik deutlich aufeinander bezogen.
- Biblisch-Archäologisches Institut (BAI)
Die neuen, vergrößerten Räume des
BAI wurden im Sommer 2003 mit einer internationalen Fachtagung eröffnet. Am BAI
bewährt sich der vorzügliche Kooperationsvertrag zwischen KiHo und Bergischer
Universität (Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Prüfungen bei
institutioneller Unabhängigkeit) herausragend.
- Gastprofessur, ecumenical leader-ship training, internationale
Vereinbarungen
Durch die Besonderheiten des
Standorts Wuppertal (Nachbarschaft zur Vereinten Evangelischen Mission u.a.)
bot sich an, dem Wunsch der EKD, einen besonderen Schwerpunkt sichtbar zu
machen, u.a. am Paradigma des ökumenischen Profils zu entsprechen, insbesondere
durch eine ökumenische Gastprofessur, die Übernahme des Ecumenical leadership
training in das Vorlesungsverzeichnis der Kirchlichen Hochschule,
Vereinbarungen im internationalen Austausch.
- Frauenforschung / feministische Theologie
Die vor kurzem neu eingerichtete
C1-Stelle wurde in ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit gestärkt, etwa durch eine
öffentliche Antrittsvorlesung von Frau Dr. Globig. Weitere Möglichkeiten der
Kooperation, etwa mit dem Frauenreferat der Evangelischen Kirche im Rheinland
werden entwickelt. Hier leistet die KiHo einen besonderen Beitrag zu den Anforderungen
der neuen Examensordnung, die den Bereich Feministische Theologie, Frauenforschung
verstärkt hat.
- Catholica-Fragen
Zur Förderung von Catholica-Fragen
werden Kooperationsgespräche mit dem Johann-Adam-Möhler-Institut in Paderborn
geführt, das zu einem kostenneutralen
Lehraustausch im Rahmen der Systematischen Theologie bereit wäre, etwa durch
Einbringung konfessioneller 'Fenster' in systematische Vorlesungen oder die
Teilnahme an der Ökumenewoche des Predigerseminars. Dies wäre auch ein guter
Beitrag zu den Anforderungen des Entwurfes der neuen Prüfungsordnung für das 2.
Examen, in dem Catholica-Fragen eine höhere Relevanz zukommen sollen.
- Kooperation mit dem Predigerseminar
Das Wuppertaler Seminar beteiligt
sich bereits lebhaft an den Synergiebildungen, etwa durch Beteiligung am KiHo-Tutorialmodell (s.o.
Pkt. 1), an der Studienwoche (s. o. Pkt.2) oder an gemeinsamen Seminaren. Für
das nächste Semester ist ein Oberseminar in Kooperation von Prof. Klessmann und
Herrn Bukowski zu 'Basistexten der Praktischen Theologie' geplant. Weitere
Ideen sind in der Entwicklung.
- Weitere ‚Bergkooperationen’
Die übrigen (künftigen)
Einrichtungen auf dem Berg haben ihre ausdrückliche Kooperationsbereitschaft
erklärt (Vereinte Evangelische Mission, Gemeindeentwicklung und Missionarische
Dienste, Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kindergottesdienst, Pastoralkolleg,
auch das Bibelwerk u.a.). Da im letzten Jahr umfangreiche organisatorische
Fragen geklärt werden müssen (Umbau, Umzug, logistische Probleme etc.), wurden
die konzeptionellen Überlegungen noch für kurze Zeit zurückgestellt. Das
betrifft sowohl die beabsichtigte Einbindung weiterer kirchlicher
Berufsgruppen, Schulungen Ehrenamtlicher als auch den gesamten Bereich der
Fortbildung.
- Koordinierende "Leitung" des Aus- und
Fortbildungszentrums (AFZ)
Alle Einrichtungen des AFZ bleiben
selbstständig und arbeiten kooperativ zusammen. Als vorläufige
Koordinationsplattform ist ein 'runder Tisch' der Leitenden unter Federführung
des Dezernenten für Aus- und Fortbildung eingerichtet worden.
Durch die skizzierten Projekte beginnt das
"Theologische Aus- und Fortbildungszentrum Wuppertal" (AFZ) sich zu
entwickeln. Die Synodalentscheidung des letzten Jahres hat einen
zukunftssichernden Prozess in Gang gesetzt.
I.2 Theologiestudierende
Zurzeit
stehen 241 Personen in der Liste rheinischer Theologiestudierender. Das sind
nahezu 70 Personen weniger als im Vorjahr. Obwohl wir uns derzeit keine
Gedanken um die Versorgung der Gemeinden machen müssen, hat unser
Ausbildungsdezernat auf Initiative der letzten Landessynode hin mit
Werbemaßnahmen für das Theologiestudium begonnen. Dazu wurde eine Broschüre
erstellt und an die Oberstufen der Gymnasien und Gesamtschulen verteilt.
Daneben wurde Präsenz im Internet, auf Abiturmessen und bei einer Oberstufentagung
gezeigt. In diesem Zusammenhang ist besonders zu erwähnen, dass die
Filmproduktionsgesellschaft "Lichtblicke" für den Sender
"Arte" eine fünfteilige Dokumentation über die Ausbildung zum
Pfarrberuf produzieren will. Drei rheinische Vikarinnen und Vikare sollen dazu
filmisch bis zur Ablegung des 2. Examens begleitet werden.
I.3 Vom "WEG" zu
"chrismon plus rheinland"
Für viele unserer Gemeindeglieder ist seit
Ende des vergangenen Jahres eine wichtige Informationsquelle und ein Bindeglied
zur gesamten rheinischen
Kirche nicht mehr vorhanden: nach 58 Jahren wurde das Erscheinen des
"WEG" als evangelische Wochenzeitung für das Rheinland eingestellt.
Der unter Auflagenschwund leidende "WEG" lag zuletzt noch bei knapp
29.000 verkauften Exemplaren. Das war zu wenig, um wirtschaftlich vertretbar
eine Fortführung dieser Zeitung zu rechtfertigen.
Ausdrücklich möchte ich betonen, dass der
"WEG" nicht an mangelnder journalistischer Qualität gescheitert ist.
Eine unabhängige, eigenständige Kirchengebietspresse geht zu Ende, deren Team
unter der Leitung von Chefredakteur Andreas Krzok und seit Oktober der neuen
Redaktionsleiterin Judith Weber Herausragendes geleistet hat. Nicht zuletzt hat
dieses Team die Übergänge zu "chrismon plus rheinland", den zum 1.
April 2004 folgenden "News-Lettern" und dem "Gemeindebriefangebot"
zu realisieren.
Ich freue mich darüber, dass im Dezember
2003 die 0-Nummer von unserem neuen Monatsmagazin "chrismon plus
rheinland" vorgestellt werden konnte. 110.000 Exemplare wurden gedruckt
und an die Kirchenkreise verteilt. Schon Mitte Dezember war die Nachfrage so groß,
dass die hohe Zahl nicht ausreichte.
Mit "chrismon plus rheinland" soll eine breite
Leserschaft angesprochen und Informationen aus dem Gebiet der rheinischen
Kirche kompetent und ansprechend vermittelt werden. Einige haben bereits
kritisch angemerkt, dass die 32 rheinischen Seiten im 84 Seiten starken Magazin
nicht so ohne weiteres erkennbar seien. Ferner sei die rheinische Farbe zu
blass im Verhältnis zu der von "Chrismon plus". Diese Kritik ist
ernst zu nehmen und in die weiteren Überlegungen einzubeziehen.
Freundlich bitte ich um eine wohlwollende und kritische Begleitung
der ersten Phase dieses neuen Produktes, das als "chrismon plus
rheinland" eine überzeugende Gestalt finden muss.
I.4 Neue Projekte kirchlichen Lebens
Strukturveränderungen sind mehr und anderes
als Sparen. Sie zeugen von der
Lebendigkeit unserer Kirche. Wir passen uns nicht nur an veränderte äußere
Rahmenbedingungen an, wir reagieren auf diese Weise auch auf neue inhaltliche
Herausforderungen. Diese Prozesse sind unumkehrbar und werden uns gut tun als
Voraussetzung weiterer Veränderungsschritte.
I.4.1 Evaluation des
Gemeindekonzeptionsprozesses
In ihrer Sitzung
am 9. Mai 2003 hat die Kirchenleitung beschlossen, grundsätzlich auf eine
Evaluation des laufenden Gemeindekonzeptionsprozesses in der Evangelischen
Kirche im Rheinland zuzugehen. Abteilung II des Landeskirchenamtes wurde mit
der Durchführung beauftragt.
Insbesondere eine Vergabe der Evaluation an die Universität Koblenz-Landau war zu überprüfen. Intensive Beratungen mit der Universität ergaben eine vierjährige Planung der Evaluation mit einem Kostenanteil von etwa 160.000 €, der von der Landeskirche zu tragen wäre.
Angesichts der finanziellen Situation entschied sich die Kirchenleitung am 5. Dezember 2003 gegen die Vergabe an die Universität Koblenz-Landau. Stattdessen wurde der Abteilung II des Landeskirchenamtes in Zusammenarbeit mit der landeskirchlichen Einrichtung Gemeindeberatung und Organisationsentwicklung (GO) der Auftrag erteilt, den Prozess zu evaluieren. Die Auswertung der schon erarbeiteten Konzeptionen soll Aufschluss über die gemeindliche Situation innerhalb der Evangelischen Kirche im Rheinland geben. Um dies zu erreichen, brauchen wir die Mitarbeit der Kirchengemeinden. Unmittelbar nach der Landessynode wird mit der Arbeit begonnen werden, den Kirchenkreisen und Kirchengemeinden wird hierzu zeitnah eine Information zugehen.
I.4.2 Pilotprojekt
"Verwaltungsberatung"
Das
Landeskirchenamt hat im Auftrag der Kirchenleitung vom 1. November 2002 bis 31.
März 2004 das Pilotprojekt Verwaltungsberatung bei der Gemeindeberatung/Organisationsentwicklung
(GO) eingerichtet.
Folgende Ziele wurden dabei anvisiert:
- die 1994 eingestellte Verwaltungsberatung soll auf Anfrage von Kirchenkreisen und Gemeinden wieder eingerichtet werden.
Durch die unmittelbare Zusammenarbeit mit GO sollen Synergie-Effekte erzielt werden.
- Es soll überprüft werden, ob die Arbeitsstrukturen von GO und der Verwaltungsberatung kompatibel sind.
Wenn letzteres der Fall ist, besteht die Chance, dass die Verwaltungsberatung zu einer dauerhaften Einrichtung bei GO wird.
Seit November 2002 wurden 14 Verwaltungsberatungsprozesse begonnen, acht davon sind bereits abgeschlossen. Neben einem Mitarbeiter des Landeskirchenamtes haben dabei sieben nebenberufliche Beraterinnen und Berater und zwei hauptberufliche Berater der GO mit gearbeitet. Daneben wurde das Angebot der Verwaltungsberatung vorgestellt:
- bei der Kirchmeistertagung am 29.10.2002,
- während der Superintendentenkonferenz am 16.06.2003,
- in der Gesamtvereinigung der Mitarbeitervertretung im Juli 2003,
- bei der Mitgliederversammlung des Rheinischen Verbandes der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im evangelisch-kirchlichen Verwaltungsdienst am 01.10.2003,
- in einem Interview für "Kontrovers", Zeitschrift für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Zwischenzeitlich ist das Beratungsteam selbst bei einer Auswertungstagung am 6. Oktober 2003 in Bonn zu einer deutlichen Einschätzung der eigenen Arbeit gekommen.
Alle an der Verwaltungsberatung bisher beteiligen GO-Beraterinnen und GO-Berater empfehlen einmütig, die Verwaltungsberatung fest bei GO zu installieren. Das hauptamtlichen Team der GO schließt sich der Empfehlung an.
Über die
Fortführung des Projektes ist bald zu entscheiden. Ich halte eine
Beschlussfassung allerdings nur unter der Voraussetzung für möglich, dass auch
die Beratenen sich zu ihren Erfahrungen mit der Verwaltungsberatung äußern.
I.4.3 Ehrenamt und Presbytertag
Im
vergangenen Jahr waren mehr als 111.000 Menschen in unserer Kirche freiwillig
engagiert. Danken möchte ich den vielen Ehrenamtlichen, deren Einsatz
sicherstellt, dass wesentliche Arbeitsbereiche in den Gemeinden und kirchlichen
Einrichtungen lebendig gestaltet werden. Viele dieser Arbeitsbereiche können
nur mit ihrer Hilfe erhalten werden.
Eine Gruppe
ehrenamtlich Engagierter möchte ich besonders erwähnen – aus aktuellem Anlass
sozusagen, denn im nächsten Monat finden die Wahlen zu den Presbyterien statt.
Presbyterinnen
und Presbyter leisten der Evangelischen Kirche im Rheinland einen unschätzbar
wertvollen Dienst. Ihr Leitungsdienst ist Ausdruck des besonderen theologischen
Profils der rheinischen Kirche. Gehen wir doch davon aus, dass das
Leitungshandeln Christi in seiner Kirche nicht an ein Weihepriestertum
gemeinsam mit dem päpstlichen Amt gebunden ist. Gottes Geist ist frei in seiner
Bindung an das gesamte Volk Gottes, so dass Leitung – gerade wenn sie dem
Leiten Christi in der Gegenwart seines Geistes Raum geben soll – durch Wahl aus
dem Volk Gottes herausgebildet wird. Unsere Kirchenordnung trägt dem dadurch
Rechnung, dass Leitung unserer Kirche in der Gemeinschaft von Hauptamtlichen
und Ehrenamtlichen, studierten Theologinnen und Theologen und Christenmenschen
aus vielen anderen Berufen und Bereichen gesellschaftlichen Lebens durch Wahlen
erfolgt.
Die
vielfältigen und umfassenden Aufgaben des Presbyteramtes führen viele Menschen
bis an ihre Belastungsgrenzen heran. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen,
dass die Menschen, die in unserer Kirche ehrenamtlich Leitungsverantwortung
wahrnehmen, die notwendige Unterstützung und Bestärkung bekommen. Am 23. April
2005 soll in Bonn ein landeskirchenweiter Tag der Presbyterinnen und Presbyter
stattfinden. Gerade im Rahmen der aktuellen Prozesse in der Evangelischen
Kirche im Rheinland (ich nenne außer den zur Zeit laufenden finanzbedingten
Umstrukturierungen die Arbeit an den Gesamtkonzeptionen gemeindlicher Aufgaben
und das Projekt "Auf Sendung") müssen Presbyterinnen und Presbyter in
der Verantwortung, die ihnen zugemutet wird, auch angeregt und gefördert werden
und Gelegenheit zum "Auftanken" bekommen.
Wir hoffen,
durch einen Tag der Presbyterinnen und Presbyter im Jahre 2005, also knapp ein
Jahr nach den Presbyteriumswahlen, besonders die neu gewählten Presbyterinnen
und Presbyter zu erreichen und ihre Identifikation mit dem neuen Amt und mit
ihrer Kirche zu stärken.
Ich bitte Sie, sich den 23. April 2005 jetzt schon im Kalender vorzumerken und ihn von Veranstaltungen freizuhalten, die Presbyterinnen und Presbyter an der Teilnahme hindern könnten.
I.4.4 Airportseelsorge
Gemäß dem Beschluss der Landessynode 2001 (Nr. 44),
"eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die prüfen soll, ob und auf welche Weise
eine kirchliche Arbeit an Flughäfen geleitstet werden soll", legte die
Arbeitsgruppe "Airportseelsorge" der Kirchenleitung ihren Abschlussbericht
mit dem Vorschlag vor, die Arbeit am Airport Düsseldorf langfristig zu sichern.
Am Airport Düsseldorf versieht Pfarrerin Antje Reichow ihren Dienst, der nicht
nur bei unzähligen Reisenden, sondern auch in der Presse großen Anklang findet.
Nach Beratung in den zuständigen ständigen Ausschüssen, die mehrheitlich eine
dauerhafte Sicherstellung der Arbeit befürworteten, beschloss die
Kirchenleitung, im Jahr 2004 zunächst eine Prioritätendiskussion bezüglich
aller bestehenden Arbeitsgebiete vorzunehmen, um eine endgültige Entscheidung
über eine mögliche finanzielle Absicherung des Dienstes am Airport
Düsseldorf treffen zu können. Der
Landessynode 2005 soll das Ergebnis dieser Beratungen vorgelegt werden. Es muss
gelingen, Strukturbedingungen für einen solchen und ähnliche Dienste zu
schaffen.
I.4.5 Wiedereintrittsstellen
Menschen suchen
aus vielen Gründen neu die Nähe unserer Kirche und erwägen, wieder in sie
einzutreten. Die Synode hat durch eine Veränderung der Kirchenordnung das
Verfahren zum Wiedereintritt vereinfacht, damit das Aufnahmebegehren leichter
zu realisieren ist.
Mittlerweile ist die 10. Wiedereintrittsstelle im Bereich unserer Kirche errichtet worden. Die Zahl der Wiedereintritte nimmt zu. Im Jahr 2002 wurden insgesamt 6.563 Personen aufgenommen, was gegenüber 2001 einer Zunahme von 19 % entspricht. Besonders bemerkenswert ist, dass die Zahl der Aufnahmen durch Wiederaufnahme früher Ausgetretener auf 2.551 (39 %) gestiegen ist.
Die
Wiedereintrittsstellen verzeichnen dabei gute Erfolge. Hier ist die unbürokratische
Aufnahme an fast jedem Werktag möglich. Die Eintrittsstellen sind inzwischen in
Aachen, Bonn, Düsseldorf, Koblenz, Köln, Mönchengladbach-Rheydt, Troisdorf,
Wuppertal-Barmen und Wuppertal-Elberfeld vertreten. Für den Kirchenkreis Bad
Godesberg-Voreifel ist ein rollendes "Kirche(n) Mobil" unterwegs. Die
im Dezember 2002 errichtete Eintrittsstelle in Bonn vermeldet, dass an jedem 2.
Öffnungstag ein Mensch wieder eingetreten sei. 2/3 des betroffenen
Personenkreises seien zwischen 30 und 55 Jahre alt. Der Frauenanteil betrage 54
%.
Es ist
wünschenswert, dass noch viel mehr solcher Wiedereintrittsstellen, von denen es
im Bereich der EKD derzeit 30 gibt, errichtet werden. Sie sind ein zeitgemäßes
und effektives Instrument, Menschen ihre Schwellenängste zu nehmen und
gleichzeitig in einem ernsthaften Verfahren nach Gespräch und Beratung den
Eintritt zu ermöglichen.
Gerne ermuntere
ich dazu, noch viele solcher Eintrittsstellen einzurichten. Die Resonanz darauf
ermutigt und fordert geradezu dazu auf.
I.4.6 Kirchenordnungsreform
Bei
der Landessynode 2003 kündigte Präses Kock im Auftrag der Kirchenleitung
weitere und weitreichende Änderungsabsichten an, die unmittelbar nach der
Synodaltagung von den Kirchenkreisen und Gemeinden beraten werden sollten.
Dabei wurden folgende Aufträge benannt:
- Diskussion und Entscheidung, ob die Kirchenordnung die Möglichkeit der Superintendentin und des Superintendenten im Hauptamt vorsehen soll.
- Erarbeitung rechtlicher Regelungen, die das Leitungshandeln stärken, wenn Kirchenkreise sich neu strukturieren, zusammenarbeiten oder fusionieren wollen.
- Verkleinerung unserer Synoden und Ausschüsse, um unsere finanziellen Ressourcen und die menschliche Arbeitskraft zu schonen.
Die angekündigten Veränderungsüberlegungen wurden im Frühjahr den Presbyterien, den Kreissynoden und landeskirchlichen Ausschüssen zur Beratung vorgelegt.
Hohe
Rücklaufquoten zeugen von hohem Interesse und Engagement aller Beteiligten.
Dafür sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.
Die
Bandbreite der Stellungnahmen reicht von nachdrücklicher Zustimmung bis zu
schroffer Ablehnung. Unsere "presbyterial-synodale Ordnung" findet
sich als Argument bei Befürwortung und Ablehnung der selben Fragen wieder.
Der
bewusst breit angelegte Beratungsprozess sollte die Synode in die Lage
versetzen, die anstehenden Entscheidungen treffen zu können. Mit einer Ausnahme
– der Frage der Zusammensetzung der Presbyterien – ist es aber nicht möglich,
aus den Rückläufen Entscheidungsempfehlungen abzuleiten. Aus diesem Grunde
bittet die Kirchenleitung die Synode um eine "kirchenpolitische"
Diskussion der anstehenden Fragen verbunden mit dem Ziel, konkrete Vorgaben für
die Erarbeitung von Gesetzestexten beschlussmäßig festzulegen. Die
Kirchenleitung sah keine Alternative zu dem ungewöhnlichen Weg einer offenen
Debatte in Ausschüssen und Plenum, ohne vorweg Empfehlungen auszusprechen.
I.4.7 Projekt "Scharfe Gegner"
Aus
dem Bereich der Rheinischen Kirchengeschichte ist der Abschluss eines
Forschungsprojektes anzuzeigen. Vor drei Jahren hatte Präses Kock Ihnen von
einer Initiative berichtet, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, das
Unrechtshandeln des rheinischen Konsistoriums während der NS-Zeit zu
untersuchen. Am 15. Oktober 2003 wurde das Forschungsergebnis anlässlich der
Superintendentenkonferenz in Mülheim der Öffentlichkeit vorgestellt. Nur noch
wenige unmittelbar Betroffene konnten an der Veranstaltung teilnehmen, wohl
aber zahlreiche Nachfahren und Familienangehörige. Professor Jochen-Christoph
Kaiser aus Marburg übernahm die wissenschaftliche Einführung in das vorgelegte
Werk.
Die
Studie der Historikerin Dr. Simone Rauthe trägt den Titel: "Scharfe
Gegner" - die Disziplinierung kirchlicher Mitarbeitender durch das
Evangelische Konsistorium der Rheinprovinz und seine Finanzabteilung von 1933
bis 1945.
Der
Titel greift eine Äußerung des seit 1937 amtierenden Konsistorialpräsidenten
Dr. Walter Koch auf, mit der dieser seine kirchen-politisch missliebigen Gegner
aus den Kreisen der Bekennenden Kirche bedachte. Aber er stand nicht allein.
Die Erforschung der Täterbiografien und Täterstrategien bildet einen
wesentlichen Aspekt des Buches. Deutlich wird die beschämende Geschichte einer
innerkirchlichen Bürokratie, die nach dem Beifall der "weltlichen
Fürsten" (Markus 10, 42) schielt und hierzu auch gern deren Methoden
kopierte. Nach deren Kenntnisnahme ergeben sich kritische Rückfragen an die
Personalübernahmen aus dem Konsistorium in die entstehende Evangelische Kirche
im Rheinland.
Den
Hauptteil der Arbeit bilden die knapp 200 Biogramme von disziplinierten
Theologinnen und Theologen. Auswahlkriterium für diesen Personenkreis war die
Dienstaufsicht des Konsistoriums. Deshalb konnten leider Religionslehrerinnen
und Religionslehrer, andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder auch
Presbyterinnen und Presbyter nicht berücksichtigt werden. Den vielfältigen
Konflikten auf örtlicher Ebene nachzugehen, denen diese Menschen ausgesetzt
waren und ihrer zu gedenken, wird eine Aufgabe für die Zukunft sein.
Die wissenschaftliche Begleitgruppe unter Vorsitz von Pfarrer i.R. Hans-Joachim Barkenings hat sich während des Projektes zu zwölf Arbeitssitzungen getroffen. Intensiv wurde um den Auftrag diskutiert (zu untersuchender Personenkreis; Angemessenheit des Titels u.a.), oft auch miteinander gerungen. Die Studie reiht sich letztlich ein in die bedeutenden zeitgeschichtlichen Untersuchungen zur NS-Zeit, welche die rheinische Kirche seit Anfang der neunziger Jahre angeregt und gefördert hat.
II. Theologische
Äußerungen und Herausforderungen unserer Kirche, die Ökumene und das Verhältnis
Christen/Juden
Gottes beständiges Wort ist
Voraussetzung und Gegenstand aller theologischen Äußerungen unserer Kirche.
Nach unserem Bekenntnis erschöpft sich das "Wort Gottes" nicht in den
uns tradierten biblischen Schriftzeugnissen. Wir bekennen darüber hinaus, dass
Gottes Wort uns in dem lebendigen Herrn Jesus Christus in der Gegenwart des
Heiligen Geistes bewegt und leitet.
So
können sich auch die theologischen Äußerungen und Herausforderungen der Kirche
nicht auf die Pflege und Weitergabe tradierter Dogmen, Bekenntnisse und
Lebensformen beschränken – so wichtig das alles ist, um aus Wurzeln heraus zu
leben und Beheimatung zu ermöglichen.
Vielmehr müssen
wir uns auch in unserer theologischen Arbeit dem "Zeitgeist", d.h.
hier dem Geist Gottes in unserer Zeit stellen. Wahrheit – auch die theologische
Wahrheit – muss sich immer in ihren Konkretionen als richtig erweisen, und zwar
bezogen auf gegenwärtige Situationen und Menschen.
Auch
unsere theologische Identität als rheinische Kirche ist immer wieder neu zu
erklären und fortzuentwickeln. Ihr Wahrheitsanspruch ist nur berechtigt, wenn
er anschlussfähig bleibt für die Wahrheiten der gesamten Kirche Jesu Christi.
Jesus
Christus als das eine Wort Gottes ist nicht allein identisch mit der
jesuanischen Predigt und Lehre. Vielmehr bezeugen wir als Kirche den ganzen
Menschen Jesus von Nazareth - gerade auch in seinem dienenden, diakonischen
Handeln an und für die Menschen - als das inkarnierte Gotteswort. Missionarische
Kirche Jesu Christi ist deshalb immer auch diakonische Kirche, diakonische
Kirche auch missionarische.
Die Evangelische
Kirche im Rheinland weiß sich in ihren theologischen Äußerungen und
Herausforderungen angewiesen und bezogen auf die weltweite ökumenische
Gemeinschaft mit Partnerkirchen. Dabei versteht sie ihr eigenes Zeugnis als
fragmentarischen, aber auch unverwechselbaren Teil der weltweiten Kirche Jesu
Christi. Wir tradieren und pflegen unser "rheinisches Profil" im
Rahmen und nicht auf Kosten des deutschen und europäischen Protestantismus.
Und
wir sind in kritischer Solidarität mit unseren römisch-katholischen und
orthodoxen Schwestern und Brüdern offen für das gemeinsame Zeugnis von der uns
in Jesus Christus erschienenen heilsamen Gnade Gottes.
II.1 Missionarische
Kirche
Die
öffentliche Wahrnehmung vom protestantischen Profil und die Würdigung unserer
Arbeit durch kirchenferne und kirchenkritische Personen entspricht einer
Entwicklung, die ebenso erfreulich wie herausfordernd ist. Das "Spezialengagement
Mission" einzelner Gruppen aus dem Bereich unseres Pietismus, der
landeskirchlichen Gemeinschaften und deren Verbände ist in weiten Teilen zu
einer bewussten Querschnittsaufgabe aller kirchlichen und diakonischen Arbeit
geworden.
Ich begrüße die
Impulse, welche von den volksmissionarischen Ämtern über die
"Missionssynode" der EKD 1999 in Leipzig reichen bis hin zur Arbeit
vor Ort: Glaubenskurse, offene Kirche, Cityarbeit, Airport- und Notfallseelsorge,
Missionale, Gospelkirchentage, Stadtkirchentage und vieles mehr.
Die
Klage von Heinrich Albertz aus den 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, dass
der deutsche Protestantismus seiner Kraft beraubt würde durch die
wechselseitige Ablehnung von sog. Frommen und Liberalen, liegt hinter uns.
Längst sind Gemeindeaufbaukonzepte und Prioritätendiskussionen in den Gemeinden
missionarisch ausgerichtet. Aber nicht nur dort. Es existieren eindrückliche
Aufbrüche konzeptioneller Art: vom gemeinsamen ACK-Missionskonzept bis zur
Lehrgesprächsgruppe "Mission in Europa" der Leuenberger Kirchengemeinschaft.
Auch unsere Mitgliedschaft in der VEM bedarf unter diesem Gesichtspunkt einer
neuer Aufmerksamkeit. Wir erleben eine erfreuliche Entwicklung, die wir verstärken
und vorantreiben.
II.2 Diakonische Kirche
Diakonische
Kirche gibt erfahrbar weiter, was die Zuwendung Gottes konkret bedeutet.
Diakonisches Leben der Kirche ist gesellschaftlich akzeptiert und wird
erwartet, wie Umfragen immer wieder bestätigen. Verstärkt sollten wir dafür
Sorge tragen, dass Diakonie als Lebensform unserer Kirche auch ausdrücklich zur
Sprache gebracht wird. Gemeinden und Diakonie gehen hier besondere Wege, die
wir - ohne unmittelbare landeskirchliche Verantwortung übernehmen zu können -,
zur Kenntnis nehmen sollten. Auf drei grenzüberschreitende Lebensgestalten der
Evangelische Kirche im Rheinland als diakonische Kirche möchte ich Sie
hinweisen und auf eine wichtige Form diakonisch geprägten Gemeindeaufbaus.
- Seit zehn Jahren unterhält das Diakonische Werk der Evangelischen
Kirche im Rheinland mit einigen seiner Mitglieder eine Partnerschaft zum Aufbau
sozialer Arbeit in der Stadt und Region Wologda,
in Russland, etwa 600 km nordöstlich von Moskau gelegen. Diese Partnerschaft
erfolgt in enger Zusammenarbeit mit der Evangelischen Fachhochschule
Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Neben dem Aufbau von Jugend- und
Familien-Strukturen geht es gegenwärtig um den Aufbau eines Familienzentrums der russisch-orthodoxen
Kirche sowie um die Beratung und Begleitung von Sozialstationen in der Stadt
und um die Hospizarbeit in einer orthodoxen Gemeinde. Das Diakonische Werk
Rheinland sieht in dieser Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Aussöhnung und zum
gerechten Miteinander der Völker in Frieden und Freiheit.
- Die Evangelische Kirchengemeinde Wassenberg,
der Kirchenkreis Jülich und die aus der Arbeit der Evangelischen Akademie in
Mülheim hervorgegangene Initiative Pskow haben eine beeindruckende
Behindertenarbeit in der Stadt Pskow
aufgebaut. Neben einer Behindertenschule, der bisher einzigen im gesamten
Russland, konnte Ende September 2003 eine Behindertenwerkstatt durch den
russisch-orthodoxen Erzbischof der Stadt eingesegnet werden. Durch die
jahrelangen Kontakte hat sich ein hervorragendes Arbeitsverhältnis und ein
vertrauensvolles Miteinander mit den Verantwortlichen der Stadt Pskow
entwickelt. Auch die zunächst zögerliche russisch-orthodoxe Kirche unterstützt
mittlerweile diese Projekte.
- Bereits bei den Recherchen nach individuellen Schicksalen im Rahmen
des im Jahre 2002 abgeschlossenen historischen Projektes zum Thema Zwangsarbeit
kam die Frage auf, wie mit den allein schon aus Gründen der Dokumentation
gesuchten Kontakten zu Überlebenden der Zwangsarbeit
in kirchlichen Einrichtungen umgegangen werden sollte.
Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland beschloss unter dem Eindruck erster Zwischenergebnisse am 27. April 2001, über die bereits im Jahre 2000 gezahlte Zustiftung zur Bundesstiftung für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ("Erinnerung, Verantwortung und Zukunft") hinaus ein Begegnungs- und Versöhnungsprojekt zu initiieren, das die Verschleppung hunderttausender Menschen aus den von der deutschen Wehrmacht okkupierten Ländern in Osteuropa in Erinnerung halten, dokumentieren und gleichzeitig Lernfelder für zivilgesellschaftliche Prozesse eröffnen sollte.
Nach ersten
Kontakten mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der
Ukraine, die in kirchlichen bzw. diakonischen Einrichtungen im Rheinland zur
Arbeit gezwungen worden waren, kam es im November 2002 zu einem ersten Treffen
in Kiew. Hier wurde eine Einladung zu einer Rückbegegnung im April 2003 im
Rheinland ausgesprochen.
Der Besuch wurde zum großen Teil von der Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gefördert. Er fand vom 7. bis 14. April 2003 in Düsseldorf, Bad Kreuznach, Ehringshausen, Saarbrücken, Trier, Simmern, Orsoy und Mülheim/Ruhr statt, wobei immer die jeweiligen Arbeitsorte besucht und Treffen mit Jugendlichen in Berufsschulen organisiert wurden.
Die bereits im Vorfeld des Besuches angedachte Weiterarbeit in Form des Aufbaus einer Apotheke und die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Strukturen hat mittlerweile Gestalt gewonnen. Es wurde von der Evangelischen Kirche im Rheinland ein zunächst auf drei Jahre angelegtes Projekt bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) initiiert, das verschiedene Komponenten zum Inhalt hat. Erstens geht es dabei um die Weiterbetreuung der ehemaligen Zwangsarbeiter/innen in der Ukraine, bei denen angesichts der schwierigen gesellschaftlichen Situation psychosoziale Nothilfe (Medikamente etc.) zu leisten ist. Hierfür wird eine Mitarbeiterin von ASF ein Koordinierungsbüro in Kiew aufbauen, das sich mit der dortigen Evangelischen Gemeinde (betreut durch Pfarrer Sacchi von der Ev.-luth. Kirche Bayern) und weiteren Nichtregierungsorganisationen vernetzen soll. Von ASF werden zudem Freiwillige zur Unterstützung der ehemaligen Zwangsarbeiter/-innen eingesetzt, deren Wirken abgestimmt werden muss. Zweitens gibt es im Sommer 2004 ein erstes Sommerlager für deutsche und ukrainische Jugendliche, die auch an gemeinsamen Projekten (z.B. Aufbau eines Altenheims für ehemalige Zwangsarbeiter/-innen) arbeiten sollen. Hieraus sollen weitere Aktivitäten für den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen erwachsen. Neben der Evangelischen Kirche im Rheinland werden sich auch weitere Landeskirchen (Ev.-Luth. Kirche in Bayern, Ev. Kirche Baden, Kirchenprovinz Sachsen) wie wahrscheinlich auch die EKD an diesem Projekt finanziell beteiligen.
- Menschen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zum
deutschen Sprach- und Kulturkreis "in die Heimat" kommen wollen,
haben nach Artikel 116 GG ein Recht dazu; davon haben Hunderttausende Gebrauch
gemacht und tun es immer noch.
Auch unsere Gemeinden tragen einen Gewinn davon, denn mehr als
50 % der Aussiedlerinnen und
Aussiedler geben an, evangelisch zu sein. Über 40.000 Evangelische sind in
den letzten vier Jahren Mitglieder unserer Gemeinden geworden.
In
den Gemeinden sind Ehren- und Hauptamtliche in Kirche und Diakonie engagiert
dabei, die Neubürgerinnen und Neubürger mit den Verhältnissen in der neuen
Heimat vertraut zu machen.
Allerdings
ergeben sich auch Irritationen und Missverständnisse. Neubürger wie
Einheimische unterschätzen die unterschiedliche Mentalität und Tradition, das
andere Zeit-, Geschwindigkeits- und Lebensgefühl. Hier sind Behutsamkeit,
Geduld und Stehvermögen verlangt.
Die evangelische Kirchengemeinde Hilden und unser Schulzentrum in Hilden haben vor Jahren ein interessantes differenziertes Projekt der Partnerschaft mit der Ev.-Luth. Gemeinde in Saratov (Wolga) begonnen.
Jugendliche des Schulzentrums fahren seither regelmäßig in die Wolga-Region und ebenso regelmäßig kommen Jugendliche von dort nach Hilden. Nach den Jugendlichen sind jetzt auch die Erwachsenen einander begegnet. Briefkontakte, Einzelfallhilfen, Studierendenaustausch sind die Folge der Partnerschaft.
Gelernt wird so auf beiden Seiten. Gelernt wird, dass die Welt an der Wolga nach 80 Jahren Kommunismus anders ist als bei uns; gelernt wird, dass der ‚goldene Westen‘ eine Erfindung inszenierter Träume und Sehnsüchte ist. Ein besonders herausragendes Projekt ist das Beraterprojekt ‚FANAL‘ an dem inzwischen Jugendliche aus Hilden, Danzig, Saratov und Lipare teilnehmen und das im Sommer 2005 mit einem Straßen-Theater-Festival in Saratov seinen Höhepunkt erreicht.
Vergleichbar dem Beraterprojekt ist eine Gedenkstätten-Fahrt im Juni 2004 nach Wolgograd, die Jugendliche aus Hilden, Saratov, Samara, Köln und Wolgograd miteinander verbinden wird.
Die
Arbeit mit Aussiedlerinnen und Aussiedlern muss für Horizonte, die sich erst im
Kennenlernen der Ausgangssituation ergeben, geöffnet werden. Dem dienen die
oben beschriebenen Projekte.
Angemessene
Angebote für die Ankommenden in unseren Gemeinden, die den schwierigen Prozess
der Eingewöhnung und Ankunft in der ‚fremden Heimat‘ Deutschland erleichtern
und gestalten sollen, können auf diesem Hintergrund erst entwickelt werden.
II.3 Protestantismus in Deutschland und Europa
II.3.1 Union Evangelischer
Kirchen
Der
deutsche Protestantismus geht mit ersten Schritten auf eine Vereinfachung
seiner Strukturen zu. Eine Woche, nach dem die Bischofskonferenz der
Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) empfohlen hat,
ihr eigenes Kirchenamt in das der Evangelischen Kirche in Deutschland
einzugliedern, wurde am 18. Oktober der erste reale Reformschritt
vollzogen. An diesem Tag trat in Erfurt die Vollkonferenz der Union
Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) zur konstituierenden Sitzung und Wahl
eines Präsidiums zusammen.
Für die Evangelische Kirche der Union ging am 1. Juli 2003 eine fast 200jährige Geschichte zu Ende. An diesem Tag trat die UEK-Grundordnung in Kraft. Die EKU war aus dem 1817 in Preußen vollzogenen Zusammenschluss lutherischer und reformierter Gemeinden entstanden und löste sich nun auf mit dem Ziel "die Einheit der evangelischen Kirche zu fördern". Die Arnoldshainer Konferenz (AKf) wurde dagegen nur knapp 36 Jahre alt.
Zur UEK gehören 14 von insgesamt 24 Landeskirchen der EKD, in denen das lutherisch-reformierte oder unierte Bekenntnis gilt. Insgesamt repräsentiert die UEK mit über 13 Millionen Protestanten etwa die Hälfte der EKD. Als konfessionelles Gegenüber besteht die VELKD mit 8 Mitgliedskirchen und etwa 11 Millionen Lutheranern. Die Kirchen von Oldenburg und Württemberg gehören keiner der beiden Organisationen an, haben aber wie der Reformierte Bund einen Gaststatus bei der UEK.
Der
badische Landesbischof Dr. Ulrich Fischer ist auf der konstituierenden Sitzung
der Vollkonferenz der Union Evangelischer Kirchen in Erfurt zum Vorsitzenden
des Präsidiums gewählt worden. Seine Stellvertreter wurden Vizepräsident Christian
Drägert und der Görlitzer Provinzialpfarrer Dr. Hans Wilhelm Pietz.
In Erfurt wurde
der Wille zur vertieften theologischen und rechtlichen Zusammenarbeit
bekräftigt. Überlegungen zu einer zukünftigen Struktur der EKD, in die nun
gliedkirchliche Zusammenschlüsse integriert werden können, gedeihen und
gewinnen Plausibilität und Überzeugungskraft. Wir müssen daran arbeiten, dass
die provisorische Gestalt der UEK in ihrer jetzigen Form bald überholt sein
wird. Die Notwendigkeit zu weitergehender Zusammenarbeit zwischen den
EKD-Kirchen ist unabweisbar und wird konkrete Gestalt gewinnen. Auch die
lippische, westfälische und rheinische Kirche werden dazu weitere Initiativen
entwickeln.
II.3.2 Leuenberg
Spätestens
seit der Amtszeit von Präses Peter Beier ist der Protestantismus in Europa zu
einem wichtigen Thema unserer Landeskirche geworden. Peter Beier hatte sich
mehrfach in der Öffentlichkeit dazu geäußert. Stellvertretend für viele andere
engagierte Stellungnahmen sei aus seiner Prager Rede von 1995 "Die
Aufgaben der Kirchen in der Zukunft Europas"
zitiert:
"Die
Kirchen sind gut beraten, wenn sie ihre europäischen Interessen nicht
lobbyistisch, sondern in der überzeugenderen Form begründbarer Partnerschaft
wahrnehmen... Andererseits sind die Institutionen der Europäischen Union gut
beraten, wenn sie die Stimmen aus den beiden großen christlichen Traditionen
rechtzeitig zur Kenntnis nehmen... Die Institution Kirche jedenfalls kann sich
weder selbst aus der europäischen Mitverantwortung entlassen noch daraus
entlassen werden."
Besonders enge Partnerschaften in Süd- und Westeuropa unterhält die EKiR mit der Vereinigten Protestantischen Kirche von Belgien, den Waldensern in Italien und der Reformierten Kirche von Frankreich (Eglise Réformée de France, ERF). Mit der ERF verbinden sie seit 1994 zwei Abmachungen über die Tätigkeit von Vikarinnen und Vikaren sowie über die befristete Beschäftigung von Pfarrerinnen und Pfarrern der jeweils anderen Kirche, die zu einem lebhaften Austausch geführt und weitere intensive gemeinsame Vorhaben im Bereich der Aus- und Fortbildung nach sich gezogen haben. Mindestens einmal pro Jahr (abgesehen von den Einladungen zu den jeweiligen Synoden) treffen sich Vertreter der ERF und der EKiR zu intensiven zwei- bis dreitägigen Sitzungen in Paris und Düsseldorf über bilaterale und ökumenische Themen. Die größere europäische Dimension des Protestantismus, der sich sowohl die ERF wie die EKiR verpflichtet fühlen, findet darüber hinaus ihren Ausdruck in den regelmäßigen Kolloquien, die beide Partner mit der CEPPLE (Conférence des Eglises Protestantes des Pays Latins d’Europe/ Konferenz der Protestantischen Kirchen Latein-Europas) durchführen. Mitglieder der CEPPLE sind die Minderheitskirchen in Portugal, Spanien, Italien, Frankreich, Belgien und die protestantischen Kirchen in den französischsprachigen Kantonen der Schweiz. Sie entsenden offizielle Delegierte zu diesen Treffen, bisher in Pau (1994, F), Malaga (1996, E), Palermo (1998, I), Sète (1999, F), Braga (P) und im vergangenen Oktober im italienischen Triest . Hauptsächliche Themen sind Fragen zum Selbstverständnis und zur Fremdwahrnehmung des Minderheitenprotestantismus in Politik und Gesellschaft der jeweiligen Länder und im größeren Kontext der Europäischen Union und ihrer Institutionen, sowie die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Kultur und dem Beitrag der Kirchen zu ihr. Presse und Fernsehen sorgten vor Ort jeweils für ein großes und positives Echo. Die ERF, die CEPPLE und wir sind der Meinung, dass diese enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zum Wohle des Protestantismus in Europa unbedingt fortgesetzt werden muss.
In Ostmitteleuropa sind die Kirchen, mit denen die EKiR besonders verbunden ist, die Evangelisch-Augsburgische Kirche und die Reformierte Kirche in Polen, die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder in der Tschechischen Republik, die Reformierte Christliche Kirche (ungarischer Sprache) in der Slowakischen Republik und die Reformierte Kirche in Ungarn. Regelmäßige Besuche, Gemeindepraktika im Rheinland und Sondervikariate in Polen, Tschechien und Ungarn sowie finanzielle Zuwendungen in beachtlicher Höhe halfen bislang, diese wichtigen Beziehungen zu festigen und zu vertiefen. Dabei erweisen sich das Diakonische Werk Rheinland und das Gustav-Adolf-Werk Rheinland als seit langem bewährte Vermittler, die bei den Partnerkirchen großes Vertrauen genießen. Die Fragen, die mit dem bevorstehenden Beitritt ihrer Länder zur EU auf die Kirchen zukommen, spielen bei diesen Kontakten von Mal zu Mal eine wichtigere Rolle, ebenso wie das neue Verhältnis von Kirche und Staat und die Möglichkeiten (oder Konflikte), die daraus erwachsen. Im Vorfeld wichtiger ökumenischer Ereignisse auf der Ebene von Leuenberg und von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) finden auch Konsultationen statt, um eventuell gemeinsam bestimmte Positionen vertreten zu können.
Die Zeit ist gekommen, die ganze fruchtbare Vielfalt unserer Partnerschaftsbeziehungen in Europa bei einem Treffen sichtbar und erfahrbar zu machen, das im November diesen Jahres in Bonn stattfinden wird. Die Einladungen dazu sind bereits verschickt worden. Wir wollen von unseren Partnern hören, wie sie unsere Beziehungen beurteilen und gemeinsam darüber beraten, welche Schwerpunkte in den kommenden Jahren zu setzen sind, um unsere Zusammenarbeit noch intensiver zu gestalten. Ich verspreche mir von dieser Bonner Konferenz den Beginn eines ebenso spannenden wie anregenden Prozesses, der die ökumenische Dimension unseres kirchlichen Handelns im Horizont Europas wieder verstärkt in das Bewusstsein aller Ebenen der Landeskirche hebt.
In diesem
Zusammenhang erlaube ich mir eine Anmerkung zur Debatte über eine europäische
Verfassung:
1. Es darf nicht unterschätzt werden, welche
langfristigen Konsequenzen aus der Präambel-Formulierung erwachsen. Deshalb ist
die Frage des Gottesbezuges von Bedeutung. Ich plädiere für einen expliziten
Gottesbezug.
2. Die protestantischen Kirchen Europas sind in
dieser Sache nicht einig. Die Eglise Reformée de France z.B. ist dem Laizismus
der Französischen Republik verpflichtet.
3. Die Präambel-Formulierung muss
berücksichtigen, dass die europäische Kultur wesentliche Impulse auch vom
Judentum und durch den Islam empfangen hat. Es darf also keinen christlichen
Alleinvertretungsanspruch geben.
4. Die Verfassungsregelung zur geordneten Zusammenarbeit zwischen
europäischen Institutionen und den Kirchen stellen einen erfreulichen
Fortschritt dar und sind für die alltägliche Arbeit von großer Bedeutung.
II.4 Evangelisch-katholische Ökumene
Ein Rückblick in
die Zeit vor 50 Jahren verdeutlicht, welche enorme Entwicklung das Verhältnis
zwischen römisch-katholischen Diözesen und evangelischen Landeskirchen im Sinne
eines besseren Verständnisses und Miteinanders und gemeinsamen Redens und
Handelns genommen hat. Die gemeinsame Verantwortung für die "Woche für das
Leben" ist neben vielen anderen Projekten in Kirchengemeinden,
Kirchenkreisen und der Landeskirche ein schönes Beispiel ökumenischer Verbundenheit.
Auf diesem Hintergrund ist die Wahrnehmung des Erfreulichen aber auch des
Irritierenden einzuordnen.
II.4.1 Ökumenischer
Kirchentag in Berlin
Ein besonders
bewegendes Ereignis war für viele Menschen in unserem Land der Ökumenische
Kirchentag in Berlin.
Die Zahlen sprechen für sich: fast 200.000 Dauerteilnehmende, 40.000 Mitwirkende, 5.400 Gäste aus 90 Ländern, 2.300 Veranstaltungen, 140.000 Menschen beim zentralen Eröffnungsgottesdienst, 400.000 beim Abend der Begegnung und 200.000 beim Schlussgottesdienst. 2/3 der Teilnehmenden waren Protestanten, 1/3 Katholiken.
Die
Konzentration und Begeisterung, mit denen gesungen, gebetet und theologische
Debatten verfolgt wurden, waren beeindruckend. Dieser Ökumenische Kirchentag
war ein Erfolg.
Darüber hinaus
war die Beobachtung zu machen, wie stark gerade auch die römisch-katholischen
Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem
gemeinsamen Abendmahl fragen. Bei den vielen Diskussionsforen war es für
römisch-katholische Podiumsvertreterinnen und –vertreter nicht leicht, mit den
Lehrvorgaben des Vatikan diese Wünsche abzuwehren. Selbst ökumenische Institute
hatten im Vorfeld des Kirchentages erklärt, eine gastweise gegenseitige
Einladung zum Abendmahl sei theologisch möglich. Irritierend sind deshalb
Disziplinarmaßnahmen gegen Menschen, die öffentlich vollzogen, was an vielen Orten und in vielen Gemeinden in
Deutschland sonntäglich geschieht und dem Bedürfnis vieler Christinnen und
Christen beider großen Konfessionen entspricht.
Im
Bereich unserer Landeskirche ist der emeritierte Theologieprofessor Hasenhüttl
von Maßregelungen betroffen. Auch wenn wir die Einzelheiten der
innerkatholischen Auseinandersetzungen nicht zu bewerten haben, ist es für
unsere Kirche eine schwierige Erfahrung, dass gerade der Vollzug kirchlicher
Gemeinschaft zur Bestrafung führt und mancher ökumenische Standard im
Miteinander der Gemeinden jenseits des offiziell erlaubten von
römisch-katholischer Seite verboten wird.
Allerdings
berichte ich auch gerne, dass der Trierer Bischof Dr. Reinhard Marx mich in
fairer und brüderlicher Weise vor dem öffentlichen Bekanntwerden über sein
Vorgehen informierte und gleichzeitig betonte, dass dies von ihm nicht als ein
Akt gegen die Ökumene verstanden wird.
Von,
wenn auch prominenten, so doch einigen wenigen römisch-katholischen Stimmen
wurde massive Kritik am Ökumenischen Kirchentag geübt. Ich verstehe dies als
Ausdruck des Bedürfnisses nach Abgrenzung zur Festigung der eigenen Kirche.
Diese Haltung erleichtert das ökumenische Miteinander nicht.
Die
Verantwortlichen des Evangelischen Kirchentages und des Katholikentages werden
nun festlegen müssen, ob und wann es einen nächsten ökumenischen Kirchentag
geben wird. Ich begrüße die Fortführung ökumenischer Kirchentage, mache aber
darauf aufmerksam, dass nur eine begrenzte Zahl kirchlicher Großereignisse in
unserem Raum zu verkraften ist: 2005 römisch-katholisches Weltjugendtreffen mit
dem Papst in Köln (und Evangelischer Kirchentag in Hannover), 2006
Katholikentag in Saarbrücken, 2007 Evangelischer Kirchentag in Köln. Die
Planungen für einen weiteren ökumenischen Kirchentag müssen diese Konstellation
berücksichtigen.
Wir
als rheinische Kirche freuen uns jedenfalls darüber, dass wir für den 31.
Deutschen Evangelischen Kirchentag nach Köln im Jahre 2007 einladen dürfen.
Wir
sind aber auch für ein Gespräch darüber offen, schon im Jahre 2007 den nächsten
ökumenischen Kirchentag zu veranstalten.
II.4.2 Comunità di Sant‘Egidio
In diesem Jahr wurde ich zum ersten Mal auf die Comunità di Sant‘Egidio aufmerksam. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Gemeinschaft innerhalb der römisch-katholischen Kirche mit Sitz in Rom, zu der weltweit ca. 40.000 Menschen gehören. Die Mitgliedschaft evangelischer Christinnen und Christen ist möglich. Die Mitglieder der Gemeinschaft treffen sich zu täglicher Bibellese- und -auslegung. Sie wissen sich dem Frieden, der Freundschaft mit den Armen und der Pflege des Märtyrergedenkens verpflichtet. Der Gemeinschaft ist es gelungen, den Frieden in Mosambique durch Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien in Rom zu vermitteln.
Ein besonderes Erlebnis ökumenischer Geschwisterlichkeit wurde mir durch diese Gemeinschaft vermittelt. Am 1. Februar 2003 fand in der Basilika St. Bartholomäus auf einer Tiberinsel in Rom eine eindrucksvoll gestaltete ökumenische Gedächtnisfeier zum Gedenken an den im KZ Buchenwald ermordeten Pfarrer Paul Schneider statt. Neben mir und meiner Frau waren Teilnehmer Kardinal Walter Kaspar, Dr. Ishmael Noko, der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Familienangehörige Paul Schneiders und zahlreiche ökumenische Vertreter römischer Pfarreien.
Von der o.g. Gemeinschaft wurde im September dieses Jahres das Weltfriedensgebet in Aachen veranstaltet. Die Gesprächs- und Diskussionsforen waren vom Geist des Friedens und der Versöhnung bestimmt. Gerne bin ich der Einladung zur Teilnahme gefolgt und habe einen Beitrag (siehe Anlage 2) zum Verständnis der Märtyrerinnen und Märtyrer auf einem der Foren geleistet.
Befremdlich war für mich in diesem Rahmen das Votum, welches Metropolit Kyrill als Vorsitzender des Außenamtes der Russisch-Orthodoxen Kirche bei der Eröffnung abgegeben hat. Er sprach am 7. September von zwei Systemen, die sich nach seiner Einschätzung bedrohen: "Das säkularisierte, humanistische System und das traditionelle religiöse System". Das letztere werde durch die orthodoxe Welt des Ostens sowie durch einen wertgebundenen Islam repräsentiert während das erstere dem individualistischen, liberalistischen Gesellschaftskonzept Westeuropas und Nordamerikas entspräche.
Nach Metropolit Kyrills’s Votum hebe gerade dieses System den "Vorrang des irdischen Lebens über das ewige, den Vorrang der persönlichen Freiheiten und Rechte über die moralischen Anforderungen des Glaubens und der Werte einer religiösen Lebensart" hervor. Diese Entwicklung sei eine unmittelbare Folge protestantischen Gedankenguts. Nach seiner Einschätzung sei "der Protestantismus als solcher aus einem Versuch entstanden …, eine liberale Interpretation der christlichen Botschaft zu geben".
Diese Einschätzung ist historisch falsch. Denn das Verdienst von Martin Luther, Johannes Calvin und ihren Mitstreitern lag doch vor allem darin, dass einer erstarrten und in politischen Interessen verfilzten und verweltlichten Großkirche der Weg in die Wahrheit und Freiheit des Evangeliums gewiesen wurde. Diese Wahrheit und Freiheit sind keine dogmatischen Formeln, sondern werden in jeweiligen, sozialen, historischen und politischen Kontexten spirituell erlebt und gelebt.
Dagegen halte ich, dass die evangelischen Kirchen ein Profil haben, welches die Entwicklung in Europa durch die Verbindung von Reformation und Aufklärung, Freiheit des Denkens und Forschens und persönlicher Verantwortung des Einzelnen entscheidend geprägt und zur Entwicklung einer humanen Gesellschaft beigetragen haben.
II.5 Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen
Die
Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen bietet eine zuverlässige Basis
gemeinsamer Arbeit. Sie war im Jahre 2003 der zentrale Veranstalter des Jahres
der Bibel. 15.000 Kirchengemeinden haben diese Aktion mit Leben erfüllt durch
z.B. Bibelwochen, Bibelkurse, Ausstellungen, Gottesdienste und andere kreative
Aktionen. An der Eröffnung der Bibelbox in Köln war ich beteiligt. Ca. 150.000
Veranstaltungen hatten zur Konsequenz, dass nach einer Emnid-Umfrage für 39 %
der Bundesbürger das Jahr der Bibel ein Begriff war. Unter der Überschrift
"Bibel im kulturellen Gedächtnis" war die Bibel auch Schwerpunktthema
der Trierer Tagung der EKD-Synode 2003. Die lesenswerten Vorträge und Reden
nebst Synodalkundgebung sind Ihnen ausgehändigt worden.
Ich freue mich
über den Erfolg des "Jahres der Bibel" und hoffe, dass die Bibel
nicht nur zum kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft gehört, sondern auch
das aktuelle Denken gründet und bereichert.
Die
nordrhein-westfälische ACK hat mich zweimal zu Begegnungen eingeladen. Der Austausch
mit Geschwistern aus den Freikirchen, der alt-katholischen Kirche, der
römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche unterstrich die
Notwendigkeit, um der Überzeugungskraft des Glaubenszeugnisses willen und nach
der Aufforderung Jesu (Joh. 17, 21: damit sie alle eins seien.) sich unablässig
um weitere Gemeinsamkeit zu bemühen.
Diese
Begegnungen verdeutlichten auch, dass Ablehnungen und Kontroversen der
Vergangenheit dem vertrauensvollen Gespräch und wechselseitigen Respekt
gewichen sind. Unter diesen Voraussetzungen kann auch die Frage angesprochen
werden, dass nach unserem Verständnis der vollen Beteiligung von Frauen an
allen geistlichen Diensten und Ämtern biblische Gründe nicht im Wege stehen.
Abschließend
sei darauf hingewiesen, dass uns mit der methodistischen Kirche in Deutschland
Abendmahlsgemeinschaft verbindet und mit der alt-katholischen Kirche eine
Vereinbarung über „Eucharistische Gastfreundschaft“. Ich habe den Eindruck,
dass dieses Faktum im Leben unserer Gemeinden kaum bewusst ist und wenig
Konkretionen findet. Die Qualität ökumenischer Gemeinschaft muss aber im Leben
der Christinnen und Christen in den Gemeinden erfahren werden, so dass die
Pflege dieser Gemeinschaft neuer Aufmerksamkeit bedarf.
II.6 Mission und Entwicklung
Mission
und Entwicklung gehören zu den markanten Aufgaben der Evangelischen Kirche im
Rheinland, die von den Kirchengemeinden, den Kirchenkreisen und der
Landeskirche engagiert wahrgenommen werden.
II.6.1 Vereinte Evangelische
Mission
Am
10. Januar 1994 hat die Landessynode (Beschluss Nr. 36) die Satzung der
Vereinten Evangelischen Mission ratifiziert und damit die Mitgliedschaft in der
internationalen Missionsgemeinschaft, die 1996 in Bethel feierlich konstituiert
wurde, beschlossen.
10 Jahre nach
unserem Beschluss können wir dankbar feststellen, dass die VEM ihrem Auftrag
treu ist, nämlich:
-
zu
einer anbetenden, lernenden und dienenden Gemeinschaft zusammenzuwachsen,
-
Gaben,
Einsichten und Verantwortung zu teilen,
-
alle
Menschen zu Umkehr und neuem Leben zu rufen, und
-
im
Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung das Reich
Gottes zu bezeugen.
Insbesondere die
Menschenrechtsarbeit der VEM hat ein in der Bundesrepublik auch politisch und
zivilgesellschaftlich anerkanntes Profil gewonnen. Für die Menschen im Kongo,
in Ruanda, in Sri Lanka und Indonesien ist diese Arbeit ein Zeichen der Hoffnung.
Die jährlichen
Aktionen zum Tag der Menschenrechte sind in unseren Gemeinden bekannt. Die
Poster sehen wir allerorten.
Hervorzuheben sind die Bemühungen der VEM, zur Gendergerechtigkeit beizutragen, durch die ökumenischen Wohngemeinschaften und das Ecumenical Leadership Training junge Erwachsene mit dem missionarischen Auftrag vertraut zu machen, mit ökumenischem Liedgut und liturgischen Beiträgen die Missionsgemeinschaft in den Gemeinden zu verankern.
110 kreiskirchliche Partnerschaften im Verbund der VEM haben in den deutschen Mitgliedskirchen viel zum Verständnis anderer spiritueller Traditionen beigetragen.
Die VEM ist unserer Kirche in der Beurteilung wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen eine große Hilfe. Wir erfahren von den Mitgliedskirchen in Afrika und Asien aus erster Hand, welche prekären Folgen die so genannte freie Marktwirtschaft für die Mehrheit der Bevölkerung hat. Wir hören allerdings auch, dass diese Mitgliedskirchen mittlerweile nicht mehr allein transnationale Konzerne und westliche Regierungen kritisieren, sondern gleichermaßen ihre eigenen Regierungen und Wirtschaftseliten. Das mindert nicht unsere im o. g. Beschluss eingegangene Verpflichtung, "angesichts des Gefälles von Reichtum und Macht zwischen Nord und Süd ökumenisches Teilen von Ressourcen und Macht auch über das UiM-Programm hinaus" zu praktizieren.
In diesem Zusammenhang sind die Bemühungen der Abteilung III (Ökumene, Mission, Religionen) zu sehen, die bis dato geleisteten bilateralen Beiträge zur Förderung der Infrastruktur der VEM-Mitgliedskirchen in Afrika und Asien zurückzufahren, um bei knapper werdenden Haushaltsmitteln genügend finanziellen Gestaltungsspielraum für entwicklungspolitische Bildungs- und Lobbyprojekte zu behalten.
Dass dieser Paradigmenwechsel auch irritiert, haben wir 2003 in der Auseinandersetzung mit der Leitung der HKBP erfahren. Sie sieht die bilaterale Hilfe als Zeichen der besonderen Beziehung zwischen HKBP und EKiR. Es ist nicht leicht, unsere Partner davon zu überzeugen, dass nicht nur finanzielle Engpässe, sondern auch konzeptionelle Überlegungen dazu geführt haben, finanzielle Hilfe im Haushalt der VEM zu konzentrieren.
Zu erwähnen ist ferner die intensive Arbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. Über die daraus resultierenden Impulse – z.B. der Wunsch nach korporativer Mitgliedschaft einiger dieser Gemeinden in unserer Kirche, Anfragen an unser kirchliches Leben aus pfingstkirchlicher Perspektive – wird in den kommenden Monaten und Jahren noch ausführlich zu reden sein.
Damit komme ich
zu einigen offenen Fragen:
1.
Welchen
Beitrag leistet die Missionsgemeinschaft zur Auslegung des Wortes Gottes und
zum missionarischen Dienst in Deutschland (neue Bereiche gemeinsamer Mission)?
2.
Wie
werden die mit der Globalisierung einhergehenden wirtschaftlichen,
gesellschaftspolitischen, kulturellen und religiösen Fragen in der VEM
bearbeitet?
3.
Welchen
Beitrag leistet die VEM zu einem realitätsbewussten interreligiösen Dialog?
4.
Was
trägt die VEM zum Verständnis von Diakonie, Seelsorge, kirchenleitendem Handeln
und des Verhältnisses von Kirche und Staat bzw. ethnischen Gruppen bei?
Ich
meine, dass die themenzentrierte Interaktion der Mitgliedskirchen der VEM acht
Jahre nach ihrer Konstituierung und 175 Jahre nach der Gründung der Rheinischen
Missionsgesellschaft pointierter und wirksamer sein könnte. Im Jahr 2006 sollte
der Rat der VEM die Gelegenheit nutzen, die erste Dekade ihres Dienstes zu
evaluieren, um die weitere Arbeit unter zunehmend schwierigen Bedingungen
überzeugend fortsetzen zu können. Der Synode sollte darüber berichtet werden.
II.6.2 Namibia
Genau
heute vor 100 Jahren begann der bewaffnete Widerstand der Herero gegen die Zwangsherrschaft
der deutschen Kolonialverwaltung und gegen die raffgierige Kreditpraxis
deutscher Händler in Namibia. Wir haben davon gestern im Grußwort von Bruder
Kamho gehört und im Filmausschnitt einiges gesehen. Die Nama und Damara
schlossen sich dem Widerstand an.
Die
Reichsregierung antwortete mit einem Vernichtungskrieg, der von der neuesten
Geschichtsforschung als der erste Genozid im 20. Jahrhundert bezeichnet wird.
Die Volkszählung von 1911 zeigt, dass von etwa 80.000 Herero 15.130 und von ca.
20.000 Nama 9.780 überlebt haben. Inhaftierung in Konzentrationslagern,
Landenteignung, Vertreibung, Passgesetze, Zwangsarbeit und eine rassistische
Ehepolitik folgten dem Krieg. Die gegenwärtig immer brisanter werdende
Landfrage ist unmittelbares Ergebnis der Entrechtung der einheimischen
Bevölkerung in Zentral- und Südnamibia.
Die
in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika tätigen Missionare der
Rheinischen Missionsgesellschaft spielten eine zwiespältige Rolle bei der
Durchführung kolonialer Pläne, als Partner beim Abschluss sogenannter
Schutzverträge und als Berater bei der Durchführung kolonialer Programme. Die
Schuld der Mission während der politischen Krise in den Jahren 1904 bis 1908
ist einer nicht schriftgemäßen Neutralität, einem nicht schriftgemäßen
Patriotismus und einer falschen Interpretation der Lehre Luthers von den zwei
Reichen zuzuschreiben. In den kritischsten Augenblicken hat sich die Rheinische
Missionsgesellschaft des Stillschweigens schuldig gemacht, so Dr. Lukas de
Vries.
Erst 1990,
anlässlich der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten Namibias, erwähnte die VEM die
Mitschuld am Genozid; im Jahr 2000 spricht der Ratsvorsitzende Manfred Kock bei
einem Besuch der EKD in Namibia "vom dunkelsten Kapitel in der gemeinsamen
Geschichte Deutschlands und Namibias".
Die Evangelische Kirche im Rheinland hat 1990 durch ein Partnerschaftsabkommen mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Republik Namibia ihre besondere Verantwortung für die Geschichte der Rheinischen Missionsgesellschaft bzw. der Vereinten Evangelischen Mission in Namibia anerkannt und daraus ihre besondere Verantwortung für die Zukunft Namibias und ihrer Kirchen abgeleitet.
"1904 erinnern, versöhnen, gemeinsame Zukunft gestalten" ist das Motto einer namibischen Initiativgruppe, der auch Bischof Kameeta und der deutschsprachige Bischof Keding angehört. Die mit der ELCRN verbundenen Partnerkirchenkreise unserer Kirche, Mitarbeitende der VEM und des Gemeindedienstes für Mission und Ökumene haben gemeinsam mit unserer Abteilung III und in Absprache mit der namibischen Initiativgruppe für das Gedenkjahr 2004 Material für den Unterricht und für Gottesdienste erstellt, das Sie auch hier bekommen können.
Fünf Kirchenkreise haben einen Antrag an die Landessynode gerichtet, mit einer öffentlichen Erklärung Stellung zum Genozid und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen für unsere Kirche, für die VEM und die EKD sowie für unsere Bundesregierung zu beziehen.
Die Archiv- und Museumsstiftung wird anlässlich einer zentralen Veranstaltung am 30. Januar, bei der Sie auch den ganzen Film "Waterberg" sehen können, eine Ausstellung zum Thema eröffnen. Sie hat auch eine Wanderausstellung für die Kirchenkreise und Gemeinden vorbereitet. Im Juli wird mit namibischen Partnern ein Seminar für den südrheinischen Bereich stattfinden.
Das Pastoralkolleg veranstaltet im September mit Pfarrerinnen und Pfarrern der ELCRN in Namibia eine Begegnung zum Thema, und fünf Frauen unserer Kirche werden sich im Frühjahr mit einer Frauengruppe der VEM in Namibia mit der kolonialen Vergangenheit und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein beschäftigen.
Wir wissen dank des Apostels Paulus, dass Versöhnung kein Prozess ist, der von politischen Eliten als Staatsprogramm dekretiert werden kann. Wir sehen in Namibia, dass die aus dem Genozid resultierende Landfrage immer virulenter wird und dass es nicht ausreicht, mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Vergangenheit mehr oder weniger stillschweigend zu begraben. Die Nachkommen der Opfer des Genozids erwarten, dass diese gewürdigt werden. Sie erwarten, dass wir als Glieder des einen Leibes Christi die Wunden der Vergangenheit wahrnehmen und uns im Vertrauen auf Gottes heilende Kraft um eine versöhnte Zukunft bemühen.
Das geht nicht ohne Anerkennung von Schuld und Aufgabe von Privilegien. Der Außenminister unserer Regierung spricht nicht in unserem Namen, wenn er sich anlässlich
seines jüngsten Besuchs in Namibia (Oktober 2003) zwar zur Verantwortung Deutschlands für seine Kolonialgeschichte bekennt, aber eine formelle Entschuldigung für während der deutschen Kolonialherrschaft getanes Unrecht ablehnt, weil diese "entschädigungsrelevant" werden könnte.
Ich hoffe, dass
von der Missionsgemeinschaft VEM 100 Jahre nach Beginn des antikolonialen
Kriegs gegen die Herero, Damara und Nama auch Konsequenzen für die aktuelle
Missionstheologie und -praxis in Ruanda, im Kongo und in Westpapua gezogen
werden.
Ich hoffe aber
auch, dass wir mit unseren jeweiligen Regierungen im Vertrauen auf die
richtungsweisende Kraft des Wortes Gottes deutlicher über unrechte Handels- und
Finanzbeziehungen, über Verletzung von Menschenrechten und über Korruption
reden.
Und ich hoffe
schließlich, dass unsere Bundesregierung mit Unterstützung der VEM, der EKD und
aller, die sich in unserem Land für Namibia engagieren, in der Dekade zur
Überwindung von Gewalt einen effektiven Beitrag zur Lösung der Landfrage
leistet, damit den Menschen Namibias das Schicksal Zimbabwes erspart bleibt.
II.6.3 Aidsprojekt
HIV/Aids ist
eine der größten Herausforderungen für die Kirchen in Afrika und Asien und auch
weltweit zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
"The
Church has got Aids" - "Die Kirche hat Aids" - so formulierte
Bischof Dr. Zephania Kameeta, der Moderator der Vereinten Evangelischen Mission,
schon vor über einem Jahr. Er bezog sich damit auf die Situation in unserer
Partnerkirche der ELCRN (Evangelical Lutheran Church in the Republic of
Namibia).
Dort leben derzeit mehr als 22,5% der Bevölkerung mit dem HIV-Virus. In Namibia wird sich ein Jugendlicher, der im Jahr 2000 15 Jahre alt war, mit einer Wahrscheinlichkeit von 60% in seinem Leben mit dem HIV-Virus infizieren. In unserer Partnerkirche in Namibia gibt es fast keine Familie mehr, in der nicht ein Angehöriger von HIV/Aids betroffen ist. In Botswana, mit deren lutherischer Kirche wir über die VEM ebenfalls verbunden sind, ist die Infektionsrate im letzten Jahr bereits auf fast 39% der Gesamtbevölkerung gestiegen. In beiden Ländern, wie in allen anderen Heimatländern der mit uns durch die VEM verbundenen Partnerkirchen in Afrika und in Asien steigen die Zahlen der Neuinfektionen stetig weiter; eine Wende, wie sie in Uganda bereits eingetreten ist, scheint hier noch nicht in Sicht. In zehn Jahren wird die Lebenserwartung in den meisten Ländern des südlichen Afrikas unter 40 Jahren liegen, wenn es keine einschneidenden Veränderungen gibt. In Botswana liegt die Lebenserwartung bereits bei 39 Jahren.
20 Jahre nach der Entdeckung des Virus werden in Afrika südlich der Sahara die derzeit schlimmsten Folgen der Epidemie sichtbar. Kinder werden zu Aids-Waisen, die Generation der erwerbstätigen und ausgebildeten Menschen zwischen 18 und 45 Jahren ist überproportional betroffen. Unternehmen spüren Mangel an Facharbeiterinnen und Facharbeitern. Das Bruttosozialprodukt der Länder, die nach dem Ende der Kolonialzeit und Apartheid eine eigene Stabilität erreicht hatten, sinkt. Armut, Bereitschaft zu Gewalt, Engpässe im Bildungssystem, erhöhte Ausgaben im Gesundheitswesen - all dies sind nur einige Folgen, die Länder wie Botswana, Namibia, Tansania, Südafrika, Sambia, Mozambique u.a. mehr und mehr betreffen. In Malawi wird bis zum Jahre 2005 die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung an HIV/Aids sterben. 70% der Krankenhauspatienten leiden dort an HIV/Aids.
D. h. nicht nur die Kirche, sondern fast ein ganzer Kontinent hat Aids. Aber auch im Osten Europas steigt die Aidsrate stetig an und auch in Deutschland infizieren sich jährlich ca. 2.000 Menschen neu mit dem HIV-Virus, wobei derzeit die Zahl der Neuinfektionen unter Frauen besonders ansteigt.
Vor
diesem Hintergrund ist die Gründung des Aktionsbündnisses gegen Aids zu sehen,
das maßgeblich sowohl auf die Ecumenical Advocacy Alliance des ÖRK sowie auf
den Besuch einer hochrangigen EKD-Delegation in Südafrika im Dezember 2000
unter Leitung des Ratsvorsitzenden Präses Manfred Kock zurückgeht. Er forderte
damals als Konsequenz von den deutschen Kirchen und Hilfswerken ein wesentlich
stärkeres Engagement gegen Aids. Als Zusammenschluss kirchlicher und nichtkirchlicher
Gruppen und Organisationen der Aids- und Entwicklungszusammenarbeit will nun
das Aktionsbündnis, in dem sich für uns auch die Vereinte Evangelische Mission
besonders engagiert, dafür Sorge tragen, dass der notwendige deutsche Beitrag
zur weltweiten Prävention und Bekämpfung von HIV/Aids geleistet wird.
Ziele des Aktionsbündnisses sind u.a.:
- HIV/Aids zum Thema in der Öffentlichkeit zu machen
- HIV/Aids aus der Tabu-Zone herauszuholen und auch in Deutschland Menschen ein "positives Leben" zu ermöglichen
- die Bundesregierung aufzufordern, ihren notwendigen Beitrag zum Globalfonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, TB und Malaria bereitzustellen
- Wirtschaftsunternehmen darauf anzusprechen, für HIV-Betroffene-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre Familien an den jeweiligen Standorten Verantwortung zu übernehmen,
- auf die Pharma-Industrie einzuwirken, nicht Patentrechtsabkommen höher als das Leben von Menschen zu setzen.
Durch die von der Kirchenleitung beschlossene
Mitträgerschaft des Aktionsbündnisses
gegen Aids will die Evangelische Kirche im Rheinland ihrer Solidarität mit den
Menschen, die von HIV betroffen sind, in der weltweiten Ökumene wie auch bei
uns besonderen Ausdruck geben.
Die
Kirchenleitung hat auch Kirchenkreise und Kirchengemeinden gebeten, sich diesem
Bündnis anzuschließen und das Thema
HIV/Aids auch in ihrer gemeindlichen Arbeit
sowie in ihren Partnerschaftskontakten zum Thema zu machen.
Diese
Bitte möchte ich Ihnen hier noch einmal besonders ans Herz legen.
Darüber hinaus engagiert sich die Evangelische Kirche im Rheinland auch im Rahmen des Landesagenda-Projektes "Agenda 21 NRW". Sie arbeitet zusammen mit der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Lippischen Landeskirche in dem Landesagenda-Projekt "Denn auch die Wirtschaft hat Aids - Kirchen in NRW bewegen Firmen zum Engagement gegen Aids im südlichen Afrika". Der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen Manfred Sorg und ich haben Unternehmen in Nordrhein-Westfalen angefragt, die wirtschaftliche Verbindungen, Tochterunternehmen oder Filialen im südlichen Afrika haben, ob in den jeweiligen Partnerunternehmen schon HIV/Aids-Programme laufen und wie diese gestaltet sind bzw. mit uns gemeinsam neue Projekte und Programme zu entwickeln. Aids-Projekte unserer Partnerkirchen im südlichen Afrika werden in dieses Programm eingeschlossen.
Wir wollen mit Wirtschaftsunternehmen und unseren kirchlichen Partnern im südlichen Afrika zusammen besondere Aids-Hilfe-Projekte entwickeln und fördern, die der besonderen Lebenssituation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im südlichen Afrika gerecht werden und ihre ganzen Familien und ihr Lebensumfeld mit einbeziehen und dabei besonderen Wert auf die seelsorgerliche Begleitung legen.
Noch im ersten Halbjahr 2004 sollen ca. drei Pilotprojekte gestartet werden.
II.7 Christen und Juden
Für
die Evangelische Kirche im Rheinland ist die theologische und praktische Arbeit
über die Bestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden von herausragender
Bedeutung. Vom rheinischen Beschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von
Christen und Juden sind Impulse ausgegangen, die von weiteren Kirchen und der
Leuenberger Kirchengemeinschaft aufgenommen wurden. Im Jahre 2005 werden wir
des Beschlusses nach 25 Jahren gedenken und dem Thema neue Aufmerksamkeit
widmen.
Die Studienstelle Christen
und Juden fördert das "Studium in Israel", hält Kontakte zu
vergleichbaren Dienststellen der EKD und anderer Kirchen, pflegt den Austausch
mit jüdischen Partnerinnen und Partnern in Deutschland und darüber hinaus. Sie
vermittelt vor allem aber Impulse in das Leben unserer Kirche hinein.
II.7.1 Nes Ammim
Das
Projekt Nes Ammim in Israel und der Deutsche Nes Ammim Verein sind im Jahr 2003
40 Jahre alt geworden. Beide sind hervorgegangen aus einem besonderen Bemühen
um die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden. Die
christliche Siedlung in Israel soll Lernen mit gemeinsamer Arbeit und
Zusammenleben, Studium und Teilnahme an der gefährdeten Existenz Israels verbinden.
Das vergangene Jahr war wohl das kritischste in der 40jährigen Geschichte Nes Ammims. Die wirtschaftlichen Konsequenzen der zweiten Intifada in Israel sind auch an Nes Ammim nicht vorübergegangen. Und da auch die unterstützenden Heimatvereine in Europa aufgrund der allgemeinen Wirtschaftslage mit Spendenrückgängen zu kämpfen haben, sind diese nicht mehr in der Lage, immer wieder neue Einbrüche in Nes Ammim Israel auszugleichen.
Im Oktober 2002 hat der internationale Nes Ammim Verein beschlossen, noch eine letzte Anstrengung zu wagen und sich als Ziel gesetzt, am 01. September 2003 ein ausgeglichenes "cash flow" Ergebnis in Nes Ammim zu erreichen, anderenfalls Nes Ammim zu schließen. Dazu wurde ein strenges Sanierungskonzept erarbeitet. Durch enorme Anstrengungen im Dorf Nes Ammim, durch zahlreiche Sparmaßnahmen, konsequente Vermietung leerstehenden Wohnraumes und eine selbst unter den schwierigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in Israel akzeptable Belegung des Gästehauses wurde dieses Ziel erreicht. Darüber hinaus wurde ein Landentwicklungsplan intensiv betrieben. Es gibt inzwischen ein konkretes Angebot, in Nes Ammim Einfamilienhäuser für ältere Menschen zu errichten, die dort selbständig leben aber Serviceleistungen von Nes Ammim in Anspruch nehmen können. Dieses Projekt bietet Nes Ammim mittelfristig die Chance zur finanziellen Unabhängigkeit.
Positiv ist die Zusammenarbeit mit einer internationalen Hotelfachschule aus den Niederlanden, die inzwischen konkrete Formen angenommen hat. Bereits im Sommer 2004 werden die ersten Praktikanten dieser Schule nach Nes Ammim gehen.
Aufgrund der Sparmaßnahmen musste die Zahl der Volontäre in Nes Ammim erheblich reduziert werden. Aber trotzdem und trotz der politischen Lage in Israel gehen immer noch Freiwillige dorthin. Der deutsche Verein hat im Jahr 2003 insgesamt sieben Volontäre nach Israel geschickt, darunter auch zwei ältere Damen, die für zwei Monate an dem Seniorenprogramm teilgenommen haben.
Im Sommer 2003 ist Pfarrer Andreas Grefen, der für fünf Jahre die Studienarbeit in Nes Ammim begleitet hat, in die Evangelische Kirche im Rheinland zurückgekehrt und hat eine Pfarrstelle in Remscheid übernommen. Seine Nachfolgerin in Nes Ammim ist Tatjana Weiß,. eine beurlaubte Pfarrerin aus der Badischen Kirche, die schon seit einiger Zeit in Israel lebt und auch als professionelle Reiseleiterin arbeitet. Dadurch hat sie besondere Kenntnisse und Fähigkeiten, die nun auch Nes Ammim zugute kommen. Künftig können also Reisegruppen, die hoffentlich bald auch aus Europa wieder nach Nes Ammim kommen, von Nes Ammim selbst eine Reiseleitung bekommen.
Im Oktober hat ein Pastoralkolleg der Evangelischen Kirche im Rheinland unter Leitung von Pfarrer Süselbeck und Pfarrerin Kriener in Israel stattgefunden. Es hat für einige Tage Nes Ammim besucht. Wir hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht, denn Nes Ammim ist jetzt auf die Besucher aus unseren Kirchenkreisen und Gemeinden angewiesen. Denn nur so können sich die enormen Anstrengungen des letzten Jahres lohnen und die Chance nicht nur auf Fortbestand, sondern auch auf Erneuerung und Erweiterung der Studienarbeit wahr werden.
Besondere
Aufgabe der Studienarbeit soll in Zukunft die Lehrerfortbildung und dort
insbesondere die gemeinsame Lehrerfortbildung für deutsche und israelische
Lehrer und Lehrerinnen sein. Dieses Programm wird entwickelt in Zusammenarbeit
mit der Gemeinschaft evangelischer Erzieher e.V. (GEE). Im Sommer 2004 soll die
erste Studienwoche dazu in Nes Ammim stattfinden.
Außerdem
ist Nes Ammim ein Ort für Versöhnungsarbeit zwischen jüdischen und arabischen
Israelis. Dazu ist ein besonderes Programm angelaufen, das sehr gut angenommen
wird.
II.7.2 Antisemitismus
Immer
wieder bedrückt uns der Antisemitismus mit seinen alten und neuen Vorurteilen
und Unterstellungen. Über den Fall Hohmann hinaus sind wir als Evangelische
Kirche im Rheinland herausgefordert, auf nach wie vor latent in unserer
Gesellschaft vorhandene Tendenzen zu reagieren. Wir werden an Grundeinsichten
erinnern müssen und angesichts neuer Tendenzen noch einmal deutlich zu
artikulieren haben: Judentum wie Christentum oder Islam stellen
Religionsgemeinschaften dar. Sie sind keine ethnisch definierbare Gruppe in
unserem Land.
Christinnen und
Christen bekennen sich zur Treue Gottes gegenüber seinem Volk Israel. Sie
wissen, dass sie als Kirche der Heidenchristen in seinen Bund durch besonderes
Gnadenhandeln aufgenommen worden sind. Dankbar erkennen sie an, dass die
Gespräche zwischen Judentum und Christentum zu einer freundlichen Entspannung
und schrittweisen wechselseitigen Anerkennung gefunden haben. Trotzdem müssen
wir voller Scham feststellen, dass Jüdinnen und Juden besonders in Deutschland
und Teilen Europas immer wieder Vorurteilen, Hass und Gewalt ausgesetzt sind.
Deshalb sind wir verpflichtet, diesen Tendenzen in jeglicher Form entgegenzuwirken
und das nicht unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern allein zu
überlassen.
III. Die Weltverantwortung
unserer Kirche und der Dialog mit dem Islam
Die
Jahreslosung nimmt ein Gotteswort des Propheten Jesaja auf: "Der Himmel
wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen ..., aber mein
Heil bleibt für immer und meine Gerechtigkeit wird nicht erschüttert“. (Jesaja
51,6)
Heil
und Gerechtigkeit sind also bleibender Auftrag für den Dienst unserer Kirche.
Die bleibende Herausforderung besteht darin, vor Bosheit und Ungerechtigkeit
nicht zu kapitulieren, sondern in der Welt den Geschmack von und die Sehnsucht
nach Heil und Gerechtigkeit für alle Menschen wach zu halten und an deren
Verwirklichung mitzuwirken.
Der
Zuspruch von Gottes Heil aber kann Menschen nur insoweit erreichen, als sie
ihre eigene Unvollkommenheit und Vergänglichkeit erkennen und akzeptieren. Die
Erkenntnis, dass Menschen nicht aus eigenem Entschluss und eigener Kraft sich
selbst erlösen und retten können, aber auch nicht müssen – denn das
Entscheidende ist mit Jesu Kreuz und Auferstehung schon vollbracht -, ist
gleichsam der Mutterboden für das Wort vom Heil. Auf dem Boden einer
realistischen und zuversichtlichen Selbsterkenntnis und Weltsicht schlägt
Gottes ewiges Wort vom Heil Wurzeln, geht es auf und trägt Früchte.
Gerechtigkeit
als eine Voraussetzung menschlichen Lebens in Frieden und Würde ist keine
automatische Folge aus dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte.
Gerechtigkeit muss politisch gewollt und gefördert werden zugunsten der
Unterdrückten, der Benachteiligten, der Kranken und Ausgegrenzten. ‚Lahme
gehen, Blinde sehen, Gefangene werden befreit und den Armen wird das Evangelium
verkündet", das sind nach Jesu Worten die Zeichen für den Anbruch des Gottesreiches.
Es heißt nicht: ‚Reiche können ungehindert ihren Reichtum vermehren, Mächtige
feiern ihre militärischen Erfolge, und die Kirchen verschaffen den Selbstsüchtigen
ein gutes Gewissen.
Unsere Kirche
ist gebunden an Gottes Wort vom Heil und der Gerechtigkeit für alle Menschen.
Sie muss sich deshalb einmischen in Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung, Kultur
und Politik und führt unter diesem Auftrag das Gespräch mit anderen
Weltanschauungen und Religionen.
III.1 Frieden
und Gerechtigkeit
Die Sorge um Frieden
und Gerechtigkeit als beständige biblische Anliegen prägte die letzte Landessynode und das vergangene Jahr. Die
Kundgebung der Landessynode 2003 "Aufstehen für Frieden und Gerechtigkeit",
die entsprechende Öffentlichkeitsaktion und der zentrale Gottesdienst in der
Düsseldorfer Johanneskirche am 27. Januar wurden stark beachtet. Das klare
"Nein" unserer Kirche zum Krieg gegen den Irak provozierte aber auch
die Frage nach der eigenen Standortbestimmung und nach dem Leitbild des
„Gerechten Friedens“ als Ziel christlicher Friedensethik, gerade nachdem dieser
Krieg doch geführt wurde.
Zur Erinnerung: Das Ende der atomaren Ost-West-Konfrontation und die Auseinandersetzungen auf dem Balkan veranlassten die Landessynode 1993 zu der Veröffentlichung "Glaube hat eine Wahl", um mit ihrer Hilfe Friedensgespräche in den Gemeinden zu vertiefen. Mit der Feststellung der vorrangigen Option für die Gewaltfreiheit wurde die alte Lehre vom gerechten Krieg ad acta gelegt. Dies geschah im Bewusstsein, dass um des Evangeliums und der eigenen Glaubwürdigkeit willen immer auch ein eigenes klares Friedenszeugnis zu geben und politische Handlungsspielräume aufzuzeigen sind.
Wir
bleiben dabei: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Aber wir müssen erneut
erkennen, dass Kriegsdrohung, militärische Gewalt und Kriege wieder und
weiterhin als Mittel der Politik akzeptiert und angewandt werden. Die Militär-
und Sicherheitsstrategien der NATO und vor allem der USA wurden erweitert; heute gelten Kriterien wie Prävention, Rohstoffsicherung, vorbeugende
Erstschläge. Nüchtern müssen wir feststellen, dass Gewaltanwendung zur
Problemlösung der Vorzug gegeben wird zu Lasten der Weiterentwicklung und
Stärkung umfassender Rechtsordnungen. Dass staatliche Gewalt ohne Untersuchung
und Gerichtsverfahren zur Tötung von Menschen eingesetzt wird, die etwa
terroristischer Verbrechen beschuldigt werden, kann nur als eminenter
zivilisatorischer Rückschritt bezeichnet werden.
Die Kriege der vergangenen 10 Jahre haben gelegentlich dazu verleitet , die kirchliche Forderung nach der Überwindung von Krieg bzw. nach der Herstellung einer Kultur der Gewaltfreiheit als Illusion zu disqualifizieren. Andererseits hat sich in unserem kirchlichen Bereich die Frage nach der Legitimation militärischer Gewalt verschärft. Das Recht zur Anwendung militärischer Gewalt als "ultima ratio" wird zunehmend kritisch hinterfragt. Längst ist deutlich geworden, dass die Kriterien der "ultima ratio" dehnbar und unscharf sein können.
Der UN-Sicherheitsrat hat den Krieg der USA gegen den Irak nicht legitimiert. Die USA haben sich über völkerrechtliche Kriterien bewusst hinweg gesetzt. Dass Saddam Hussein schließlich ergriffen wurde, kann diesen Krieg, der mit bewusster Fehlinformation der weltweiten Öffentlichkeit begonnen wurde, nicht nachträglich rechtfertigen.
Ich halte es für notwendig, dass die Bedingungen und Kontexte militärischer Gewalt zunächst analysiert, die Perspektive der Betroffenen vor allem in den Mittelpunkt gestellt und die Konsequenzen für sie klar benannt werden.
Das geplante, jedoch mangels Beteiligung nicht stattgefundene Tschetschenien-Forum hatte diesen Ansatz. Hier geht es um einen in der Öffentlichkeit fast vergessenen, nur schwer zu begreifenden und mit terroristischen Mitteln geführten Krieg mit ungezählten Opfern. Über 200 000 Flüchtlinge aus Tschetschenien vegetieren in erbärmlichen Lagern in Inguschetien.
Welchen Einfluss haben also ökonomische Interessen unter globalisierten Bedingungen auf innerstaatliche und zwischenstaatliche Konflikte?
Welche Kräfte bereiten einen Nährboden für terroristische Gewalt?
Die führende Weltmacht hat sich mit der Nationalen Sicherheitsstrategie vom 20.9. 2002 das Recht auf präventive und intervenierende Maßnahmen selbst erteilt und damit international geltende, multilaterale Ordnungen wie die UN-Charta geschwächt. Was gilt noch das Prinzip der friedlichen Konfliktlösung, wenn das gewaltförmige Austragen von Konflikten oder der präventive Krieg gegen den Terror gegen geltendes Völkerrecht durchgesetzt wird? Und wie wollen wir damit umgehen, wenn die Bundeswehr verstärkt an internationalen Militäreinsätzen beteiligt wird? Wieweit tragen die dafür angegebenen humanitäre Gründe?
(Für den 18. März ist ein Friedensethisches Forum geplant, das sich u.a. mit Fragen des Unilateralismus und des Terrorismus auseinandersetzen wird.)
In
vielen Diskussionen, auch in Fachgesprächen zwischen Kirchenleitung und
Gruppen im Konziliaren Prozess, haben wir ein international tragfähiges
Völkerrecht gefordert. Wir dachten darüber nach, wie ein an die UN gebundenes
"Weltinnenrecht" geschaffen werden kann oder welche Chancen etwa
"die Transformation des Kriegsvölkerrechts in ein internationales
Polizeirecht" (Horst Scheffler) haben könnte, um im Konfliktfall Gewalt
einzuhegen oder zu verhindern.
Zweitens
ist grundsätzlich zu klären, wie in den globalen Prozessen unserer Zeit
Strukturen unter dem Leitbild Gerechtigkeit geschaffen oder verstärkt werden
können, z.B. über die Ordnung der Finanzmärkte oder durch Schuldenerlass für
überschuldete Länder. Wir sollten uns an der Arbeit der „Sozialforen“
beteiligen, informiert sein über „Attac“ im Zusammenhang mit der „Tobin-Steuer“
und alle Bemühungen um ein „Wirtschaften für das Leben“ unterstützen.
Drittens müssen
wir diese beiden Aspekte vordringlich beziehen auf die in unserer Kirche
festgestellte "prima ratio", also die gezielte Konflikt- und
Gewaltprävention sowie die professionelle zivile Konfliktbearbeitung.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf die aktive Förderung der Friedensfachdienste, auf die Projektförderung im Rahmen der Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt und auf den von unserer Kirche 2003 veranstalteten Grundkurs in Ziviler Konfliktbearbeitung in Zusammenarbeit mit dem Oekumenischen Dienst/Schalomdiakonat.
Zu den globalen, gewaltförmigen Phänomenen unserer Zeit gehören das wachsende Nord-Süd-Gefälle, Armutsstrukturen, internationale Flüchtlingsströme, HIV/Aids in Afrika und Asien. Auch hier sind wir als Kirche gefragt, denn wir sind die "global players" in der Nachfolge Jesu Christi. Wir orientieren uns an der Gewaltfreiheit Jesu, wenn wir hartnäckig dafür eintreten, die Fragen von Frieden und Gerechtigkeit zusammen zu bringen.
Als eine "Kirche des Gerechten Friedens" versteht sich unsere Partnerkirche United Church of Christ USA. Im Dialog mit ihr schärfen wir unser Verständnis dafür, dass Gerechter Frieden ein offener, dynamischer Prozess ist - ein verbindliches Leitbild für Gottes Volk, das aufgeschlossen und kritisch in der heutigen Zeit unterwegs ist.
Schwerpunktland
für die Dekade zur Überwindung von Gewalt ist in diesem Jahr die USA. Das ist
eine besondere Herausforderung für die UCC, aber auch für uns: die vielen Begegnungen zwischen unseren beiden Kirchen
auf allen Ebenen tragen entscheidend
dazu bei, das "andere Amerika" zu entdecken, das für Gerechtigkeit,
für ein multilaterales Demokratieverständnis und für die Abschaffung der
Todesstrafe im eigenen Land eintritt.
Pfarrerin Virginia Pych ist nach zweijähriger Arbeit in Hoerstgen/KK Moers in die UCC zurückgekehrt. Seit September 2003 findet ein "echter" Austausch zwischen Pfarrer Claus Jörg Richter aus Hennef und Pastor Joseph Hedden aus Lebanon/Penn Central Conference statt. Im April führt das Pastoralkolleg eine Studienreise in die Southern Conference in Verbindung mit einer friedensethischen Tagung durch. Ich verbinde die Teilnahme an der Tagung mit Besuchen des National Office der UCC in Cleveland, der beiden Partner Conferences und der Sitzung der UCC-UEK-Working Group. Zur Bekämpfung des Terrorismus wurden aber auch in unserem Land neue Maßnahmen der inneren Sicherheit eingeführt: z.B. Ausweitung polizeilicher Befugnisse, Rasterfahndungen, verschärfte Zuwanderungsbestimmungen sowie die "Out-Off-Area-Einsätze" der Bundeswehr, die letztlich ihre Veränderung zu einer flexiblen Einsatzarmee vorantreiben.
III.2 Islam
Das
Gespräch mit dem Islam ist in unserem Land nicht allein wegen der großen und
weiter wachsenden Zahl der Muslime notwendig. Das bessere Verstehen religiöser
und kultureller Hintergründe dient dem Verständnis des Verhaltens, der Norm-
und Begriffswelt der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Aus dem
Verstehen kann Akzeptanz und Toleranz erwachsen, vor allem, wenn es gelingt,
Gemeinsames und Ähnliches zu entdecken und Andersartiges in den je eigenen
Kontext einzuordnen.
Ich halte es für
einen Fortschritt, wenn im Dialog auch kritische Fragen gestellt werden können.
Dazu gehören etwa die Verständigung über das Schriftverständnis. Denn es ist
entscheidend für das Gespräch, ob etwa der Koran als Wort für Wort von Gott
diktiert verstanden wird oder nicht.
Auch über das
Verständnis des Märtyrerbegriffs muss gestritten werden. Menschen, die sich
selber in die Luft sprengen, um andere mit in den Tod zu reißen oder zu
verletzen, können nach christlichem Verständnis keine Märtyrer sein. Sie
begehen vielmehr ein schlimmes Verbrechen.
Dazu gehört vor
allem die Nachfrage, inwieweit unsere muslimischen Gesprächspartnerinnen und
–partner in Bindung an ihren Glauben die Normen des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland akzeptieren und mittragen können. Die Stichworte
dazu sind z.B. "Geltung der Sharia" oder auch "Würde und Rechte
von Frauen". In diesem Kontext möchte ich auf den sog. Kopftuchstreit
eingehen.
Das
im September des vergangenen Jahres vom Bundesverfassungsgericht erlassene
Urteil zum Tragen eines Kopftuches einer Muslima als Lehrerin im Schuldienst
des Landes Baden-Württemberg hat die öffentliche Diskussion stark beeinflusst.
Auffallend war, dass dabei die beamtenrechtlichen Hintergründe dieses Urteils
weniger beachtet wurden als die damit zusammenhängenden Fragen nach der
Neutralitätspflicht des Staates, nach der Religionsfreiheit und nach dem
Zusammenleben in einer deutschen Gesellschaft, die zunehmend multikulturell
wird. Obwohl die Bedeutung des Kopftuches in der islamischen Welt in der
umfangreichen Urteilsbegründung nur in Ansätzen ergründet wurde, ist aber doch
deutlich gemacht worden, dass es sich hier nicht nur um ein individuelles
religiöses Zeichen handelt. Vielmehr ist auch der politische Hintergrund stets
mit zu beachten. Ich folge dabei nicht der Ansicht, dass das Kopftuch der
Muslima generell ein Zeichen für einen fundamentalistisch orientierten Islam
ist. Aber die fehlende Gleichberechtigung von Frauen in der islamischen Kultur
ist – trotz einiger besonders hier in Deutschland vorgetragener gegenteiliger
Stimmen – Anlass, das Kopftuch auch als Zeichen der Diskriminierung von Frauen
zu verstehen.
Gerade
nach der ökumenischen Dekade "Kirche in Solidarität mit den Frauen"
haben wir allen Grund, der öffentlichen Demonstration religiös begründeter
Zurücksetzung im Namen des Staates Bundesrepublik Deutschland entgegenzutreten.
Vermutungen in diese Richtung werden dadurch genährt, dass hinter der klagenden
Lehrerin – so etwa die Recherche von Alice Schwarzer – islamistische Verbände
stehen.
Zu
simpel scheint mir eine laizistische Problemlösung zu sein, die alle religiösen
Symbole aus dem öffentlichen, von staatlicher Autorität geprägten Raum
verbannen will. Denn authentische religiöse Identität, die mit den Grundnormen
unserer Verfassung übereinstimmt, gehört zu den Grundlagen staatlicher Ordnung,
die der Staat selbst nicht schaffen kann.
Das
Bundesverfassungsgericht hat dem Urteil einen Leitsatz vorgestellt: "Der
mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann
für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes
religiöser Bezüge in der Schule sein." Ich sehe darin ein Signal für die
Notwendigkeit, unsere eigene Identität als evangelische Kirche und die
Bedeutung des christlichen Glaubens für unsere Gesellschaft deutlich zu
formulieren. Dabei haben wir den grundlegenden Unterschied zwischen Kreuz und
Kopftuch inhaltlich zu begründen und herauszustellen.
III.3 Solidarität und Gerechtigkeit
Unter
den Leitbegriffen Solidarität und Gerechtigkeit wurde das gemeinsame
Wirtschafts- und Sozialwort der deutschen Bischofskonferenz und des Rates der
EKD formuliert. Diese grundsätzliche Ausrichtung bleibt verpflichtend bei
allem, was zur sozial-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Thematik zu
sagen ist.
Auf fast allen
Ebenen unseres landeskirchlichen Handelns erleben wir eine Krise, die von den
katastrophalen Haushaltslagen in den Gemeinden, Bundesländern und im Bund
hervorgerufen wird.
Dabei
ist eine Veränderung der bedrückenden gesellschaftlichen Rahmendaten noch nicht
in Sicht: Die Zahl der Arbeitslosen im Dezember 2003 lag bei 4,35 Mio., um die
Finanzierung der Krankheitskosten und der Renten wird im Dauerstreit gerungen.
Die Folgen der neuen Arbeitsmarktpolitik sind noch nicht zu übersehen. Sie
dürfen das effektive und über Jahre gewachsene Netz unserer Hilfs- und
Fördereinrichtungen für Arbeitslose nicht zerstören. Leider erreiche mich
Nachrichten darüber, dass Initiativen gefährdet sind oder aufgeben müssen. Es
ist nicht nachvollziehbar, dass bestehende Strukturen zerstört werden, bevor
Alternativen geschaffen wurden. Nach meiner Überzeugung müssen Brüche vermieden
und Übergänge gestaltet werden. Und eins ist ganz deutlich: zusätzlicher Druck
auf Arbeitslose schafft keine neuen Stellen. Der Mangel an Arbeitsplätzen ist
und bleibt das Kernproblem.
Ich
bin davon überzeugt, dass den meisten Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern
allein schon aufgrund der demographischen Entwicklung die Tatsache einleuchtet,
dass es zu spürbaren Veränderungen kommen muss. Verdruss und Ärger wird dadurch
hervorgerufen, dass einleuchtende Konzepte zumindest mittelfristiger Dauer
fehlen. Es entsteht der Eindruck des – zum Teil auch noch unfachmännischen –
Abdichtens einzelner Finanzlöcher, bei dem sofort die Frage aufkommt: Welches
Finanzierungsloch tut sich als nächstes auf?
Das Vertrauen in
die Zuverlässigkeit staatlichen Handelns wird so erschüttert. Die Probleme
vertragen keine akademische oder rein machttaktische Behandlung, denn mangelnde
Perspektiven und Vertrauensverlust können sich zu einer Gefahr für das
demokratische Staatswesen entwickeln.
Die
Verantwortlichen einiger Bundesländer nehmen Kürzungen und Streichungen in
Bereichen gemeinsamer Finanzierung öffentlicher Aufgaben vor. Dadurch stehen
ganze Arbeitsfelder zur Disposition: die Beratungsarbeit im Bereich Erziehung
und für Familien, die Trägerschaft für Schulen und Kindergärten, die engagierte
Jugendarbeit in vielfältiger Form, um nur einige Bereiche zu benennen. Bei
allem Verständnis für die Dramatik der öffentlichen Finanzen: Wer durch
Kürzungen Co‑Finanzierungen wegbrechen lässt, provoziert in den
Pflichtbereichen staatlichen Handelns höhere Kosten!
Ärgerlich
wird die Debatte, wenn unsere Kirche als Subventionsempfängerin dargestellt
und ihr enormer finanzieller und ideeller Beitrag zur Sicherstellung
gesellschaftlich notwendiger Arbeit unterschlagen wird.
Beunruhigend ist
es schließlich festzustellen, dass das Subsidiaritätsprinzip als
Ordnungsinstrument staatlichen Handelns an Bedeutung verliert.
Das
Prinzip der Subsidiarität verpflichtet den Staat dazu, Aufgabenwahrnehmung
durch gesellschaftliche Träger zu ermöglichen und zu finanzieren. Dabei geht es
um gesellschaftliche Partizipation und demokratische Wahrnehmung von
Verantwortung und Rechten. Ein Abrücken von diesem Grundprinzip dient weder der
Stärkung des demokratischen Bewusstseins noch dem partizipatorischen Handeln in
unserem Land.
Die Kommission
für gesellschaftliche Fragen der Deutschen Bischöfe hat einen Impulstext für
eine langfristig angelegte Reformpolitik mit dem Titel "Das Soziale neu
denken" vorgelegt. Es geht dabei vor allem darum, die strukturellen
Blockaden langfristiger Reformpolitik zu benennen, Wege zu ihrer Überwindung aufzuzeigen
und leitende Prinzipien wieder in den Blick zu nehmen, um zu einer integralen
"Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land" zu kommen. Ich kann
diese Studien im einzelnen nicht vortragen und bewerten, will daraus aber
beispielhaft zwei einleuchtende Überlegungen vortragen:
- 'Bisher war das Verständnis von
Sozialpolitik im wesentlichen auf Verteilungspolitik verengt. Das verhalf
organisierten und gut formulierten partikularen Interessen zur Dominanz.
Ausgeblendet wird dabei, dass Familien-, aber auch Bildungs- und
Berufsbildungspolitik zukunftsorientierte Bereiche einer sozialen
Gesellschaftspolitik sind. Neues politisches Denken und Handeln muss diese
Bereiche als Querschnittsaufgabe zur Förderung des Gemeinwohls mit einbeziehen.‘
Diese notwendige
Ausweitung der Perspektive darf aber nicht die grundlegende Bedeutung der
Verteilungsgerechtigkeit vernachlässigen. Das gilt besonders in einer
Situation, in der über Lohn- und Gehaltserhöhungen von 1,4 % debattiert, die
Bezüge von Vorständen aber um 30 % oder noch mehr erhöht werden;
Personalentlassungen zu Kurssteigerungen der Aktien führen oder ein Einzelner
ca. 30 Mio. Euro nach einer verlorenen Übernahmeabwehrschlacht kassiert.
- 'Die ökonomische Leistungsfähigkeit unserer
Gesellschaft darf nicht das einzige Ziel der Reformen sein. Selbstverantwortung
und Solidarität, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit müssen gleichermaßen als
Maßstäbe angelegt werden. "Wenn wir die Option für die Armen, die
Ausgeschlossenen in unserer Gesellschaft, ernst nehmen", – so Kardinal Lehmann
– "dann müssen wir in der Weiterentwicklung des Sozialstaates und bei
allen Reformbemühungen auch diejenigen zu Wort kommen lassen, die sich sonst
nicht artikulieren können. Wir müssen insbesondere die Interessen der
zukünftigen Generationen in den Prozess einbringen und so allen Reformen eine
langfristige Perspektive geben. In diesem Sinne muss das Soziale neu gedacht werden.“‘
Dem kann ich nur zustimmen.
Die Förderung der Familien in allen ihren Erscheinungsformen, die Vereinbarkeit
von Berufsarbeit und Familie für Frauen und Männer sind von entscheidender
Bedeutung für unsere Gesellschaft. Im übrigen plädiere ich dafür, das
gemeinsame Wort auch gemeinsam angesichts der aktuellen Herausforderungen
fortzuschreiben.
III.3.1 Ländlicher Raum
Der Agrarministerratsbeschluss
vom 29. Juni 2003 in Luxemburg mit der Einläutung einer grundlegenden Reform
der gemeinsamen Agrarpolitik konnte die
Verunsicherung auf den Höfen nicht mindern.
Ausgleichszahlungen sollen künftig produktionsunabhängig und wohl noch mehr als bisher verwaltungsaufwendig gewährt werden. Auch national fürchtet die Landwirtschaft weiterhin harte Einschnitte mit den im Haushaltsbegleitgesetz vorgeschlagenen Kürzungen beim Agrardiesel und bei der landwirtschaftlichen Krankenkasse. Bei sinkenden Beitragszahlern werden die Kosten für den Einzelbetrieb bzw. für Betriebsinhaber der Kleinbetriebe zur Existenzbedrohung. Junge Menschen sehen auf den Höfen für sich keine Zukunft mehr und sind immer weniger bereit, diese verantwortungsvolle Arbeit der Eltern zu übernehmen. Der tiefgreifende Strukturwandel in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum kommt nicht zur Ruhe.
Auf der Suche
nach Werte- und Zukunftsorientierung ist Kirche stark angefragt. Dabei ist das
Verbraucherinteresse an gesunden Lebensmitteln geschärft.
Zum Erntedanktag in Limbach im Kirchenkreis an Nahe und Glan konnten wir als Kirche Zeichen der Ermutigung setzen, um der sich unter Bäuerinnen und Bauern ausbreitenden Resignation entgegenzuwirken.
An die tausend Menschen kamen bei großem Medieninteresse lokaler und überörtlicher Presse wie des Fernsehens in das 360 Einwohner zählende Dorf mit seinen 260 evangelischen Gemeindegliedern unter der Überschrift: "Mein ist das Land, denn Gäste und Beisassen seid ihr bei mir" spricht der Herr (3. Mose 25,13) zusammen. Nach dem Gottesdienst in der prall besetzten Gründerzeitkirche bekam ich am Nachmittag in der öffentlichen Diskussion mit dem Staatssekretär des Bundesinnenministeriums, verschiedenen Landtagsabgeordneten, dem Vertreter des Landwirtschaftsministeriums, Verbandsbürgermeistern und Bürgermeistern der umliegenden Orte, Vertretern und Vertretrinnen der Landwirtschaftskammer, des Bauernverbandes, Landfrauenverbandes, verschiedener Kirchenkreise, vielen Bäuerinnen und Bauern ein lebendiges Bild über die Nöte zwischen Hunsrück und Pfalz vermittelt.
Ermutigend für mich war, dass Kirche hier offensichtlich als wichtiger Gesprächspartner in der Öffentlichkeit gefragt ist und auch junge Menschen mobilisieren kann.
Die Gesprächsthemen, mögliche "Entwicklungen der Region" und "Kirche auf dem Land", bringen die hohe Erwartung mit sich, dass wir uns als evangelische Christen nicht nur begleitend sondern auch gestalterisch an der Zukunft im ländlichen Raum beteiligen statt uns etwa, wie z.T. befürchtet, zurückzuziehen. Eine Konsequenz könnte sein, dass wir in der Ausbildung Theologinnen und Theologen für den Dienst im ländlichen Raum noch stärker qualifizieren und vorbereiten.
Das
Thema "Einen anderen Lebensstil probieren", eine Initiative des Kirchenkreises
Moers, setzte ein Signal für den Brückenschlag zwischen Verbraucherinnen und
Verbrauchern mit der Landwirtschaft im Blick auf einen schöpfungsgerechten
Umgang mit Pflanzen und Tieren im Lebensmittelsektor.
Mit dem symbolischen Beginn der Bepflanzung einer Allee im Nachbarort Hundsbach mit drei Linden, die mittlerweile in Eigenleistung um fast 100 Bäume ergänzt wurde, haben wir mit der Kirchengemeinde nachhaltig ein bleibendes Hoffnungssymbol auf Zukunft hin gesetzt.
Der Nachklang am Abend in der Weinbaugemeinde Norheim wurde mit dem Setzen einer Rebe in einem Weinberg, dem Gästebuch von Gastland Nahe, mit der Deutschen Weinkönigin Judith Hohenrath, Studentin der katholischen Theologie, als Zeichen der Ökumene verstanden. Im Vordergrund der Gespräche hier standen die beiden urchristlichen Symbole, Brot und Wein.
Die tiefe Bedeutung von Symbolik erschließt sich mir noch einmal neu im Blick auf ihre Qualität und Herkunft: Es kann uns auch im Gottesdienst nicht gleich sein, unter welchen Bedingungen Wein und Brot auf den Tisch kommen.
Die Tischgemeinschaft mit unserem Herrn schließt nicht nur die kommunizierende Gemeinde durch alle Zeiten ein, sondern auch die Menschen, denen wir gleichsam unser täglich Brot verdanken.
III.3.2 Aktion 7 x 7 – Kirche für Ausbildung
Nach Angaben der
Bundesanstalt für Arbeit standen kurz vor Beginn des Ausbildungsjahres am 1.
August 2003 ca. 70.000 Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland, davon
30.000 allein in Nordrhein-Westfalen, nach ihrer Schulausbildung ohne Ausbildungsplatz
da.
Es ist ein fatales Signal für junge Menschen, wenn sie die Erfahrung machen, dass ihre Mitarbeit in unserer Gesellschaft nicht willkommen ist. Ferner ist – und das ist den Jugendlichen durchaus bewusst – Bildung und Ausbildung das wichtigste Kapital, um
- die Zukunft bewältigen zu können,
- eine angemessene Position in unserer Gesellschaft zu erlangen,
- sich aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens beteiligen zu können und
- die eigene Persönlichkeit weiter entwickeln und entfalten zu können.
Der Kirche wird häufig vorgeworfen, dass sie sich
über negative Zustände oder Entwicklungen in der Gesellschaft beklage, ohne
sich aber in der Praxis selbst an der Verbesserung der Zustände zu beteiligen.
Natürlich stehen uns – gerade in der jetzigen finanziellen Situation – dazu nur
sehr beschränkt Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung. Aber dennoch hat die
Kirchenleitung im Juli 2003 beschlossen, in dieser auch für die Zukunft der
Gesellschaft wichtigen Frage beispielhaft tätig zu werden. Sie stellte 500.000
Euro zur Verfügung.
In der öffentlichen Debatte zur Lehrstellensituation war – wenn auch nicht unumstritten – zu hören, dass viele, vor allem kleine Unternehmen und Handwerksbetriebe, keine Ausbildungsplätze einrichten, weil die Ausbildung für sie nicht finanzierbar sei. Dieses Argument aufnehmend hat die Kirchenleitung beschlossen, einen Betrag von 500.000 Euro zur Förderung der Einrichtung von Ausbildungsplätzen bereit zu stellen.
Ziel unserer Aktion war, in 7 Regionen, in denen das Verhältnis von Ausbildungsplätzen und Bewerbern besonders ungünstig war, jeweils mindestens 7 zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Diese Regionen lagen überwiegend im Ruhrgebiet, aber auch im Süden unserer Landeskirche, in Trier und Bad Kreuznach.
Es war bis zum Beginn des Ausbildungsjahres nur wenig Zeit zur Verfügung. Ich bin stolz darauf, dass es durch das hohe Engagement vieler Mitarbeitender im Landeskirchenamt, insbesondere aber auch in den 7 Regionen gelungen ist, diese Aktion erfolgreich durchzuführen.
Wir haben bewusst und unserer presbyterial-synodalen Ordnung entsprechend, die Verhandlungen mit den Handwerkskammern, der Industrie- und Handelskammer und den Arbeitsverwaltungen den der zuständigen Superintendenten anvertraut, um sicherzustellen, dass Ausbildungsstellen im Bereich von Kirche und Diakonie oder in der Kirche nahestehenden Betrieben geschaffen wurden. Das war in den betreffenden Kirchenkreisen – und gerade während der Urlaubszeit – mit einem enormen zusätzlichen Aufwand neben der täglichen Arbeit verbunden. Dafür noch einmal meinen herzlichen Dank an die Beteiligten.
Jeder Ausbildungsplatz, der zusätzlich errichtet werden konnte, wurde mit einem Betrag von max. 10.000,- Euro gefördert. Mit diesem Förderbetrag werden je nach Ausbildungsberuf bis zu 30 % der Bruttovergütung einer oder eines Auszubildenden finanziert.
Durch
Verknüpfung mit anderen Förderprogrammen oder weil – angeregt durch unsere
Aktion – zusätzliche Ausbildungsplätze ohne Förderung eingerichtet worden sind,
haben wir es geschafft, statt der angestrebten 49 Ausbildungsplätze tatsächlich
70 Ausbildungsplätze zusätzlich einzurichten und damit 70 Jugendlichen eine
Lebensperspektive zu geben!
So wichtig wie die Aufgabe ist, so schwer fällt es
uns, 500.000 Euro dafür zur Verfügung zu stellen. Wir versuchen daher, einen
möglichst hohen Betrag durch die Einwerbung von Spenden zu refinanzieren. Neben
regelmäßigen Presseveröffentlichungen und einer starken Internetpräsenz haben
wir nacheinander verschiedene Zielgruppen angeschrieben und um Spenden gebeten.
Neben einer sehr großzügigen Spende der KD-Bank in Höhe von 100.000 Euro ist es
gelungen, in den wenigen zur Verfügung stehenden Monaten, mit Hilfe von über
700 Einzelspendern, eine Summe von weiteren über 100.000 Euro zusammenzubekommen,
insgesamt derzeit also über 200.000 Euro. Die Spendenaktion wird weitergeführt
und ich bitte Sie herzlich, auch in Ihrem Umfeld noch einmal dafür zu werben.
III.3.3 Zuwanderung und Integration
Am 24. September 2003 begann das Vermittlungsverfahren
über den Entwurf des Zuwanderungsgesetzes. Bei der Neuregelung des Zuwanderungsrechts
sollte nach kirchlicher Auffassung die volle Geltung der Genfer
Flüchtlingskonvention sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention
sichergestellt werden. Die Kirchen haben folgende Kernforderungen:
- Einführung
einer gesetzlichen Härtefallregelung, die es in besonders gelagerten Fällen
gestatten soll, von den Voraussetzungen für die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis abzuweichen.
Erfahrungsgemäß führt die Anwendung des geltenden Asyl- und Ausländerrechts immer wieder zu Härten, die mit dem bestehenden Instrumentarium nicht zu beseitigen sind. Es ist damit zu rechnen, dass auch bei einer Rechtsänderung derartige Härten auftreten werden. Die Verwaltung bedarf daher eines Instruments, um Einzelfällen angemessen Rechnung tragen zu können.
Eine gesetzliche Härtefallregelung könnte den Entscheidungsspielraum der Behörden erweitern und ein Aufenthaltsrecht in den Fällen ermöglichen, in denen nach geltendem Recht die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht zulässig wäre. Personen, denen nach der Rückkehr in ihre Heimat eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes oder eine Re-Traumatisierung droht, die u.U. zu sozialer Isolation und Arbeitsunfähigkeit führen kann, ist ein Bleiberecht aus humanitären Gründen einzuräumen. Dies ist Ausdruck unserer völkerrechtlich bindenden humanitären Verpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Schließlich könnte eine gesetzliche Härtefallregelung eine Basis für begünstigende Entscheidungen in den Fällen bieten, in denen dringende humanitäre oder persönliche Gründe für einen Rechtsanspruch auf einen Aufenthaltstitel allein nicht ausreichen. Weiterhin gäbe eine gesetzliche Härtefallregelung die Möglichkeit, Art. 6 GG, die grundrechtliche Verpflichtung zum Schutz von Ehe und Familie, zu berücksichtigen, wenn es darum geht, Familienangehörigen, Ehepartnern oder Kindern der Betroffenen ein Bleiberecht zu erteilen.
Die schon bisher in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin tätigen Härtefallkommissionen zeigen, dass ihr Wirken erfolgreich ist und keine zusätzlichen Verzögerungen mit sich bringt. Die Empfehlungen der Härtefallkommissionen werden von den Ausländerbehörden in der überwiegenden Anzahl der Fälle übernommen.
- Erteilung eines rechtmäßigen
Aufenthaltstitels an Opfer nichtstaatlicher Verfolgung, denn diese erhalten
bisher regelmäßig nur eine Duldung; die Duldung ist kein rechtmäßiger
Aufenthaltstitel.
Nichtstaatliche Verfolgung ist ein Tatbestand, der eine Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention nach sich zieht. Dieses ist die Auffassung des UNHCR und der Mehrzahl der europäischen Staaten. Das gleiche Ergebnis hat auch eine öffentliche Anhörung des Bundestagsausschusses für Menschenrechte in der 14. Legislaturperiode erbracht.
Opfer nichtstaatlicher Verfolgung dürfen nach geltendem Recht nicht abgeschoben werden. Zumeist erhalten sie den prekären Status der Duldung, der oftmals über Jahre hinweg verlängert wird. Dieser Nicht-Aufenthaltstitel erschwert die Integration (erschwerter Zugang zum Arbeitsmarkt, kein Zugang zu Bildung und Ausbildung für Jugendliche, keine Familienzusammenführung, reduzierter Sozialhilfebezug).
Bei der Reform des Zuwanderungsrechts muss deshalb durch die ausdrückliche Anerkennung der nichtstaatlichen Verfolgung als Asyltatbestand eine rechtliche Besserstellung für Menschen erreicht werden, die nach deutschem Ausländerrecht ohnehin nicht abgeschoben werden dürfen.
- Abschaffung der Kettenduldungen und
Überführung in einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus, insbesondere bei
dauerhaften Abschiebehindernissen.
Es ist humanitär nicht hinnehmbar, wenn Ausländer, die absehbar auf geraume Zeit nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, weil ihnen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, über Jahre hinweg im Status der Duldung und damit in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit belassen werden. Dies ist auch unter Integrationsgesichtspunkten kontraproduktiv. Menschen, die sich über mehrere Jahre in Deutschland aufhalten und die ihr Abschiebehindernis nicht zu vertreten haben, müssen Rechtssicherheit über ihren Aufenthalt erhalten, um sich zu integrieren.
Die Kirchen setzen sich für ein Aufenthaltsrecht vornehmlich derjenigen Ausländer ein, bei denen nach geltendem Recht ein Rechtsanspruch auf Duldung besteht, weil ihnen Verletzungen von Rechten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention drohen (derzeit § 53 AuslG). Es ist humanitär geboten, Menschen, die solchen existentiellen Gefahren ausgesetzt sind, einen sicheren Aufenthaltsstatus zu verleihen, der ihnen hilft, das Erlebte zu verarbeiten und in Deutschland bestmöglich Fuß zu fassen. Wichtig ist neben der Möglichkeit der Aufenthaltsverfestigung vor allem der Zugang zu Erwerbstätigkeit, schulischer und beruflicher Ausbildung sowie die Möglichkeit der Herstellung der Familieneinheit.
Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen lediglich kurzzeitige Abschiebungshindernisse bestehen, weil beispielsweise vorübergehend keine Flugverbindungen ins Herkunftsland existieren, Ausweispapiere beschafft werden müssen, ein Schuljahr in Deutschland abgeschlossen werden soll, eine medizinische Behandlung zu Ende zu führen ist oder einer Schwangeren die Heimreise nicht zumutbar ist. In solchen und ähnlich gelagerten Fällen ist es aus Sicht der Kirchen nicht unbedingt geboten, von vornherein dauerhafte Aufenthaltsrechte zu erteilen.
Das
Vermittlungsverfahren ist noch im Gange. Mitte Januar 2004 geht es weiter. Zu
hoffen bleibt, dass sich Koalition und Opposition im Jahr 2004 auf ein
Zuwanderungsgesetz verständigen, dass auch deutliche Konturen für ein
Integrationskonzept mit der entsprechenden finanziellen Ausstattung beinhaltet.
III.4 Bildung
Das Thema
Bildung bekommt endlich wieder den gebührenden Stellenwert in unserer
Gesellschaft. Wir sind eine Wissensgesellschaft geworden. Aber wir verhalten
uns nicht danach. Deswegen stehen im Grunde alle klassischen
Bildungsinstitutionen gegenwärtig auf dem Prüfstand. Wir haben den Schock noch
zu überwinden, der uns getroffen hat, als die Ergebnisse internationaler
Vergleichsstudien an die Öffentlichkeit kamen. Plötzlich wurde vielen klar:
Unser Land wird wirtschaftlich abgehängt, wenn wir nicht in Bildung
investieren.
Bildungsarbeit
gehört zu den klassischen Arbeitsfeldern der Kirche auf allen Ebenen. Wenn wir
verbunden bleiben wollen mit unserer Quelle, der Heiligen Schrift, dann werden
wir immer lernende Kirche bleiben müssen. Das Studium der Heiligen Schrift ist
auch Bildungsarbeit.
Bildung
ist mehr als nur Wissen oder Erfahrensein im Alltagshandeln. Wir müssen den
Wissens- und den Bildungsbegriff größer und umfangreicher denken, als dies oft
geschieht. Denn es geht bei Bildung immer um beides: Weltwissen und
Lebenswissen. Es geht darum, in unserem Denken und Tun "Maße des
Menschlichen" zu finden. Ich bin dem Rat der EKD dankbar, dass er eine
Denkschrift mit diesem Titel in die öffentliche Bildungsdiskussion eingebracht
hat. Ich sage deutlich: Nicht der allein ist gebildet, der viel weiß, Klassiker
zitieren und der mit Handlungswissen in Talkshows glänzen kann. Als
evangelische Kirche können wir nur sagen: Der ist gebildet, der sein Wissen und
Können, seine Gaben und Begabungen dafür ausbildet, dass das Maß des
Menschlichen in dieser Gesellschaft nicht verloren geht. Dieses Maß steht oft
auf dem Prüfstand oder besser noch auf des Messers Schneide.
Was haben wir
als Kirche zu tun?
1. Wir haben mit unserer Bildungsarbeit
Gelegenheiten zu geben, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene Maße des
Menschlichen entdecken. Und das tun wir in der Jugendarbeit und in unseren
Schulen, in Kindergärten und in der Konfirmandenarbeit, in der Frauenhilfe und
im Männerkreis. Das tun wir, damit Menschen sich entsprechend bilden und
Verantwortung übernehmen können.
2. Wir machen exemplarische Bildungsangebote. Wir
können nicht alles machen, aber wir können zeigen, welche Bildungsimpulse vom
Evangelium ausgehen. Wir wollen erkennbar bleiben und laden andere ein, mit uns
zu lernen.
3. Wir wollen Partner sein in der öffentlichen
Verantwortung für Bildung. Bildung braucht Partnerschaften und Bündnisse. Wer
dazu nicht bereit ist, handelt unverantwortlich gegenüber der nachwachsenden
Generation. Eltern, die sich nicht kümmern um das Lernen ihrer Kinder, handeln
unverantwortlich. Unsere Kinder müssen mehr wissen, als je zuvor. Sie müssen
sich einstellen auf neues Wissen und neue Erkenntnisse und Anforderungen. Die
Beschleunigung ist groß. Man darf sie nicht alleine lassen. Deswegen leisten
wir unsere Beiträge, wenn es heißt: früh lernen, Schule gestalten, Menschen
aufschließen für Verantwortung.
4. Wir teilen mit anderen öffentliche
Verantwortung und nehmen öffentliche Aufgaben in Bildung und Erziehung wahr.
Das tun wir besonders in Schulen und Kindergärten, also den klassischen
Bildungsinstitutionen. Aber wir tun es eben auch z.B. in der Jugendarbeit und
in anderen Gemeindekreisen. Unsere Beiträge sind unverwechselbar: Leben in der
Ökumene, in der einen Welt; Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung,
Versöhnung mit Israel; an Schuld nicht scheitern.
Was können wir nicht
akzeptieren?
1. Wir können nicht akzeptieren, dass wir als Partner gesucht werden
und wenn es wirklich ernst wird, links liegen gelassen werden. Von dieser Art
müssen wir Maßnahmen der Haushaltsentscheidungen für den Doppelhaushalt
2004/2005 in NRW wahrnehmen. Warum sonst bürdet man z.B. kirchlichen Trägern
von Schulen mehr Eigenleistungen auf unter gleichzeitiger Behauptung: Bei
Schulen werde nicht gespart? Wir nehmen mit unseren Schulen öffentliche
Aufgaben wahr. Wir nehmen der staatlichen Seite Aufgaben der Schulaufsicht und
der Verwaltung ab und tragen enorme Leistungen für den Erhalt der Gebäude.
Zwischenzeitlich wurde die Mehrbelastung halbiert und auf ein Jahr begrenzt.
diese Veränderung nehme ich als freundliche Geste wahr. Allerdings ist die
Begründung dieser Maßnahme nicht einsichtig, weil bis auf einen einmaligen
Griff in unsere Kasse kein nachhaltiger Effekt erzielt wird.
2. Wir können nicht akzeptieren, dass unsere
Kindergärten nicht ordentlich in ihren öffentlichen Aufgaben gefördert werden.
Es waren kirchliche Kindergärten, die Jahrzehnte die ganze Last frühkindlicher
öffentlicher Erziehung getragen haben.
Es kann nicht sein, dass Kindergartenträger,
die Liegenschaften anmieten, besser behandelt werden, als unsere Gemeinden, die
viel für ihre Einrichtungen aufwenden müssen. Der Hinweis darauf, dass
Rücklagen, die aus den Pauschalen gebildet wurden, nun eingesetzt werden
könnten, greift bei vielen unserer Gemeinden nicht. Wegen des älteren
Gebäudebestandes mussten die Pauschalen regelmäßig zur Bauerhaltung eingesetzt
werden, zum Teil reichten sie dafür nicht aus. Im Kindertagesstättenbereich
wurde nur ein Erleichterung gegenüber den Ursprungsplänen vorgenommen: Mieter
von Liegenschaften, also keine kirchlichen Träger, werden entlastet.
Es kann nicht sein, dass wir aufgrund
fehlender Finanzen trotz hoher Eigenbeiträge ggf. unsere Einrichtungen aufgeben
müssen und sogenannte arme Träger zu 100% refinanziert werden. Die
„Arme-Träger-Regelungen“ wirken sich in der heutigen Situation als sturkturelle
Benachteiligungen aus.
Es kann nicht sein, dass das Versprechen der 1998er Sparrunde,
den Eigenbeitrag der kirchlichen Träger auf durchschnittlich 15 % zu senken,
nicht eingelöst wird.
Hier ist etwas in eine Schieflage geraten.
Partnerschaft
ist auf Verlässlichkeit und Vertrauen angewiesen. Partnerschaft wird zerstört,
wenn das Vertrauen in die Verlässlichkeit gestört ist. Wir werden weiterhin
unseren Beitrag zur Bildung leisten, müssen aber darauf bestehen, dass dies in
Augenhöhe geschieht.
III.5 Bioethik
Im
November letzten Jahres habe ich das in Bonn angesiedelte Modellprojekt
"Beratung bei pränataler Diagnostik" besucht. Dieses Modell bietet
Begleitung für Frauen, welche während der Schwangerschaft erfahren, dass sie
ein nicht lebensfähiges Kind oder ein Kind mit einer schweren Behinderung zur
Welt bringen werden. An diesem Projekt sind die
Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen des Diakonischen Werkes, die
Universitätsklinik Bonn sowie die evangelische und katholische Klinikseelsorge
beteiligt. Alle Beteiligten verfolgen das Ziel, Frauen und Paare in einer
derartig schwerwiegenden Krisensituation bestmöglich zu beraten und ihnen bei
einer ethisch und persönlich vertretbaren Entscheidungsfindung zu helfen.
Pränatale Diagnostik gehört mittlerweile zu den ärztlichen Regelangeboten während einer Schwangerschaft. Sie kann auf der einen Seite Diagnose- und Eingriffsmöglichkeiten eröffnen, die dem Überleben des Kindes und dem Überleben der Mutter dienen.
Auf der anderen Seite kann sie aber auch gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Behinderungen des Ungeborenen offenbaren, so dass die betroffenen Mütter bzw. Eltern schlagartig in eine extreme Belastungs- und Entscheidungssituation gestürzt werden.
In den meisten Fällen bleiben die Betroffenen bislang mit dieser für sie traumatischen Situation weitgehend allein.
Die
bisherigen Erfahrungen sind ermutigend und richtungweisend zugleich. Beratung
während und nach der Pränataldiagnostik verhindert, dass Frauen aus dem
Schockerlebnis einer problematischen Diagnose heraus überstürzt handeln und
schnellstmöglich einen Abbruch wollen. Beratung überprüft mögliche
Schreckensbilder von Behinderung bei den betroffenen Eltern. Sie begleitet eine
Entscheidungsfindung, indem sie Raum lässt für Gefühle von Überforderung und
Hoffnungslosigkeit und indem sie Perspektiven für ein Leben mit dem Kind
anspricht. Dazu gehört auch, die persönlichen und familiären Ressourcen und die
gesellschaftlichen Unterstützungsangebote abzuklären.
Ziel
evangelischer Beratung muss es sein, alles zu tun, um Schwangerschaftsabbrüche
zu vermeiden. Die Erfahrung der Praxis zeigt, dass dieses Ziel nur eine Chance
hat, wenn die Beratung im Einzelgespräch ohne moralischen Druck geführt wird.
Nur dann entwickeln die betroffenen Frauen oder Paare keinen inneren
Widerstand und finden zu einer Entscheidung, mit der sie auf Dauer leben
können. Allerdings müssen die Beraterinnen damit fertig werden, dass es auch nach
den Beratungsgesprächen zu einem hohen Maß an Abbrüchen kommt.
Das Gespräch in
Bonn hat mich neu für die Frage sensibilisiert, wie in unserer Gesellschaft
behindertes Leben geschätzt und geschützt wird. Wie glaubwürdig sorgen wir für
behindertes Leben, wenn es im Mutterleib bis zum 9. Monat abgetrieben werden
kann?
Bei diesen
Fragestellungen – und auch bei der Diskussion um die Stammzellenforschung –
wird der Begriff der Menschenwürde immer wichtiger.
Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat am 3. September einen Zeitungsartikel unter der Überschrift: "Die Würde des Menschen war unantastbar" veröffentlicht. Darin setzt er sich sehr kritisch mit der Neukommentierung des Grundgesetzes Artikel 1 Abs. 1 durch Mathias Herdeggen im Grundgesetzkommentar "Maunz/Düring" auseinander. Böckenförde’s Beobachtungen gipfeln in der These, dass der "Traditionelle Diskurs … bewusst verabschiedet (wird)", weshalb der Begriff der Menschenwürde seine ihm eigene Relevanz verlieren könnte. Eine der Ursachen für diese Entwicklung sei die Ablösung des geistesgeschichtlichen Hintergrundes für ein derartigen Topos.
Hier
wird deutlich, wie wichtig die Beiträge der Kirchen für ein wertgebundenes,
lebensförderliches gesellschaftliches Klima sind. Auch die Evangelische Kirche
im Rheinland darf sich aus diesem öffentlichen Gespräch nicht verabschieden.
Schlussbemerkung
"Himmel und
Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen", mit dieser
Verheißung beschließt Jesus nach dem Markusevangelium die Ankündigung von
Endzeitkatastrophen. Anzeichen solcher Katastrophen, die die Grundfeste unserer
persönlichen und gesellschaftlichen Sicherheiten erschüttern, identifizieren
Menschen immer wieder neu in ihrer Weltgeschichte. Und nur zu oft führt ein
Zusammenbrechen der eigenen "kleinen Welt" dazu, dass Menschen sich
nach dem großen Weltende sehnen, weil das Verlangen nach dem vollständigen
Erscheinen des ewigen Gottesreiches übermächtig wird.
Wann aber der
Tag oder die Stunde sein wird, dass Himmel und Erde, dass unser irdisches
Bewahren, Planen und Gestalten vergehen, das weiß keiner außer Gott allein!
Diese
Feststellung Jesu folgt unmittelbar auf unsere Jahreslosung. So bleibt es auch
für das vor uns liegende Jahr 2004 unsere Aufgabe und Herausforderung, den
Menschen in unserer vergänglichen Welt und in unseren vergänglichen Bezügen
Gottes unvergängliche Welt zu bezeugen. Getragen von der Verheißung des
Evangeliums und bewegt von Gottes Geist können wir gelassen Kirche gemeinsam
leben und gestalten. Das eine Wort Gottes, das uns in Jesus Christus schon
erschienen ist, hat uns einen Vorgeschmack gegeben von dem ewigen Gottesreich,
das wir erwarten und in dem ‚Frieden und Gerechtigkeit sich küssen‘ (Psalm 85,
11).
Mit diesem
Vorgeschmack auf unseren Lippen halten wir gegen alle Todeserfahrungen und
Todesmächte die Hoffnung wach, auf Gottes neuen Himmel und Gottes neue Erde,
die erscheinen werden, wenn und wann Gott es will.
Anlage 1
Brief einer ehemaligen Zwangsarbeiterin
Liebe …,
ich habe mich sehr über deinen
Brief gefreut. Er hat mich an unsere Jugend erinnert, als wir gemeinsam im
Theater waren, um „Rotkäppchen“ anzuschauen, und wie ich dich nicht ordentlich
zum Mittagessen gerufen habe, als du auf der Eisbahn warst. Wie ich Anorte
russische Gedichte und Lieder gelernt habe und wie sie sie in gebrochenem
russisch wiederholte.
Ich bin im September 1945
nach Hause zurück gekehrt. Meine ganze Familie war am Leben, der Vater kam von
der Front, wie bekamen eine neue Wohnung, da die alte im Krieg ausgebrannt war.
Dann habe ich im Technikum
gelernt, nach dem Abschluss habe ich im Handel gearbeitet und mich von einer
einfachen Verkäuferin zur Verkaufsstellenleiterin hoch gearbeitet.
Ich habe zwei erwachsene
Söhne. Meine Eltern haben mir geholfen, sie groß zu ziehen, denn ich war ohne
Ehemann. Ich habe vier Enkelkinder und zwei Urenkelkinder.
Meine Eltern und meine
beiden Brüder sind gestorben, ich habe nur noch meine jüngere Schwester. Jetzt
bin ich Rentnerin, bin oft krank, aber
ich reiße mich zusammen.
Du fragtest nach Pascha. Sie
ist vor etwa 20 Jahren gestorben, zu ihren Verwandten habe ich keinen Kontakt,
so kann ich dir nichts genaueres sagen.
Danke für das Foto vom Haus,
es hat mich an sehr vieles erinnert, und für das Päckchen (oder: die Sendung)
bin ich dir sehr dankbar.
…bitte grüße deine
Schwestern … und …, und schreibe mir, wie es euch geht, schreibe, wie es euch
ging, als die Eltern noch lebten. Ich sehe sie manchmal im Traum.
Komm zu uns zu Besuch, wir
wohnen am Asowschen Meer, wenn du es dir überlegt hast, gib mir Bescheid. Ich
schicke dir eine Einladung (gemeint ist ein offizielles Einladungsformular, mit
dem man ein Visum bekommt).
Bis zum nächsten Brief mit
lieben Grüßen und Küssen für euch alle
Warja.
Anlage 2
Das Erbe der Märtyrer für das 21. Jahrhundert
Redebeitrag
von Präses Nikolaus Schneider
am 9. September 2003, Int. Treffen Comunità Sant‘Egidio
Märtyrer sind
nach dem für das folgende vorausgesetzte Verständnis zum Ersten Frauen und
Männer, die ihr eigenes Leben bewusst für ihre Überzeugung bzw. ihren Glauben
opfern. Christliche Märtyrer aus allen großen Konfessionsfamilien – römisch-katholisch,
orthodox, reformatorisch – haben dabei bezeugt, dass sie im Martyrium eins
wurden mit Jesus Christus und keine andere Herrschaft über ihr Leben anerkannten
als die Herrschaft Gottes.
Terroristen, die
im Namen ihrer religiösen oder politischen Überzeugung andere Menschen töten,
sind Mörder, auch wenn sie ihr eigenes Leben riskieren oder hingeben.
Märtyrer stehen
zum Zweiten zu ihrer Überzeugung, sie sind innerlich gebunden angesichts von
Folter und Tod. Sie verzichten bewusst auf den lebensrettenden Ausweg der
Verleugnung, des Widerrufs oder der Flucht. Ihr Weg des Lebens geht durch das
Martyrium hindurch zum Leben in der Gegenwart Gottes.
Christliche
Märtyrer überschreiten zum Dritten in ihrem Martyrium nicht nur die Grenzen von
Zeit und Raum, sie überschreiten auch die Grenzen der Kirchen und der
Konfessionsfamilien. Sie sind schon eins in Christus, also ökumenische
Persönlichkeiten.
Die Märtyrer stellen
damit zum Vierten eine Herausforderung für die Kirchen dar. Sie machen die noch
nicht überwundenen Grenzen zwischen den großen Konfessionsfamilien als Ausdruck
der mangelnden Einheit mit Jesus Christus deutlich. So wird auch verständlich,
was die ehrliche Kenntnisnahme der Kirchengeschichte vermittelt:
Kirche ist zum
einen selbst Täterin. Sie verfolgte, folterte und tötete Menschen, deren
Glaubensüberzeugung im Widerspruch zur eigenen, offiziellen Lehre stand.
Kirche ist zum
anderen selbst Opfer. Menschen wurden wegen ihrer kirchlichen Zugehörigkeit und
ihres kirchlichen Bekenntnisses verfolgt, gefoltert und getötet.
Wichtig ist mir,
deutlich zu machen, dass christliche Märtyrer nicht mit ihrer jeweiligen
konfessionellen Kirche in eins gesetzt werden können. Es konnte nämlich sein,
dass das Martyrium einzelner Glieder der jeweiligen Kirchen von ihnen im Gebet
und im Gedenken mitgetragen wurde. Es konnte aber auch sein, dass die Kirchen
vom Martyrium abrieten, dass sie sich teilnahmslos verhielten oder ihren
Märtyrer sogar durch offene oder verdeckte Kooperation mit den Mördern
verrieten.
Und es konnte
sogar sein, dass das Martyrium von Christinnen und Christen von ihren eigenen
Kirchen initiiert und vollstreckt wurde.
Aus diesem
Verständnis der Märtyrer und ihres Verhältnisses zu ihren Kirchen ergeben sich
folgende Überlegungen zu ihrem Erbe für das 21. Jahrhundert:
1.
Politik
und Gesellschaft müssen Garanten und Hüter der Freiheit des Denkens und des
Glaubens der Einzelnen sein. Dies wird durch die Förderung demokratischer
Prinzipien in allen Machtstrukturen am besten gelingen.
Der gnadenlose und mörderische
Fundamentalismus sollte in allen religiösen und weltanschaulichen
Gemeinschaften geächtet werden.
2.
Die
christlichen Kirchen sind herausgefordert, über ihre Verflechtungen in Strukturen
der Schuld und über ihr Versagen über den Märtyrern nachzudenken und dabei in
konkreter Weise Schuld zu benennen und Schuld zu bekennen.
Für unsere deutschen Kirchen bedeutet das
auch die kritische Rückfrage, ob und wann institutionelle Verflechtungen mit
Staat und Gesellschaft oder die Bindung an mächtige Menschen in Staat und
Gesellschaft notwendige Glaubenszeugnisse verdunkeln, verhindern oder gar
verraten.
Im Gedenken an die Märtyrer der anderen
kirchlichen Konfessionen und im Bewusstsein des Versagens und der Schuld der
eigenen christlichen Kirche müssen die christlichen Kirchen alle ihre Lebensvollzüge
ökumenisch ausrichten.
Insbesondere die theologische Arbeit in allen
ihren Dimensionen darf nicht auf Abgrenzung bzw. die Sicherung der eigenen
konfessionellen Grenzen ausgerichtet sein. Sie muss vielmehr Brücken bauen, auf
die Überwindung von Grenzen und die Ermöglichung von mehr Gemeinsamkeiten und
Gemeinschaft zielen. In der Suche nach der Einheit mit Christus wird sie der
Einheit untereinander am besten dienen.
3.
Christlicher
Glaube und christliche Theologie bleiben geistlos, wenn sie sich in zeitlosen
dogmatischen Lehrsätzen erschöpfen. Die Wahrheit von Glaube und Theologie
ereignet sich durch und an konkreten Menschen in konkreten Zeiten und an
konkreten Orten.
Glaube und Theologie, die Jesus Christus
vergegenwärtigen, dem Heiligen Geist sich öffnen und Gott die Herrschaft geben,
bleiben unlösbar verbunden mit Menschen, denen Gott sich offenbart und die
Gottes Wort mit ihrem Leben bezeugen.
Das macht theologisch-wissenschaftliche
Reflexion und Lehrbildung, die Bindung an traditionelle Konfessionen und
kirchliche Gemeinschaft nicht überflüssig. Aber es macht studierte Theologen
und kirchliche Amtsträger bescheiden. Die von uns allen geglaubte eine,
heilige, apostolische und katholische Kirche ist von den Märtyrern der
christlichen Kirchen – der römisch-katholischen, der orthodoxen und der
reformatorischen Konfessionsfamilien – schon real vorweg genommen. Die Märtyrer
sind uns als „Wolke der Zeugen“ Leitbild und Ermutigung, diese „una sancta“
auch heute zu verwirklichen.