Landessynode 2004

 

 

Himmel und Erde werden vergehen;

meine Worte aber werden nicht vergehen.

                                                                               (Markus 13,31)

 

 

BERICHT
ÜBER DIE FÜR DIE KIRCHE
BEDEUTSAMEN EREIGNISSE

 

 

der Landessynode gemäß Artikel 181

der Kirchenordnung erstattet

 

von

 

Präses Nikolaus Schneider

 

 

 

Sperrfrist: 12. Januar 2004, 13.00 Uhr

(Es gilt das gesprochene Wort.)


Gliederung

I.            Strukturen und Ordnungen unserer Kirche

I.1          Regionale Konzentration theologischer Arbeit

I.2                 Theologiestudierende

I.3          Vom "WEG" zu "chrismon plus rheinland"

I.4                 Neue Projekte kirchlichen Lebens

I.4.1       Evaluation des Gemeindekonzeptionsprozesses

I.4.2       Pilotprojekt "Verwaltungsberatung"

I.4.3       Ehrenamt und Presbytertag

I.4.4            Airportseelsorge

I.4.5            Wiedereintrittsstellen

I.4.6       Kirchenordnungsreform

I.4.7       Projekt "Scharfe Gegner"

II.              Theologische Äußerungen und Herausforderungen unserer Kirche, die Ökumene und das Verhältnis Christen/Juden

II.1         Missionarische Kirche

II.2         Diakonische Kirche

II.3         Protestantismus in Deutschland und Europa

II.3.1       Union Evangelischer Kirchen

II.3.2       Leuenberg

II.4         Evangelisch-katholische Ökumene

II.4.1       Ökumenischer Kirchentag in Berlin

II.4.2       Comunità di Sant‘Egidio

II.5         Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen

II.6         Mission und Entwicklung

II.6.1       Vereinte Evangelische Mission

II.6.2       Namibia

II.6.3       Aidsprojekt

II.7         Christen und Juden

II.7.1      Nes Ammim

II.7.2       Antisemitismus

III.          Die Weltverantwortung unserer Kirche und der Dialog mit dem Islam

III.1         Frieden und Gerechtigkeit

III.2                Islam

III.3         Solidarität und Gerechtigkeit

III.3.1       Ländlicher Raum

III.3.2       Aktion 7 x 7 – Kirche für Ausbildung

III.3.3       Zuwanderung und Integration

III.4         Bildung

Schlussbemerkung


Bericht des Präses

über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse

 

 

Hohe Synode,

verehrte Gäste,

liebe Schwestern und Brüder!

 

"Himmel und Erde werde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen." (Markus 13,31) Diese Verheißung Jesu an seine Jüngerschaft und an seine Kirche ist die Jahreslosung für das vor uns liegende Jahr 2004. Unter diese Worte möchte ich meinen Präsesbericht stellen.

Man könnte meinen, Jesus stelle die Vorstellungen von Beständigkeit auf den Kopf. Denn er stellt dem Himmel und der Erde, den bei der Schöpfung bereiteten Grundfesten, etwas Flüchtiges gegenüber: Worte, im Augenblick gesprochen und mit Händen nicht zu greifen.

In der jüdisch-christlichen Tradition hat das Wort aber eine andere Bedeutung als "Schall und Rauch" zu sein.

Gottes Wort erschuf Himmel und Erde.

Gottes Wort sprach Menschen auf der Basis der Gottesebenbildlichkeit den Auftrag zu, die Schöpfung zu bebauen und zu bewahren.

Gottes Wort wurde Fleisch in Jesus von Nazareth. Das unvergängliche Gotteswort nahm "Knechtsgestalt" an. Es wurde Teil der Vergänglichkeit von Himmel, Erde und menschlichem Leben. In Jesus Christus hat Gott, der Ewige, die irdische Vergänglichkeit unter die Verheißung seiner Nähe, Gnade und Liebe gestellt.

"Himmel und Erde werden vergehen ...", Strukturen und Ordnungen unserer Kirche werden vergehen, unsere Systeme gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und staatlichen Lebens werden vergehen, aber:

Vergänglichkeit ist aufgrund unseres Glaubens an Gott den Schöpfer nicht identisch mit Belanglosigkeit und Bedeutungslosigkeit.

Schöpfungsauftrag und Nachfolge Christi fordern Christinnen und Christen und die christlichen Kirchen dazu heraus, in Bindung an und im Vertrauen auf das unvergängliche Wort unter den Bedingungen einer vergänglichen Welt und Kirche zu leben.

Dabei ist Jesus Christus der Grund und das Zentrum unserer Kirche. Das gilt für den Weg der Kirche durch die Zeiten hindurch. Deshalb ist auch die vergängliche Gestalt unserer Evangelischen Kirche im Rheinland nicht rein pragmatisch zu ordnen, sondern muss sich ebenso wie ihr Zeugnis in der Welt am Wort Gottes ausrichten und theologisch verantworten.

Unter diesen Voraussetzungen berichte ich über die Strukturen und Ordnungen unserer Kirche (I.), über die theologischen Äußerungen und Herausforderungen unserer Kirche (II.) und über die Weltverantwortung unserer Kirche (III.).

 

I.          Strukturen und Ordnungen unserer Kirche

Jesus Christus ist der Grund und das Haupt der Evangelischen Kirche im Rheinland. In seinem Namen erkennen und erfahren wir die Barmherzig­keit Gottes, seine liebende Zuwendung zu den Menschen und sein Versöhnungsangebot. Dieses verbindet sich mit dem Anspruch auf unser ganzes Leben als Einzelne und als Kirche. Deshalb können Strukturen und Ordnungen unserer Evangelischen Kirche nicht beliebig sein, sondern müssen sich messen und hinterfragen lassen, ob und inwieweit sie den Aufträgen und Ansprüchen des Wortes Gottes dienen.

Ferner ist die Diskrepanz zwischen "geglaubter Kirche" und "gelebter Kirche" nicht zu überwinden: die Strukturen und Ordnungen der Evangelischen Kirche im Rheinland sind immer auch Teil und Ausdruck der unerlösten Welt, in der wir leben.

Konkret heißt das, dass "weltliche Probleme" wie stagnierendes Wirtschaftswachstum, hohe Arbeitslosigkeit, Überalterung unserer Bevölkerung auch unser innerkirchliches Leben betreffen.

Auch die Evangelische Kirche im Rheinland muss sich dem Paradigmenwechsel von "Wachsen" zu "Stillstehen" bis hin zu "Schrumpfen" stellen. Wir stehen am Anfang eines Lernprozesses im Umgang mit zurückgehenden Mitteln und Möglichkeiten. Es muss uns gelingen, dass die Beratungen der Haushaltspläne nicht zu jährlichen Aufgeregtheiten führen. Der Veränderungsprozess darf nicht zu "Depressionen“ führen, wenn es um die notwendige Anpassung des ‚Mantels an dem kleiner werdenden Körper‘ geht.

Unsere Kirche hatte und hat Abschiede zu organisieren und mit Verlusten zu leben: Abschiede von Standorten, von Arbeitsfeldern, von bezahlbaren Stellen.

Um so nötiger war und ist es, uns gegenseitig zu neuen Aufbrüchen und kreativen Projekten zu ermutigen. Fülle und Gelingen ist auch mit geringeren materiellen Mitteln möglich; Freude gewinnen wir aus der Gemeinschaft mit Gott und der Gemeinschaft untereinander. Das gilt auch für eine veränderte äußere Gestalt der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Danken möchte ich allen, die diese Situation annehmen und sich ihr stellen. Verantwortliche auf allen Leitungsebenen und Mitarbeitende in Gemeinden, Kirchenkreisen, Ämtern, Einrichtungen und Werken und im Landeskirchenamt setzen sich schon geraume Zeit unter "Wehen und Schmerzen", aber auch kreativ und erfolgreich damit auseinander, die Gestalt unserer Kirche um- und neu zu bauen. Für Mitarbeitende, die ihren Arbeitsplatz ohne direkten Übergang in eine neue Tätigkeit verlieren, ist das eine besonders schmerzliche Erfahrung. Deshalb ist Begleitung und solidarisches Handeln geboten.

Die Landessynode 2003 hatte dazu weitreichende Beschlüsse gefasst, deren Umsetzung unverzüglich in Angriff genommen wurde. Vizepräsident Drägert wird dazu ausführlich berichten. Deshalb reichen an dieser Stelle einige grundsätzliche Anmerkungen.

 

I.1             Regionale Konzentration theologischer Arbeit     

Die Evangelische Akademie "Haus der Begegnung" in Mülheim/Ruhr hat am 4. Dezember 2003 den Abschied vom Standort Mülheim und den Übergang zum neuen Standort Bad Godesberg vollzogen.

Der Abschied war geprägt von Wehmut und Schmerz, aber auch von der Erwartung, in gemeinschaftlicher Nutzung des Hauses und der Dienstleistungsstrukturen des Pädagogisch-Theologischen Institutes in Bad Godesberg die mit der Akademiearbeit verbundenen Herausforderungen in angemessener Weise erfüllen zu können.

Der Umzug wird mit einer Veränderung der inhaltlichen Konzeption unserer Akademie verbunden sein. In Bonn ansässige mögliche Kooperationspartner aus den Arbeitsfeldern "Entwicklung und Frieden" sowie das Gespräch mit dem Islam, aber auch die Bearbeitung der Europa-Thematik werden zu einer neuen Akzentuierung der inhaltlichen Ausrichtung beitragen.

Die bisherigen Gespräche zwischen den Verantwortlichen des Pädagogisch-Theologischen Institutes und der Akademie erlauben die Zuversicht, dass in Bad Godesberg zwei selbständige Institutionen unserer Kirche mit eigenem Profil unter dem Dach eines Hauses mit dem Namen "Haus der Begegnung" einen wesentlichen Dienst leisten werden.

Wie in Mülheim gab es auch einen Abschiedsgottesdienst im Predigerseminar Bad Kreuznach am 13. Dezember 2003.

Die Zusammenlegung der Predigerseminare in Wuppertal ist durch einen Fusionsvertrag zum 1. Januar 2004 realisiert worden. Das neue Seminar steht in Trägerschaft von vier Landeskirchen und trägt den Namen 'Seminar für pastorale Aus- und Fortbildung Wuppertal'. Es führt die Arbeit des ehemaligen Predigerseminars Bad Kreuznach und des ehemaligen Reformierten Seminars fort. Ein Basiscurriculum wurde vereinbart, in dem ehemalige Wuppertaler (Seelsorgeausbildung) und Kreuznacher Anteile (Reformmodell 'Integriertes pädagogisches Vikariat') zu einem neuen Ganzen verschmolzen worden sind. Da dies lediglich eine Ausgangsbasis zu weiteren Reformüberlegungen in Richtung engerer Kooperationsmöglichkeiten zwischen 1., 2. und durch die Präsenz des Pastoralkollegs auch der 3. Ausbildungsphase ist, behält das neue Curriculum einen vorläufigen Charakter.

An der Kirchlichen Hochschule Wuppertal wurden im Rahmen des Aus- und Fortbildungszentrums Wuppertal folgende Reformen bereits eingeführt:

 

-       Einführung eines Tutorialsystems in Kooperation mit dem Predigerseminar

Die Studierenden werden in den ersten Semestern in  Lerngruppen (Tutorials) zusammengefasst und von Assistierenden begleitet, die ihrerseits vom Predigerseminar pädagogisch und didaktisch begleitet werden.

 

-     Einführung der interdisziplinären Studienwoche

Die Studienwoche zum Abendmahl ist sehr gut angelaufen und fand gute Resonanz bis hin zu begeisterten Reaktionen. Ihre große Stärke ist die Interdisziplinarität. Das Abendmahl wurde aus der Sicht aller Fächer und aller seiner Aspekte behandelt, u.a. in einem gemeinsamen Seminar von Prof. Kreuzer (AT) und Herrn D. Bukowski (Predigerseminar). Zahlreiche Teilnehmer/innen kamen von außen, nicht zuletzt im Rahmen der Fortbildung. An der nächsten Woche zum Thema Gebet wird auch die VEM beteiligt sein. 

 

-      Planung studiennaher Durchführung von Praktika

Die Auswertungstagungen der Gemeindepraktika werden künftig in Kooperation von Kirchliche Hochschule (KiHo) und Gemeindeberatung und Organisationsentwicklung (GMO) begleitet. Dadurch werden insbesondere Ekklesiologie und Kybernetik deutlich aufeinander bezogen.

 

-      Biblisch-Archäologisches Institut (BAI)

Die neuen, vergrößerten Räume des BAI wurden im Sommer 2003 mit einer internationalen Fachtagung eröffnet. Am BAI bewährt sich der vorzügliche Kooperationsvertrag zwischen KiHo und Bergischer Universität (Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Prüfungen bei institutioneller Unabhängigkeit) herausragend.

 

-     Gastprofessur, ecumenical leader-ship training, internationale Vereinbarungen

Durch die Besonderheiten des Standorts Wuppertal (Nachbarschaft zur Vereinten Evangelischen Mission u.a.) bot sich an, dem Wunsch der EKD, einen besonderen Schwerpunkt sichtbar zu machen, u.a. am Paradigma des ökumenischen Profils zu entsprechen, insbesondere durch eine ökumenische Gastprofessur, die Übernahme des Ecumenical leadership training in das Vorlesungsverzeichnis der Kirchlichen Hochschule, Vereinbarungen im internationalen Austausch.

 

-     Frauenforschung / feministische Theologie

Die vor kurzem neu eingerichtete C1-Stelle wurde in ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit gestärkt, etwa durch eine öffentliche Antrittsvorlesung von Frau Dr. Globig. Weitere Möglichkeiten der Kooperation, etwa mit dem Frauenreferat der Evangelischen Kirche im Rheinland werden entwickelt. Hier leistet die KiHo einen besonderen Beitrag zu den Anforderungen der neuen Examensordnung, die den Bereich Feministische Theologie, Frauenforschung verstärkt hat.

 

-      Catholica-Fragen

Zur Förderung von Catholica-Fragen werden Kooperationsgespräche mit dem Johann-Adam-Möhler-Institut in Paderborn geführt, das zu einem  kostenneutralen Lehraustausch im Rahmen der Systematischen Theologie bereit wäre, etwa durch Einbringung konfessioneller 'Fenster' in systematische Vorlesungen oder die Teilnahme an der Ökumenewoche des Predigerseminars. Dies wäre auch ein guter Beitrag zu den Anforderungen des Entwurfes der neuen Prüfungsordnung für das 2. Examen, in dem Catholica-Fragen eine höhere Relevanz zukommen sollen.

 

-     Kooperation mit dem Predigerseminar

Das Wuppertaler Seminar beteiligt sich bereits lebhaft an den Synergiebildungen, etwa durch  Beteiligung am KiHo-Tutorialmodell (s.o. Pkt. 1), an der Studienwoche (s. o. Pkt.2) oder an gemeinsamen Seminaren. Für das nächste Semester ist ein Oberseminar in Kooperation von Prof. Klessmann und Herrn Bukowski zu 'Basistexten der Praktischen Theologie' geplant. Weitere Ideen sind in der Entwicklung.

 

-      Weitere ‚Bergkooperationen’

Die übrigen (künftigen) Einrichtungen auf dem Berg haben ihre ausdrückliche Kooperationsbereitschaft erklärt (Vereinte Evangelische Mission, Gemeindeentwicklung und Missionarische Dienste, Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kindergottesdienst, Pastoralkolleg, auch das Bibelwerk u.a.). Da im letzten Jahr umfangreiche organisatorische Fragen geklärt werden müssen (Umbau, Umzug, logistische Probleme etc.), wurden die konzeptionellen Überlegungen noch für kurze Zeit zurückgestellt. Das betrifft sowohl die beabsichtigte Einbindung weiterer kirchlicher Berufsgruppen, Schulungen Ehrenamtlicher als auch den gesamten Bereich der Fortbildung.

 

-     Koordinierende "Leitung" des Aus- und Fortbildungszentrums (AFZ)

Alle Einrichtungen des AFZ bleiben selbstständig und arbeiten kooperativ zusammen. Als vorläufige Koordinationsplattform ist ein 'runder Tisch' der Leitenden unter Federführung des Dezernenten für Aus- und Fortbildung eingerichtet worden.

 

Durch die skizzierten Projekte beginnt das "Theologische Aus- und Fortbildungszentrum Wuppertal" (AFZ) sich zu entwickeln. Die Synodal­entscheidung des letzten Jahres hat einen zukunftssichernden Prozess in Gang gesetzt.

 

I.2             Theologiestudierende

Zurzeit stehen 241 Personen in der Liste rheinischer Theologie­studierender. Das sind nahezu 70 Personen weniger als im Vorjahr. Obwohl wir uns derzeit keine Gedanken um die Versorgung der Gemeinden machen müssen, hat unser Ausbildungsdezernat auf Initiative der letzten Landessynode hin mit Werbemaßnahmen für das Theologiestudium begonnen. Dazu wurde eine Broschüre erstellt und an die Oberstufen der Gymnasien und Gesamtschulen verteilt. Daneben wurde Präsenz im Internet, auf Abiturmessen und bei einer Oberstufen­tagung gezeigt. In diesem Zusammenhang ist besonders zu erwähnen, dass die Filmproduktionsgesellschaft "Lichtblicke" für den Sender "Arte" eine fünfteilige Dokumentation über die Ausbildung zum Pfarrberuf produzieren will. Drei rheinische Vikarinnen und Vikare sollen dazu filmisch bis zur Ablegung des 2. Examens begleitet werden.

 

I.3       Vom "WEG" zu "chrismon plus rheinland"

Für viele unserer Gemeindeglieder ist seit Ende des vergangenen Jahres eine wichtige Informationsquelle und ein Bindeglied zur gesamten rheinischen Kirche nicht mehr vorhanden: nach 58 Jahren wurde das Erscheinen des "WEG" als evangelische Wochenzeitung für das Rhein­land eingestellt. Der unter Auflagenschwund leidende "WEG" lag zuletzt noch bei knapp 29.000 verkauften Exemplaren. Das war zu wenig, um wirtschaftlich vertretbar eine Fortführung dieser Zeitung zu rechtfertigen.

Ausdrücklich möchte ich betonen, dass der "WEG" nicht an mangelnder journalistischer Qualität gescheitert ist. Eine unabhängige, eigenständige Kirchengebietspresse geht zu Ende, deren Team unter der Leitung von Chefredakteur Andreas Krzok und seit Oktober der neuen Redaktionsleiterin Judith Weber Herausragendes geleistet hat. Nicht zuletzt hat dieses Team die Übergänge zu "chrismon plus rheinland", den zum 1. April 2004 folgenden "News-Lettern" und dem "Gemeinde­briefangebot" zu realisieren.

Ich freue mich darüber, dass im Dezember 2003 die 0-Nummer von unserem neuen Monatsmagazin "chrismon plus rheinland" vorgestellt werden konnte. 110.000 Exemplare wurden gedruckt und an die Kirchenkreise verteilt. Schon Mitte Dezember war die Nachfrage so groß, dass die hohe Zahl nicht ausreichte.

Mit "chrismon plus rheinland" soll eine breite Leserschaft angesprochen und Informationen aus dem Gebiet der rheinischen Kirche kompetent und ansprechend vermittelt werden. Einige haben bereits kritisch angemerkt, dass die 32 rheinischen Seiten im 84 Seiten starken Magazin nicht so ohne weiteres erkennbar seien. Ferner sei die rheinische Farbe zu blass im Verhältnis zu der von "Chrismon plus". Diese Kritik ist ernst zu nehmen und in die weiteren Überlegungen einzubeziehen.

Freundlich bitte ich um eine wohlwollende und kritische Begleitung der ersten Phase dieses neuen Produktes, das als "chrismon plus rheinland" eine überzeugende Gestalt finden muss.

 

I.4             Neue Projekte kirchlichen Lebens

Strukturveränderungen sind mehr und anderes als Sparen. Sie  zeugen von der Lebendigkeit unserer Kirche. Wir passen uns nicht nur an veränderte äußere Rahmenbedingungen an, wir reagieren auf diese Weise auch auf neue inhaltliche Herausforderungen. Diese Prozesse sind unumkehrbar und werden uns gut tun als Voraussetzung weiterer Veränderungsschritte.

 

I.4.1      Evaluation des Gemeindekonzeptionsprozesses

In ihrer Sitzung am 9. Mai 2003 hat die Kirchenleitung beschlossen, grundsätzlich auf eine Evaluation des laufenden Gemeindekonzeptionsprozesses in der Evangelischen Kirche im Rheinland zuzugehen. Abteilung II des Landeskirchenamtes wurde mit der Durchführung beauftragt.

Insbesondere eine Vergabe der Evaluation an die Universität Koblenz-Landau war zu überprüfen. Intensive Beratungen mit der Universität ergaben eine vierjährige Planung der Evaluation mit einem Kostenanteil von etwa 160.000 €, der von der Landeskirche zu tragen wäre.

Angesichts der finanziellen Situation entschied sich die Kirchenleitung am 5. Dezember 2003 gegen die Vergabe an die Universität Koblenz-Landau. Stattdessen wurde der Abteilung II des Landeskirchenamtes in Zusammenarbeit mit der landeskirchlichen Einrichtung Gemeindeberatung und Organisationsentwicklung (GO) der Auftrag erteilt, den Prozess zu evaluieren. Die Auswertung der schon erarbeiteten Konzeptionen soll Aufschluss über die gemeindliche Situation innerhalb der Evangelischen Kirche im Rheinland geben. Um dies zu erreichen, brauchen wir die Mitarbeit der Kirchengemeinden. Unmittelbar nach der Landessynode wird mit der Arbeit begonnen werden, den Kirchenkreisen und Kirchengemeinden wird hierzu zeitnah eine Information zugehen.

 

I.4.2      Pilotprojekt "Verwaltungsberatung"

Das Landeskirchenamt hat im Auftrag der Kirchenleitung vom 1. November 2002 bis 31. März 2004 das Pilotprojekt Verwaltungsberatung bei der Gemeindeberatung/Organisationsentwicklung (GO) eingerichtet.

Folgende Ziele wurden dabei anvisiert:

-      die 1994 eingestellte Verwaltungsberatung soll auf Anfrage von Kirchenkreisen und Gemeinden wieder eingerichtet werden.

       Durch die unmittelbare Zusammenarbeit mit GO sollen Synergie-Effekte erzielt werden.

-      Es soll überprüft werden, ob die Arbeitsstrukturen von GO und der Verwaltungsberatung kompatibel sind.

       Wenn letzteres der Fall ist, besteht die Chance, dass die Verwaltungsberatung zu einer dauerhaften Einrichtung bei GO wird.

 

Seit November 2002 wurden 14 Verwaltungsberatungsprozesse begonnen, acht davon sind bereits abgeschlossen. Neben einem Mitarbeiter des Landeskirchenamtes haben dabei sieben nebenberufliche Beraterinnen und Berater und zwei hauptberufliche Berater der GO mit gearbeitet. Daneben wurde das Angebot der Verwaltungsberatung vorgestellt:

-      bei der Kirchmeistertagung am 29.10.2002,

-      während der Superintendentenkonferenz am 16.06.2003,

-      in der Gesamtvereinigung der Mitarbeitervertretung im Juli 2003,

-      bei der Mitgliederversammlung des Rheinischen Verbandes der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im evangelisch-kirchlichen Verwaltungsdienst am 01.10.2003,

-      in einem Interview für "Kontrovers", Zeitschrift für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

 

Zwischenzeitlich ist das Beratungsteam selbst bei einer Auswertungstagung am 6. Oktober 2003 in Bonn zu einer deutlichen Einschätzung der eigenen Arbeit gekommen.

Alle an der Verwaltungsberatung bisher beteiligen GO-Beraterinnen und GO-Berater empfehlen einmütig, die Verwaltungsberatung fest bei GO zu installieren. Das hauptamtlichen Team der GO schließt sich der Empfehlung an.

 

Über die Fortführung des Projektes ist bald zu entscheiden. Ich halte eine Beschlussfassung allerdings nur unter der Voraussetzung für möglich, dass auch die Beratenen sich zu ihren Erfahrungen mit der Verwaltungsberatung äußern.

 

I.4.3      Ehrenamt und Presbytertag

Im vergangenen Jahr waren mehr als 111.000 Menschen in unserer Kirche freiwillig engagiert. Danken möchte ich den vielen Ehrenamt­lichen, deren Einsatz sicherstellt, dass wesentliche Arbeitsbereiche in den Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen lebendig gestaltet werden. Viele dieser Arbeitsbereiche können nur mit ihrer Hilfe erhalten werden.

Eine Gruppe ehrenamtlich Engagierter möchte ich besonders erwähnen – aus aktuellem Anlass sozusagen, denn im nächsten Monat finden die Wahlen zu den Presbyterien statt.

Presbyterinnen und Presbyter leisten der Evangelischen Kirche im Rheinland einen unschätzbar wertvollen Dienst. Ihr Leitungsdienst ist Ausdruck des besonderen theologischen Profils der rheinischen Kirche. Gehen wir doch davon aus, dass das Leitungshandeln Christi in seiner Kirche nicht an ein Weihepriestertum gemeinsam mit dem päpstlichen Amt gebunden ist. Gottes Geist ist frei in seiner Bindung an das gesamte Volk Gottes, so dass Leitung – gerade wenn sie dem Leiten Christi in der Gegenwart seines Geistes Raum geben soll – durch Wahl aus dem Volk Gottes herausgebildet wird. Unsere Kirchenordnung trägt dem dadurch Rechnung, dass Leitung unserer Kirche in der Gemeinschaft von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, studierten Theologinnen und Theologen und Christenmenschen aus vielen anderen Berufen und Bereichen gesellschaftlichen Lebens durch Wahlen erfolgt.

Die vielfältigen und umfassenden Aufgaben des Presbyteramtes führen viele Menschen bis an ihre Belastungsgrenzen heran. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Menschen, die in unserer Kirche ehren­amtlich Leitungsverantwortung wahrnehmen, die notwendige Unter­stützung und Bestärkung bekommen. Am 23. April 2005 soll in Bonn ein landeskirchenweiter Tag der Presbyterinnen und Presbyter stattfinden. Gerade im Rahmen der aktuellen Prozesse in der Evangelischen Kirche im Rheinland (ich nenne außer den zur Zeit laufenden finanzbedingten Umstrukturierungen die Arbeit an den Gesamtkonzeptionen gemeind­licher Aufgaben und das Projekt "Auf Sendung") müssen Presbyterinnen und Presbyter in der Verantwortung, die ihnen zugemutet wird, auch angeregt und gefördert werden und Gelegenheit zum "Auftanken" bekommen.

Wir hoffen, durch einen Tag der Presbyterinnen und Presbyter im Jahre 2005, also knapp ein Jahr nach den Presbyteriumswahlen, besonders die neu gewählten Presbyterinnen und Presbyter zu erreichen und ihre Identifikation mit dem neuen Amt und mit ihrer Kirche zu stärken.

Ich bitte Sie, sich den 23. April 2005 jetzt schon im Kalender vorzumerken und ihn von Veranstaltungen freizuhalten, die Presbyterinnen und Presbyter an der Teilnahme hindern könnten.

 

I.4.4            Airportseelsorge

Gemäß dem Beschluss der Landessynode 2001 (Nr. 44), "eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die prüfen soll, ob und auf welche Weise eine kirchliche Arbeit an Flughäfen geleitstet werden soll", legte die Arbeitsgruppe "Airportseelsorge" der Kirchenleitung ihren Abschluss­bericht mit dem Vorschlag vor, die Arbeit am Airport Düsseldorf langfristig zu sichern. Am Airport Düsseldorf versieht Pfarrerin Antje Reichow ihren Dienst, der nicht nur bei unzähligen Reisenden, sondern auch in der Presse großen Anklang findet. Nach Beratung in den zuständigen ständigen Ausschüssen, die mehrheitlich eine dauerhafte Sicherstellung der Arbeit befürworteten, beschloss die Kirchenleitung, im Jahr 2004 zunächst eine Prioritätendiskussion bezüglich aller bestehenden Arbeitsgebiete vorzunehmen, um eine endgültige Entscheidung über eine mögliche finanzielle Absicherung des Dienstes am Airport Düsseldorf  treffen zu können. Der Landessynode 2005 soll das Ergebnis dieser Beratungen vorgelegt werden. Es muss gelingen, Strukturbedingungen für einen solchen und ähnliche Dienste zu schaffen.

 

I.4.5            Wiedereintrittsstellen

Menschen suchen aus vielen Gründen neu die Nähe unserer Kirche und erwägen, wieder in sie einzutreten. Die Synode hat durch eine Veränderung der Kirchenordnung das Verfahren zum Wiedereintritt vereinfacht, damit das Aufnahmebegehren leichter zu realisieren ist.

Mittlerweile ist die 10. Wiedereintrittsstelle im Bereich unserer Kirche errichtet worden. Die Zahl der Wiedereintritte nimmt zu. Im Jahr 2002 wurden insgesamt 6.563 Personen aufgenommen, was gegenüber 2001 einer Zunahme von 19 % entspricht. Besonders bemerkenswert ist, dass die  Zahl der Aufnahmen durch Wiederaufnahme früher Ausgetretener auf 2.551 (39 %) gestiegen ist.

 

Die Wiedereintrittsstellen verzeichnen dabei gute Erfolge. Hier ist die unbürokratische Aufnahme an fast jedem Werktag möglich. Die Eintrittsstellen sind inzwischen in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Koblenz, Köln, Mönchengladbach-Rheydt, Troisdorf, Wuppertal-Barmen und Wuppertal-Elberfeld vertreten. Für den Kirchenkreis Bad Godesberg-Voreifel ist ein rollendes "Kirche(n) Mobil" unterwegs. Die im Dezember 2002 errichtete Eintrittsstelle in Bonn vermeldet, dass an jedem 2. Öffnungstag ein Mensch wieder eingetreten sei. 2/3 des betroffenen Personenkreises seien zwischen 30 und 55 Jahre alt. Der Frauenanteil betrage 54 %.

Es ist wünschenswert, dass noch viel mehr solcher Wiedereintrittsstellen, von denen es im Bereich der EKD derzeit 30 gibt, errichtet werden. Sie sind ein zeitgemäßes und effektives Instrument, Menschen ihre Schwellenängste zu nehmen und gleichzeitig in einem ernsthaften Verfahren nach Gespräch und Beratung den Eintritt zu ermöglichen.

Gerne ermuntere ich dazu, noch viele solcher Eintrittsstellen einzurichten. Die Resonanz darauf ermutigt und fordert geradezu dazu auf.

 

I.4.6      Kirchenordnungsreform

Bei der Landessynode 2003 kündigte Präses Kock im Auftrag der Kirchenleitung weitere und weitreichende Änderungsabsichten an, die unmittelbar nach der Synodaltagung von den Kirchenkreisen und Gemeinden beraten werden sollten.

Dabei wurden folgende Aufträge benannt:

-       Diskussion und Entscheidung, ob die Kirchenordnung die Möglichkeit der Superintendentin und des Superintendenten im Hauptamt vorsehen soll.

-       Erarbeitung rechtlicher Regelungen, die das Leitungshandeln stärken, wenn Kirchenkreise sich neu strukturieren, zusammenarbeiten oder fusionieren wollen.

-       Verkleinerung unserer Synoden und Ausschüsse, um unsere finanziellen Ressourcen und die menschliche Arbeitskraft zu schonen.

 

Die angekündigten Veränderungsüberlegungen wurden im Frühjahr den Presbyterien, den Kreissynoden und landeskirchlichen Ausschüssen zur Beratung vorgelegt.

 

Hohe Rücklaufquoten zeugen von hohem Interesse und Engagement aller Beteiligten. Dafür sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.

Die Bandbreite der Stellungnahmen reicht von nachdrücklicher Zustimmung bis zu schroffer Ablehnung. Unsere "presbyterial-synodale Ordnung" findet sich als Argument bei Befürwortung und Ablehnung der selben Fragen wieder.

Der bewusst breit angelegte Beratungsprozess sollte die Synode in die Lage versetzen, die anstehenden Entscheidungen treffen zu können. Mit einer Ausnahme – der Frage der Zusammensetzung der Presbyterien – ist es aber nicht möglich, aus den Rückläufen Entscheidungs­empfehlungen abzuleiten. Aus diesem Grunde bittet die Kirchenleitung die Synode um eine "kirchenpolitische" Diskussion der anstehenden Fragen verbunden mit dem Ziel, konkrete Vorgaben für die Erarbeitung von Gesetzestexten beschlussmäßig festzulegen. Die Kirchenleitung sah keine Alternative zu dem ungewöhnlichen Weg einer offenen Debatte in Ausschüssen und Plenum, ohne vorweg Empfehlungen auszusprechen.

 

I.4.7      Projekt "Scharfe Gegner"

Aus dem Bereich der Rheinischen Kirchengeschichte ist der Abschluss eines Forschungsprojektes anzuzeigen. Vor drei Jahren hatte Präses Kock Ihnen von einer Initiative berichtet, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, das Unrechtshandeln des rheinischen Konsistoriums während der NS-Zeit zu untersuchen. Am 15. Oktober 2003 wurde das Forschungs­ergebnis anlässlich der Superintendentenkonferenz in Mülheim der Öffentlichkeit vorgestellt. Nur noch wenige unmittelbar Betroffene konnten an der Veranstaltung teilnehmen, wohl aber zahlreiche Nachfahren und Familienangehörige. Professor Jochen-Christoph Kaiser aus Marburg übernahm die wissenschaftliche Einführung in das vorgelegte Werk.

Die Studie der Historikerin Dr. Simone Rauthe trägt den Titel: "Scharfe Gegner" - die Disziplinierung kirchlicher Mitarbeitender durch das Evangelische Konsistorium der Rheinprovinz und seine Finanzabteilung von 1933 bis 1945.

Der Titel greift eine Äußerung des seit 1937 amtierenden Konsistorialpräsidenten Dr. Walter Koch auf, mit der dieser seine kirchen-politisch missliebigen Gegner aus den Kreisen der Bekennenden Kirche bedachte. Aber er stand nicht allein. Die Erforschung der Täter­biografien und Täterstrategien bildet einen wesentlichen Aspekt des Buches. Deutlich wird die beschämende Geschichte einer innerkirch­lichen Bürokratie, die nach dem Beifall der "weltlichen Fürsten" (Markus 10, 42) schielt und hierzu auch gern deren Methoden kopierte. Nach deren Kenntnisnahme ergeben sich kritische Rückfragen an die Personalübernahmen aus dem Konsistorium in die entstehende Evangelische Kirche im Rheinland.

Den Hauptteil der Arbeit bilden die knapp 200 Biogramme von disziplinierten Theologinnen und Theologen. Auswahlkriterium für diesen Personenkreis war die Dienstaufsicht des Konsistoriums. Deshalb konnten leider Religionslehrerinnen und Religionslehrer, andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder auch Presbyterinnen und Presbyter nicht berücksichtigt werden. Den vielfältigen Konflikten auf örtlicher Ebene nachzugehen, denen diese Menschen ausgesetzt waren und ihrer zu gedenken, wird eine Aufgabe für die Zukunft sein.

Die wissenschaftliche Begleitgruppe unter Vorsitz von Pfarrer i.R. Hans-Joachim Barkenings hat sich während des Projektes zu zwölf Arbeitssitzungen getroffen. Intensiv wurde um den Auftrag diskutiert (zu untersuchender Personenkreis; Angemessenheit des Titels u.a.), oft auch miteinander gerungen. Die Studie reiht sich letztlich ein in die bedeutenden zeitgeschichtlichen Untersuchungen zur NS-Zeit, welche die rheinische Kirche seit Anfang der neunziger Jahre angeregt und gefördert hat.

 

II.          Theologische Äußerungen und Herausforderungen unserer Kirche, die Ökumene und das Verhältnis Christen/Juden

Gottes beständiges Wort ist Voraussetzung und Gegenstand aller theologischen Äußerungen unserer Kirche. Nach unserem Bekenntnis erschöpft sich das "Wort Gottes" nicht in den uns tradierten biblischen Schriftzeugnissen. Wir bekennen darüber hinaus, dass Gottes Wort uns in dem lebendigen Herrn Jesus Christus in der Gegenwart des Heiligen Geistes bewegt und leitet.

So können sich auch die theologischen Äußerungen und Herausforderungen der Kirche nicht auf die Pflege und Weitergabe tradierter Dogmen, Bekenntnisse und Lebensformen beschränken – so wichtig das alles ist, um aus Wurzeln heraus zu leben und Beheimatung zu ermöglichen.

Vielmehr müssen wir uns auch in unserer theologischen Arbeit dem "Zeitgeist", d.h. hier dem Geist Gottes in unserer Zeit stellen. Wahrheit – auch die theologische Wahrheit – muss sich immer in ihren Konkretionen als richtig erweisen, und zwar bezogen auf gegenwärtige Situationen und Menschen.

Auch unsere theologische Identität als rheinische Kirche ist immer wieder neu zu erklären und fortzuentwickeln. Ihr Wahrheitsanspruch ist nur berechtigt, wenn er anschlussfähig bleibt für die Wahrheiten der gesamten Kirche Jesu Christi.

Jesus Christus als das eine Wort Gottes ist nicht allein identisch mit der jesuanischen Predigt und Lehre. Vielmehr bezeugen wir als Kirche den ganzen Menschen Jesus von Nazareth - gerade auch in seinem dienenden, diakonischen Handeln an und für die Menschen - als das inkarnierte Gotteswort. Missionarische Kirche Jesu Christi ist deshalb immer auch diakonische Kirche, diakonische Kirche auch missionarische.

Die Evangelische Kirche im Rheinland weiß sich in ihren theologischen Äußerungen und Herausforderungen angewiesen und bezogen auf die weltweite ökumenische Gemeinschaft mit Partnerkirchen. Dabei versteht sie ihr eigenes Zeugnis als fragmentarischen, aber auch unverwechselbaren Teil der weltweiten Kirche Jesu Christi. Wir tradieren und pflegen unser "rheinisches Profil" im Rahmen und nicht auf Kosten des deutschen und europäischen Protestantismus.

Und wir sind in kritischer Solidarität mit unseren römisch-katholischen und orthodoxen Schwestern und Brüdern offen für das gemeinsame Zeugnis von der uns in Jesus Christus erschienenen heilsamen Gnade Gottes.

 

II.1       Missionarische Kirche

Die öffentliche Wahrnehmung vom protestantischen Profil und die Würdigung unserer Arbeit durch kirchenferne und kirchenkritische Personen entspricht einer Entwicklung, die ebenso erfreulich wie herausfordernd ist. Das "Spezialengagement Mission" einzelner Gruppen aus dem Bereich unseres Pietismus, der landeskirchlichen Gemein­schaften und deren Verbände ist in weiten Teilen zu einer bewussten Querschnittsaufgabe aller kirchlichen und diakonischen Arbeit geworden.

Ich begrüße die Impulse, welche von den volksmissionarischen Ämtern über die "Missionssynode" der EKD 1999 in Leipzig reichen bis hin zur Arbeit vor Ort: Glaubenskurse, offene Kirche, Cityarbeit, Airport- und Notfallseelsorge, Missionale, Gospelkirchentage, Stadtkirchentage und vieles mehr.

Die Klage von Heinrich Albertz aus den 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, dass der deutsche Protestantismus seiner Kraft beraubt würde durch die wechselseitige Ablehnung von sog. Frommen und Liberalen, liegt hinter uns. Längst sind Gemeindeaufbaukonzepte und Prioritätendiskussionen in den Gemeinden missionarisch ausgerichtet. Aber nicht nur dort. Es existieren eindrückliche Aufbrüche konzeptio­neller Art: vom gemeinsamen ACK-Missionskonzept bis zur Lehrge­sprächsgruppe "Mission in Europa" der Leuenberger Kirchen­gemeinschaft. Auch unsere Mitgliedschaft in der VEM bedarf unter diesem Gesichtspunkt einer neuer Aufmerksamkeit. Wir erleben eine erfreuliche Entwicklung, die wir verstärken und vorantreiben.

 

II.2       Diakonische Kirche

Diakonische Kirche gibt erfahrbar weiter, was die Zuwendung Gottes konkret bedeutet. Diakonisches Leben der Kirche ist gesellschaftlich akzeptiert und wird erwartet, wie Umfragen immer wieder bestätigen. Verstärkt sollten wir dafür Sorge tragen, dass Diakonie als Lebensform unserer Kirche auch ausdrücklich zur Sprache gebracht wird. Gemeinden und Diakonie gehen hier besondere Wege, die wir - ohne unmittelbare landeskirchliche Verantwortung übernehmen zu können -, zur Kenntnis nehmen sollten. Auf drei grenzüberschreitende Lebensgestalten der Evangelische Kirche im Rheinland als diakonische Kirche möchte ich Sie hinweisen und auf eine wichtige Form diakonisch geprägten Gemeindeaufbaus.

-    Seit zehn Jahren unterhält das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche im Rheinland mit einigen seiner Mitglieder eine Partnerschaft zum Aufbau sozialer Arbeit in der Stadt und Region Wologda, in Russland, etwa 600 km nordöstlich von Moskau gelegen. Diese Partnerschaft erfolgt in enger Zusammenarbeit mit der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Neben dem Aufbau von Jugend- und Familien-Strukturen geht es gegenwärtig um den Aufbau eines   Familienzentrums der russisch-orthodoxen Kirche sowie um die Beratung und Begleitung von Sozialstationen in der Stadt und um die Hospizarbeit in einer orthodoxen Gemeinde. Das Diakonische Werk Rheinland sieht in dieser Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Aussöhnung und zum gerechten Miteinander der Völker in Frieden und Freiheit.

-    Die Evangelische Kirchengemeinde Wassenberg, der Kirchenkreis Jülich und die aus der Arbeit der Evangelischen Akademie in Mülheim hervorgegangene Initiative Pskow haben eine beein­druckende Behindertenarbeit in der Stadt Pskow aufgebaut. Neben einer Behindertenschule, der bisher einzigen im gesamten Russland, konnte Ende September 2003 eine Behindertenwerkstatt durch den russisch-orthodoxen Erzbischof der Stadt eingesegnet werden. Durch die jahrelangen Kontakte hat sich ein hervorragendes Arbeits­verhältnis und ein vertrauensvolles Miteinander mit den Verant­wortlichen der Stadt Pskow entwickelt. Auch die zunächst zögerliche russisch-orthodoxe Kirche unterstützt mittlerweile diese Projekte.

-    Bereits bei den Recherchen nach individuellen Schicksalen im Rahmen des im Jahre 2002 abgeschlossenen historischen Projektes zum Thema Zwangsarbeit kam die Frage auf, wie mit den allein schon aus Gründen der Dokumentation gesuchten Kontakten zu Überlebenden der Zwangsarbeit in kirchlichen Einrichtungen umgegangen werden sollte.

      Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland beschloss unter dem Eindruck erster Zwischenergebnisse am 27. April 2001, über die bereits im Jahre 2000 gezahlte Zustiftung zur Bundesstiftung für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ("Erinnerung, Verantwortung und Zukunft") hinaus ein Begegnungs- und Versöhnungsprojekt zu initiieren, das die Verschleppung hunderttausender Menschen aus den von der deutschen Wehrmacht okkupierten Ländern in Osteuropa in Erinnerung halten, dokumentieren und gleichzeitig Lernfelder für zivilgesellschaftliche Prozesse eröffnen sollte.

 

Nach ersten Kontakten mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der Ukraine, die in kirchlichen bzw. diakonischen Einrichtungen im Rheinland zur Arbeit gezwungen worden waren, kam es im November 2002 zu einem ersten Treffen in Kiew. Hier wurde eine Einladung zu einer Rückbegegnung im April 2003 im Rheinland ausgesprochen.

 

Der Besuch wurde zum großen Teil von der Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gefördert. Er fand vom 7. bis 14. April 2003 in Düsseldorf, Bad Kreuznach, Ehringshausen, Saarbrücken, Trier, Simmern, Orsoy und Mülheim/Ruhr statt, wobei immer die jeweiligen Arbeitsorte besucht und Treffen mit Jugendlichen in Berufsschulen organisiert wurden.

 

Bei dieser Rückbegegnung waren neben der Übergabe materieller Nothilfen an die Betroffenen durch die Einrichtungen die menschlichen Begegnungen von herausragender Bedeutung. Sie ermöglichten ein neues Verstehen der vergangenen Erfahrungen und der gegenwärtigen Lebenssituationen. Die Gäste haben durch die Einladung und den Besuch eine Wertschätzung und Anerkennung erfahren, die viele von ihnen als eine symbolische Kompensation für die erlittene Zwangsarbeit verstanden haben. Dass es jedoch auch in umgekehrter Form vielen der ehemaligen Zwangsarbeiter/innen möglich war, Dankbarkeit gegenüber ehemaligen Mitarbeitern zu bezeugen, die sich ihnen gegenüber in der damaligen Zeit "menschlich" verhalten haben (z.B. Besuch an den Gräbern verstorbener Diakonissen), markiert eine Souveränität der Betroffenen, die sie aus der passiven Opferrolle herausführte. (vgl. den Brief Anlage 1).

Die bereits im Vorfeld des Besuches angedachte Weiterarbeit in Form des Aufbaus einer Apotheke und die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Strukturen hat mittlerweile Gestalt gewonnen. Es wurde von der Evangelischen Kirche im Rheinland ein zunächst auf drei Jahre angelegtes Projekt bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) initiiert, das verschiedene Komponenten zum Inhalt hat. Erstens geht es dabei um die Weiterbetreuung der ehemaligen Zwangsarbeiter/innen in der Ukraine, bei denen angesichts der schwierigen gesellschaftlichen Situation psychosoziale Nothilfe (Medikamente etc.) zu leisten ist. Hierfür wird eine Mitarbeiterin von ASF ein Koordinierungsbüro in Kiew aufbauen, das sich mit der dortigen Evangelischen Gemeinde (betreut durch Pfarrer Sacchi von der Ev.-luth. Kirche Bayern) und weiteren Nichtregierungsorganisationen vernetzen soll. Von ASF werden zudem Freiwillige zur Unterstützung der ehemaligen Zwangsarbeiter/-innen eingesetzt, deren Wirken abgestimmt werden muss. Zweitens gibt es im Sommer 2004 ein erstes Sommerlager für deutsche und ukrainische Jugendliche, die auch an gemeinsamen Projekten (z.B. Aufbau eines Altenheims für ehemalige Zwangsarbeiter/-innen) arbeiten sollen. Hieraus sollen weitere Aktivitäten für den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen erwachsen. Neben der Evangelischen Kirche im Rheinland werden sich auch weitere Landeskirchen (Ev.-Luth. Kirche in Bayern, Ev. Kirche Baden, Kirchenprovinz Sachsen) wie wahrscheinlich auch die EKD an diesem Projekt finanziell beteiligen.

 

-    Menschen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis "in die Heimat" kommen wollen, haben nach Artikel 116 GG ein Recht dazu; davon haben Hunderttausende Gebrauch gemacht und tun es immer noch.

Auch unsere Gemeinden tragen einen Gewinn davon, denn mehr als 50 % der Aussiedlerinnen und Aussiedler geben an, evangelisch zu sein. Über 40.000 Evangelische sind in den letzten vier Jahren Mitglieder unserer Gemeinden geworden.

In den Gemeinden sind Ehren- und Hauptamtliche in Kirche und Diakonie engagiert dabei, die Neubürgerinnen und Neubürger mit den Verhältnissen in der neuen Heimat vertraut zu machen.

Allerdings ergeben sich auch Irritationen und Missverständnisse. Neubürger wie Einheimische unterschätzen die unterschiedliche Mentalität und Tradition, das andere Zeit-, Geschwindigkeits- und Lebensgefühl. Hier sind Behutsamkeit, Geduld und Stehvermögen verlangt.

Die evangelische Kirchengemeinde Hilden und unser Schulzentrum in Hilden haben vor Jahren ein interessantes differenziertes Projekt der Partnerschaft mit der Ev.-Luth. Gemeinde in Saratov (Wolga) begonnen.

Jugendliche des Schulzentrums fahren seither regelmäßig in die Wolga-Region und ebenso regelmäßig kommen Jugendliche von dort nach Hilden. Nach den Jugendlichen sind jetzt auch die Erwachsenen einander begegnet. Briefkontakte, Einzelfallhilfen, Studierendenaustausch sind die Folge der Partnerschaft.

Gelernt wird so auf beiden Seiten. Gelernt wird, dass die Welt an der Wolga nach 80 Jahren Kommunismus anders ist als bei uns; gelernt wird, dass der ‚goldene Westen‘ eine Erfindung inszenierter Träume und Sehnsüchte ist. Ein besonders herausragendes Projekt ist das Beraterprojekt ‚FANAL‘ an dem inzwischen Jugendliche aus Hilden, Danzig, Saratov und Lipare teilnehmen und das im Sommer 2005 mit einem Straßen-Theater-Festival in Saratov seinen Höhepunkt erreicht.

Vergleichbar dem Beraterprojekt ist eine Gedenkstätten-Fahrt im Juni 2004 nach Wolgograd, die Jugendliche aus Hilden, Saratov, Samara, Köln und Wolgograd miteinander verbinden wird.

 

Die Arbeit mit Aussiedlerinnen und Aussiedlern muss für Horizonte, die sich erst im Kennenlernen der Ausgangssituation ergeben, geöffnet werden. Dem dienen die oben beschriebenen Projekte.

Angemessene Angebote für die Ankommenden in unseren Gemeinden, die den schwierigen Prozess der Eingewöhnung und Ankunft in der ‚fremden Heimat‘ Deutschland erleichtern und gestalten sollen, können auf diesem Hintergrund erst entwickelt werden.

 

II.3       Protestantismus in Deutschland und Europa

II.3.1      Union Evangelischer Kirchen

Der deutsche Protestantismus geht mit ersten Schritten auf eine Vereinfachung seiner Strukturen zu. Eine Woche, nach dem die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) empfohlen hat, ihr eigenes Kirchenamt in das der Evangelischen Kirche in Deutschland einzugliedern, wurde am 18. Oktober der erste reale Reformschritt vollzogen. An diesem Tag trat in Erfurt die Vollkonferenz der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) zur konstituierenden Sitzung und Wahl eines Präsidiums zusammen.

Für die Evangelische Kirche der Union ging am 1. Juli 2003 eine fast 200jährige Geschichte zu Ende. An diesem Tag trat die UEK-Grundordnung in Kraft. Die EKU war aus dem 1817 in Preußen vollzogenen Zusammenschluss lutherischer und reformierter Gemeinden entstanden und löste sich nun auf mit dem Ziel "die Einheit der evangelischen Kirche zu fördern". Die Arnoldshainer Konferenz (AKf) wurde dagegen nur knapp 36 Jahre alt.

 

Zur UEK gehören 14 von insgesamt 24 Landeskirchen der EKD, in denen das lutherisch-reformierte oder unierte Bekenntnis gilt. Insgesamt repräsentiert die UEK mit über 13 Millionen Protestanten etwa die Hälfte der EKD. Als konfessionelles Gegenüber besteht die VELKD mit 8 Mitgliedskirchen und etwa 11 Millionen Lutheranern. Die Kirchen von Oldenburg und Württemberg gehören keiner der beiden Organisationen an, haben aber wie der Reformierte Bund einen Gaststatus bei der UEK.

 

Der badische Landesbischof Dr. Ulrich Fischer ist auf der konstituieren­den Sitzung der Vollkonferenz der Union Evangelischer Kirchen in Erfurt zum Vorsitzenden des Präsidiums gewählt worden. Seine Stellvertreter wurden Vizepräsident Christian Drägert und der Görlitzer Provinzial­pfarrer Dr. Hans Wilhelm Pietz.

In Erfurt wurde der Wille zur vertieften theologischen und rechtlichen Zusammenarbeit bekräftigt. Überlegungen zu einer zukünftigen Struktur der EKD, in die nun gliedkirchliche Zusammenschlüsse integriert werden können, gedeihen und gewinnen Plausibilität und Überzeugungskraft. Wir müssen daran arbeiten, dass die provisorische Gestalt der UEK in ihrer jetzigen Form bald überholt sein wird. Die Notwendigkeit zu weitergehender Zusammenarbeit zwischen den EKD-Kirchen ist unabweisbar und wird konkrete Gestalt gewinnen. Auch die lippische, westfälische und rheinische Kirche werden dazu weitere Initiativen entwickeln.

 

II.3.2      Leuenberg

Spätestens seit der Amtszeit von Präses Peter Beier ist der Protestantismus in Europa zu einem wichtigen Thema unserer Landes­kirche geworden. Peter Beier hatte sich mehrfach in der Öffentlichkeit dazu geäußert. Stellvertretend für viele andere engagierte Stellung­nahmen sei aus seiner Prager Rede von 1995 "Die Aufgaben der Kirchen in der Zukunft Europas" zitiert:

"Die Kirchen sind gut beraten, wenn sie ihre europäischen Interessen nicht lobbyistisch, sondern in der überzeugenderen Form begründbarer Partnerschaft wahrnehmen... Andererseits sind die Institutionen der Europäischen Union gut beraten, wenn sie die Stimmen aus den beiden großen christlichen Traditionen rechtzeitig zur Kenntnis nehmen... Die Institution Kirche jedenfalls kann sich weder selbst aus der europäischen Mitverantwortung entlassen noch daraus entlassen werden."

Besonders enge Partnerschaften in Süd- und Westeuropa unterhält die EKiR mit der Vereinigten Protestantischen Kirche von Belgien, den Waldensern in Italien und der Reformierten Kirche von Frankreich (Eglise Réformée de France, ERF). Mit der ERF verbinden sie seit 1994 zwei Abmachungen über die Tätigkeit von Vikarinnen und Vikaren sowie über die befristete Beschäftigung von Pfarrerinnen und Pfarrern der jeweils anderen Kirche, die zu einem lebhaften Austausch geführt und weitere intensive gemeinsame Vorhaben im Bereich der Aus- und Fortbildung nach sich gezogen haben. Mindestens einmal pro Jahr (abgesehen von den Einladungen zu den jeweiligen Synoden) treffen sich Vertreter der ERF und der EKiR zu intensiven zwei- bis dreitägigen Sitzungen in Paris und Düsseldorf über bilaterale und ökumenische Themen. Die größere europäische Dimension des Protestantismus, der sich sowohl die ERF wie die EKiR verpflichtet fühlen, findet darüber hinaus ihren Ausdruck in den regelmäßigen Kolloquien, die beide Partner mit der CEPPLE (Conférence des Eglises Protestantes des Pays Latins d’Europe/ Konferenz der Protestantischen Kirchen Latein-Europas) durchführen. Mitglieder der CEPPLE sind die Minderheitskirchen in Portugal, Spanien, Italien, Frankreich, Belgien und die protestantischen Kirchen in den französischsprachigen Kantonen der Schweiz. Sie entsenden offizielle Delegierte zu diesen Treffen, bisher in Pau (1994, F), Malaga (1996, E), Palermo (1998, I), Sète (1999, F), Braga (P) und im vergangenen Oktober im italienischen Triest . Hauptsächliche Themen sind Fragen zum Selbstverständnis und zur Fremdwahrnehmung des Minderheitenprotestantismus in Politik und Gesellschaft der jeweiligen Länder und im größeren Kontext der Europäischen Union und ihrer Institutionen, sowie die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Kultur und dem Beitrag der Kirchen zu ihr. Presse und Fernsehen sorgten vor Ort jeweils für ein großes und positives Echo. Die ERF, die CEPPLE und wir sind der Meinung, dass diese enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zum Wohle des Protestantismus in Europa unbedingt fortgesetzt werden muss.

In Ostmitteleuropa sind die Kirchen, mit denen die EKiR besonders verbunden ist, die Evangelisch-Augsburgische Kirche und die Reformierte Kirche in Polen, die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder in der Tschechischen Republik, die Reformierte Christliche Kirche (ungarischer Sprache) in der Slowakischen Republik und die Reformierte Kirche in Ungarn.  Regelmäßige Besuche, Gemeindepraktika im Rheinland und Sondervikariate in Polen, Tschechien und Ungarn sowie finanzielle Zuwendungen in beachtlicher Höhe halfen bislang, diese wichtigen Beziehungen zu festigen und zu vertiefen. Dabei erweisen sich das Diakonische Werk Rheinland und das Gustav-Adolf-Werk Rheinland als seit langem bewährte Vermittler, die bei den Partnerkirchen großes Vertrauen genießen. Die Fragen, die mit dem bevorstehenden Beitritt ihrer Länder zur EU auf die Kirchen zukommen, spielen bei diesen Kontakten von Mal zu Mal eine wichtigere Rolle, ebenso wie das neue Verhältnis von Kirche und Staat und die Möglichkeiten (oder Konflikte), die daraus erwachsen. Im Vorfeld wichtiger ökumenischer Ereignisse auf der Ebene von Leuenberg und von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) finden auch Konsultationen statt, um eventuell gemeinsam bestimmte Positionen vertreten zu können.

Die Zeit ist gekommen, die ganze fruchtbare Vielfalt unserer Partnerschaftsbeziehungen in Europa bei einem Treffen sichtbar und erfahrbar zu machen, das im November diesen Jahres in Bonn stattfinden wird. Die Einladungen dazu sind bereits verschickt worden.  Wir wollen von unseren Partnern hören, wie sie unsere Beziehungen beurteilen und gemeinsam darüber beraten, welche Schwerpunkte in den kommenden Jahren zu setzen sind, um unsere Zusammenarbeit noch intensiver zu gestalten. Ich verspreche mir von dieser Bonner Konferenz den Beginn eines ebenso spannenden wie anregenden Prozesses, der die ökumenische Dimension unseres kirchlichen Handelns im Horizont Europas wieder verstärkt in das Bewusstsein aller Ebenen der Landeskirche hebt.

 

In diesem Zusammenhang erlaube ich mir eine Anmerkung zur Debatte über eine europäische Verfassung:

1.  Es darf nicht unterschätzt werden, welche langfristigen Konsequenzen aus der Präambel-Formulierung erwachsen. Deshalb ist die Frage des Gottesbezuges von Bedeutung. Ich plädiere für einen expliziten Gottesbezug.

2.  Die protestantischen Kirchen Europas sind in dieser Sache nicht einig. Die Eglise Reformée de France z.B. ist dem Laizismus der Französischen Republik verpflichtet.

3.  Die Präambel-Formulierung muss berücksichtigen, dass die europäische Kultur wesentliche Impulse auch vom Judentum und durch den Islam empfangen hat. Es darf also keinen christlichen Alleinvertretungsanspruch geben.

4.  Die Verfassungsregelung zur geordneten Zusammenarbeit zwischen europäischen Institutionen und den Kirchen stellen einen erfreulichen Fortschritt dar und sind für die alltägliche Arbeit von großer Bedeutung.

 

II.4       Evangelisch-katholische Ökumene

Ein Rückblick in die Zeit vor 50 Jahren verdeutlicht, welche enorme Entwicklung das Verhältnis zwischen römisch-katholischen Diözesen und evangelischen Landeskirchen im Sinne eines besseren Verständnisses und Miteinanders und gemeinsamen Redens und Handelns genommen hat. Die gemeinsame Verantwortung für die "Woche für das Leben" ist neben vielen anderen Projekten in Kirchengemeinden, Kirchenkreisen und der Landeskirche ein schönes Beispiel ökumenischer Verbundenheit. Auf diesem Hintergrund ist die Wahrnehmung des Erfreulichen aber auch des Irritierenden einzuordnen.

 

II.4.1      Ökumenischer Kirchentag in Berlin

Ein besonders bewegendes Ereignis war für viele Menschen in unserem Land der Ökumenische Kirchentag in Berlin.

Die Zahlen sprechen für sich: fast 200.000 Dauerteilnehmende, 40.000 Mitwirkende, 5.400 Gäste aus 90 Ländern, 2.300 Veranstaltungen, 140.000 Menschen beim zentralen Eröffnungsgottesdienst, 400.000 beim Abend der Begegnung und 200.000 beim Schlussgottesdienst. 2/3 der Teilnehmenden waren Protestanten, 1/3 Katholiken.

 

Die Konzentration und Begeisterung, mit denen gesungen, gebetet und theologische Debatten verfolgt wurden, waren beeindruckend. Dieser Ökumenische Kirchentag war ein Erfolg.

Darüber hinaus war die Beobachtung zu machen, wie stark gerade auch die römisch-katholischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem  gemeinsamen Abendmahl fragen. Bei den vielen Diskussionsforen war es für römisch-katholische Podiumsvertreterinnen und –vertreter nicht leicht, mit den Lehrvorgaben des Vatikan diese Wünsche abzuwehren. Selbst ökumenische Institute hatten im Vorfeld des Kirchentages erklärt, eine gastweise gegenseitige Einladung zum Abendmahl sei theologisch möglich. Irritierend sind deshalb Disziplinarmaßnahmen gegen Menschen, die öffentlich vollzogen, was an  vielen Orten und in vielen Gemeinden in Deutschland sonntäglich geschieht und dem Bedürfnis vieler Christinnen und Christen beider großen Konfessionen entspricht.

Im Bereich unserer Landeskirche ist der emeritierte Theologieprofessor Hasenhüttl von Maßregelungen betroffen. Auch wenn wir die Einzelheiten der innerkatholischen Auseinandersetzungen nicht zu bewerten haben, ist es für unsere Kirche eine schwierige Erfahrung, dass gerade der Vollzug kirchlicher Gemeinschaft zur Bestrafung führt und mancher ökumenische Standard im Miteinander der Gemeinden jenseits des offiziell erlaubten von römisch-katholischer Seite verboten wird.

Allerdings berichte ich auch gerne, dass der Trierer Bischof Dr. Reinhard Marx mich in fairer und brüderlicher Weise vor dem öffentlichen Bekanntwerden über sein Vorgehen informierte und gleichzeitig betonte, dass dies von ihm nicht als ein Akt gegen die Ökumene verstanden wird.

Von, wenn auch prominenten, so doch einigen wenigen römisch-katholischen Stimmen wurde massive Kritik am Ökumenischen Kirchentag geübt. Ich verstehe dies als Ausdruck des Bedürfnisses nach Abgrenzung zur Festigung der eigenen Kirche. Diese Haltung erleichtert das ökumenische Miteinander nicht.

Die Verantwortlichen des Evangelischen Kirchentages und des Katholikentages werden nun festlegen müssen, ob und wann es einen nächsten ökumenischen Kirchentag geben wird. Ich begrüße die Fort­führung ökumenischer Kirchentage, mache aber darauf aufmerksam, dass nur eine begrenzte Zahl kirchlicher Großereignisse in unserem Raum zu verkraften ist: 2005 römisch-katholisches Weltjugendtreffen mit dem Papst in Köln (und Evange­lischer Kirchentag in Hannover), 2006 Katholikentag in Saarbrücken, 2007 Evangelischer Kirchentag in Köln. Die Planungen für einen weiteren ökumenischen Kirchentag müssen diese Konstellation berücksichtigen.

Wir als rheinische Kirche freuen uns jedenfalls darüber, dass wir für den 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag nach Köln im Jahre 2007 einladen dürfen.

Wir sind aber auch für ein Gespräch darüber offen, schon im Jahre 2007 den nächsten ökumenischen Kirchentag zu veranstalten.

 

II.4.2      Comunità di Sant‘Egidio

In diesem Jahr wurde ich zum ersten Mal auf die Comunità di Sant‘Egidio aufmerksam. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Gemeinschaft innerhalb der römisch-katholischen Kirche mit Sitz in Rom, zu der weltweit ca. 40.000 Menschen gehören. Die Mitgliedschaft evangelischer Christinnen und Christen ist möglich. Die Mitglieder der Gemeinschaft treffen sich zu täglicher Bibellese- und -auslegung. Sie wissen sich dem Frieden, der Freundschaft mit den Armen und der Pflege des Märtyrergedenkens verpflichtet. Der Gemeinschaft ist es gelungen, den Frieden in Mosambique durch Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien in Rom zu vermitteln.

Ein besonderes Erlebnis ökumenischer Geschwisterlichkeit wurde mir durch diese Gemeinschaft vermittelt. Am 1. Februar 2003 fand in der Basilika St. Bartholomäus auf einer Tiberinsel in Rom eine eindrucksvoll gestaltete ökumenische Gedächtnisfeier zum Gedenken an den im KZ Buchenwald ermordeten Pfarrer Paul Schneider statt. Neben mir und meiner Frau waren Teilnehmer Kardinal Walter Kaspar, Dr. Ishmael Noko, der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Familienangehörige Paul Schneiders und zahlreiche ökumenische Vertreter römischer Pfarreien.

Von der o.g. Gemeinschaft wurde im September dieses Jahres das Weltfriedensgebet in Aachen veranstaltet. Die Gesprächs- und Diskussionsforen waren vom Geist des Friedens und der Versöhnung bestimmt. Gerne bin ich der Einladung zur Teilnahme gefolgt und habe einen Beitrag (siehe Anlage 2) zum Verständnis der Märtyrerinnen und Märtyrer auf einem der Foren geleistet.

Befremdlich war für mich in diesem Rahmen das Votum, welches Metropolit Kyrill als Vorsitzender des Außenamtes der Russisch-Orthodoxen Kirche bei der Eröffnung abgegeben hat. Er sprach am 7. September von zwei Systemen, die sich nach seiner Einschätzung bedrohen: "Das säkularisierte, humanistische System und das traditionelle religiöse System". Das letztere werde durch die orthodoxe Welt des Ostens sowie durch einen wertgebundenen Islam repräsentiert während das erstere dem individualistischen, liberalistischen Gesellschaftskonzept Westeuropas und Nordamerikas entspräche.

Nach Metropolit Kyrills’s Votum hebe gerade dieses System den "Vorrang des irdischen Lebens über das ewige, den Vorrang der persönlichen Freiheiten und Rechte über die moralischen Anforderungen des Glaubens und der Werte einer religiösen Lebensart" hervor. Diese Entwicklung sei eine unmittelbare Folge protestantischen Gedankenguts. Nach seiner Einschätzung sei "der Protestantismus als solcher aus einem Versuch entstanden …, eine liberale Interpretation der christlichen Botschaft zu geben".

Diese Einschätzung ist historisch falsch. Denn das Verdienst von Martin Luther, Johannes Calvin und ihren Mitstreitern lag doch vor allem darin, dass einer erstarrten und in politischen Interessen verfilzten und verweltlichten Großkirche der Weg in die Wahrheit und Freiheit des Evangeliums gewiesen wurde. Diese Wahrheit und Freiheit sind keine dogmatischen Formeln, sondern werden in jeweiligen, sozialen, historischen und politischen Kontexten spirituell erlebt und gelebt.

Dagegen halte ich, dass die evangelischen Kirchen ein Profil haben, welches die Entwicklung in Europa durch die Verbindung von Reformation und Aufklärung, Freiheit des Denkens und Forschens und persönlicher Verantwortung des Einzelnen entscheidend geprägt und zur Entwicklung einer humanen Gesellschaft beigetragen haben.

 

II.5       Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen

Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen bietet eine zuverlässige Basis gemeinsamer Arbeit. Sie war im Jahre 2003 der zentrale Veranstalter des Jahres der Bibel. 15.000 Kirchengemeinden haben diese Aktion mit Leben erfüllt durch z.B. Bibelwochen, Bibelkurse, Ausstellungen, Gottesdienste und andere kreative Aktionen. An der Eröffnung der Bibelbox in Köln war ich beteiligt. Ca. 150.000 Veranstaltungen hatten zur Konsequenz, dass nach einer Emnid-Umfrage für 39 % der Bundesbürger das Jahr der Bibel ein Begriff war. Unter der Überschrift "Bibel im kulturellen Gedächtnis" war die Bibel auch Schwerpunktthema der Trierer Tagung der EKD-Synode 2003. Die lesenswerten Vorträge und Reden nebst Synodalkundgebung sind Ihnen ausgehändigt worden.

Ich freue mich über den Erfolg des "Jahres der Bibel" und hoffe, dass die Bibel nicht nur zum kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft gehört, sondern auch das aktuelle Denken gründet und bereichert.

Die nordrhein-westfälische ACK hat mich zweimal zu Begegnungen eingeladen. Der Austausch mit Geschwistern aus den Freikirchen, der alt-katholischen Kirche, der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche unterstrich die Notwendigkeit, um der Überzeugungskraft des Glaubenszeugnisses willen und nach der Aufforderung Jesu (Joh. 17, 21: damit sie alle eins seien.) sich unablässig um weitere Gemeinsamkeit zu bemühen.

Diese Begegnungen verdeutlichten auch, dass Ablehnungen und Kontroversen der Vergangenheit dem vertrauensvollen Gespräch und wechselseitigen Respekt gewichen sind. Unter diesen Voraussetzungen kann auch die Frage angesprochen werden, dass nach unserem Verständnis der vollen Beteiligung von Frauen an allen geistlichen Diensten und Ämtern biblische Gründe nicht im Wege stehen.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass uns mit der methodistischen Kirche in Deutschland Abendmahlsgemeinschaft verbindet und mit der alt-katholischen Kirche eine Vereinbarung über „Eucharistische Gast­freundschaft“. Ich habe den Eindruck, dass dieses Faktum im Leben unserer Gemeinden kaum bewusst ist und wenig Konkretionen findet. Die Qualität ökumenischer Gemeinschaft muss aber im Leben der Christinnen und Christen in den Gemeinden erfahren werden, so dass die Pflege dieser Gemeinschaft neuer Aufmerksamkeit bedarf.

 

II.6       Mission und Entwicklung

Mission und Entwicklung gehören zu den markanten Aufgaben der Evangelischen Kirche im Rheinland, die von den Kirchengemeinden, den Kirchenkreisen und der Landeskirche engagiert wahrgenommen werden.

 

II.6.1      Vereinte Evangelische Mission

Am 10. Januar 1994 hat die Landessynode (Beschluss Nr. 36) die Satzung der Vereinten Evangelischen Mission ratifiziert und damit die Mitgliedschaft in der internationalen Missionsgemeinschaft, die 1996 in Bethel feierlich konstituiert wurde, beschlossen.

10 Jahre nach unserem Beschluss können wir dankbar feststellen, dass die VEM ihrem Auftrag treu ist, nämlich:

-          zu einer anbetenden, lernenden und dienenden Gemeinschaft zusammenzuwachsen,

-          Gaben, Einsichten und Verantwortung zu teilen,

-          alle Menschen zu Umkehr und neuem Leben zu rufen, und

-          im Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung das Reich Gottes zu bezeugen.

Insbesondere die Menschenrechtsarbeit der VEM hat ein in der Bundesrepublik auch politisch und zivilgesellschaftlich anerkanntes Profil gewonnen. Für die Menschen im Kongo, in Ruanda, in Sri Lanka und Indonesien ist diese Arbeit ein Zeichen der Hoffnung.

Die jährlichen Aktionen zum Tag der Menschenrechte sind in unseren Gemeinden bekannt. Die Poster sehen wir allerorten.

Hervorzuheben sind die Bemühungen der VEM, zur Gendergerechtigkeit beizutragen, durch die ökumenischen Wohngemeinschaften und das      Ecumenical Leadership Training junge Erwachsene mit dem missionarischen Auftrag vertraut zu machen, mit ökumenischem Liedgut und liturgischen Beiträgen die Missionsgemeinschaft in den Gemeinden zu verankern.

110 kreiskirchliche Partnerschaften im Verbund der VEM haben in den deutschen Mitgliedskirchen viel zum Verständnis anderer spiritueller Traditionen beigetragen.

Die VEM ist unserer Kirche in der Beurteilung wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen eine große Hilfe. Wir erfahren von den Mitgliedskirchen in Afrika und Asien aus erster Hand, welche prekären Folgen die so genannte freie Marktwirtschaft für die Mehrheit der Bevölkerung hat. Wir hören allerdings auch, dass diese Mitgliedskirchen mittlerweile nicht mehr allein transnationale Konzerne und westliche Regierungen kritisieren, sondern gleichermaßen ihre eigenen Regierungen und Wirtschaftseliten. Das mindert nicht unsere im o. g. Beschluss eingegangene Verpflichtung, "angesichts des Gefälles von Reichtum und Macht zwischen Nord und Süd ökumenisches Teilen von Ressourcen und Macht auch über das UiM-Programm hinaus" zu praktizieren.

In diesem Zusammenhang sind die Bemühungen der Abteilung III (Ökumene, Mission, Religionen) zu sehen, die bis dato geleisteten bilateralen Beiträge zur Förderung der Infrastruktur der VEM-Mitgliedskirchen in Afrika und Asien zurückzufahren, um bei knapper werdenden Haushaltsmitteln genügend finanziellen Gestaltungsspielraum für entwicklungspolitische Bildungs- und Lobbyprojekte zu behalten.

Dass dieser Paradigmenwechsel auch irritiert, haben wir 2003 in der Auseinandersetzung mit der Leitung der HKBP erfahren. Sie sieht die bilaterale Hilfe als Zeichen der besonderen Beziehung zwischen HKBP und EKiR. Es ist nicht leicht, unsere Partner davon zu überzeugen, dass nicht nur finanzielle Engpässe, sondern auch konzeptionelle Überlegungen dazu geführt haben, finanzielle Hilfe im Haushalt der VEM zu konzentrieren.

Zu erwähnen ist ferner die intensive Arbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. Über die daraus resultierenden Impulse – z.B. der Wunsch nach korporativer Mitgliedschaft einiger dieser Gemeinden in unserer Kirche, Anfragen an unser kirchliches Leben aus pfingstkirchlicher Perspektive – wird in den kommenden Monaten und Jahren noch ausführlich zu reden sein.

 

Damit komme ich zu einigen offenen Fragen:

1.      Welchen Beitrag leistet die Missionsgemeinschaft zur Auslegung des Wortes Gottes und zum missionarischen Dienst in Deutschland (neue Bereiche gemeinsamer Mission)?

2.      Wie werden die mit der Globalisierung einhergehenden wirtschaft­lichen, gesellschaftspolitischen, kulturellen und religiösen Fragen in der VEM bearbeitet?

3.      Welchen Beitrag leistet die VEM zu einem realitätsbewussten interreligiösen Dialog?

4.      Was trägt die VEM zum Verständnis von Diakonie, Seelsorge, kirchenleitendem Handeln und des Verhältnisses von Kirche und Staat bzw. ethnischen Gruppen bei?

Ich meine, dass die themenzentrierte Interaktion der Mitgliedskirchen der VEM acht Jahre nach ihrer Konstituierung und 175 Jahre nach der Gründung der Rheinischen Missionsgesellschaft pointierter und wirksamer sein könnte. Im Jahr 2006 sollte der Rat der VEM die Gelegenheit nutzen, die erste Dekade ihres Dienstes zu evaluieren, um die weitere Arbeit unter zunehmend schwierigen Bedingungen überzeugend fortsetzen zu können. Der Synode sollte darüber berichtet werden.

 

II.6.2      Namibia

Genau heute vor 100 Jahren begann der bewaffnete Widerstand der Herero gegen die Zwangsherrschaft der deutschen Kolonialverwaltung und gegen die raffgierige Kreditpraxis deutscher Händler in Namibia. Wir haben davon gestern im Grußwort von Bruder Kamho gehört und im Filmausschnitt einiges gesehen. Die Nama und Damara schlossen sich dem Widerstand an.

Die Reichsregierung antwortete mit einem Vernichtungskrieg, der von der neuesten Geschichtsforschung als der erste Genozid im 20. Jahrhundert bezeichnet wird. Die Volkszählung von 1911 zeigt, dass von etwa 80.000 Herero 15.130 und von ca. 20.000 Nama 9.780 überlebt haben. Inhaftierung in Konzentrationslagern, Landenteignung, Vertrei­bung, Passgesetze, Zwangsarbeit und eine rassistische Ehepolitik folgten dem Krieg. Die gegenwärtig immer brisanter werdende Landfrage ist unmittelbares Ergebnis der Entrechtung der einheimischen Bevölkerung in Zentral- und Südnamibia.

Die in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika tätigen Missionare der Rheinischen Missionsgesellschaft spielten eine zwiespältige Rolle bei der Durchführung kolonialer Pläne, als Partner beim Abschluss sogenannter Schutzverträge und als Berater bei der Durchführung kolonialer Programme. Die Schuld der Mission während der politischen Krise in den Jahren 1904 bis 1908 ist einer nicht schriftgemäßen Neutralität, einem nicht schriftgemäßen Patriotismus und einer falschen Interpretation der Lehre Luthers von den zwei Reichen zuzuschreiben. In den kritischsten Augenblicken hat sich die Rheinische Missions­gesellschaft des Stillschweigens schuldig gemacht, so Dr. Lukas de Vries.

Erst 1990, anlässlich der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten Namibias, erwähnte die VEM die Mitschuld am Genozid; im Jahr 2000 spricht der Ratsvorsitzende Manfred Kock bei einem Besuch der EKD in Namibia "vom dunkelsten Kapitel in der gemeinsamen Geschichte Deutschlands und Namibias".

Die Evangelische Kirche im Rheinland hat 1990 durch ein Partnerschaftsabkommen mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Republik Namibia ihre besondere Verantwortung für die Geschichte der Rheinischen Missionsgesellschaft bzw. der Vereinten Evangelischen Mission in Namibia anerkannt und daraus ihre besondere Verantwortung für die Zukunft Namibias und ihrer Kirchen abgeleitet.

"1904 erinnern, versöhnen, gemeinsame Zukunft gestalten" ist das Motto einer namibischen Initiativgruppe, der auch Bischof Kameeta und der deutschsprachige Bischof Keding angehört. Die mit der ELCRN verbundenen Partnerkirchenkreise unserer Kirche, Mitarbeitende der VEM und des Gemeindedienstes für Mission und Ökumene haben gemeinsam mit unserer Abteilung III und in Absprache mit der namibischen Initiativgruppe für das Gedenkjahr 2004 Material für den Unterricht und für Gottesdienste erstellt, das Sie auch hier bekommen können.

Fünf Kirchenkreise haben einen Antrag an die Landessynode gerichtet, mit einer öffentlichen Erklärung Stellung zum Genozid und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen für unsere Kirche, für die VEM und die EKD sowie für unsere Bundesregierung zu beziehen.

Die Archiv- und Museumsstiftung wird anlässlich einer zentralen Veranstaltung am 30. Januar, bei der Sie auch den ganzen Film "Waterberg" sehen können, eine Ausstellung zum Thema eröffnen. Sie hat auch eine Wanderausstellung für die Kirchenkreise und Gemeinden vorbereitet. Im Juli wird mit namibischen Partnern ein Seminar für den südrheinischen Bereich stattfinden.

Das Pastoralkolleg veranstaltet im September mit Pfarrerinnen und Pfarrern der ELCRN in Namibia eine Begegnung zum Thema, und fünf Frauen unserer Kirche werden sich im Frühjahr mit einer Frauengruppe der VEM in Namibia mit der kolonialen Vergangenheit und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein beschäftigen.

Wir wissen dank des Apostels Paulus, dass Versöhnung kein Prozess ist, der von politischen Eliten als Staatsprogramm dekretiert werden kann. Wir sehen in Namibia, dass die aus dem Genozid resultierende Landfrage immer virulenter wird und dass es nicht ausreicht, mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Vergangenheit mehr oder weniger stillschweigend zu begraben. Die Nachkommen der Opfer des Genozids erwarten, dass diese gewürdigt werden. Sie erwarten, dass wir als Glieder des einen Leibes Christi die Wunden der Vergangenheit wahrnehmen und uns im Vertrauen auf Gottes heilende Kraft um eine versöhnte Zukunft bemühen.

Das geht nicht ohne Anerkennung von Schuld und Aufgabe von Privilegien. Der Außenminister unserer Regierung spricht nicht in unserem Namen, wenn er sich anlässlich

seines jüngsten Besuchs in Namibia (Oktober 2003)  zwar zur Verantwortung Deutschlands für seine Kolonialgeschichte bekennt, aber eine formelle Entschuldigung für während der deutschen Kolonialherrschaft getanes Unrecht ablehnt, weil diese "entschädigungsrelevant" werden könnte.

 

Ich hoffe, dass von der Missionsgemeinschaft VEM 100 Jahre nach Beginn des antikolonialen Kriegs gegen die Herero, Damara und Nama auch Konsequenzen für die aktuelle Missionstheologie und -praxis in Ruanda, im Kongo und in Westpapua gezogen werden.

Ich hoffe aber auch, dass wir mit unseren jeweiligen Regierungen im Vertrauen auf die richtungsweisende Kraft des Wortes Gottes deutlicher über unrechte Handels- und Finanzbeziehungen, über Verletzung von Menschenrechten und über Korruption reden.

Und ich hoffe schließlich, dass unsere Bundesregierung mit Unterstützung der VEM, der EKD und aller, die sich in unserem Land für Namibia engagieren, in der Dekade zur Überwindung von Gewalt einen effektiven Beitrag zur Lösung der Landfrage leistet, damit den Menschen Namibias das Schicksal Zimbabwes erspart bleibt.

 

II.6.3      Aidsprojekt

HIV/Aids ist eine der größten Herausforderungen für die Kirchen in Afrika und Asien und auch weltweit zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

"The Church has got Aids" - "Die Kirche hat Aids" - so formulierte Bischof Dr. Zephania Kameeta, der Moderator der Vereinten Evangelischen Mission, schon vor über einem Jahr. Er bezog sich damit auf die Situation in unserer Partnerkirche der ELCRN (Evangelical Lutheran Church in the Republic of Namibia).

Dort leben derzeit mehr als 22,5% der Bevölkerung mit dem HIV-Virus. In Namibia wird sich ein Jugendlicher, der im Jahr 2000 15 Jahre alt war, mit einer Wahrscheinlichkeit von 60% in seinem Leben mit dem HIV-Virus infizieren. In unserer Partnerkirche in Namibia gibt es fast keine Familie mehr, in der nicht ein Angehöriger von HIV/Aids betroffen ist. In Botswana, mit deren lutherischer Kirche wir über die VEM ebenfalls verbunden sind, ist die Infektionsrate im letzten Jahr bereits auf fast 39% der Gesamtbevölkerung gestiegen. In beiden Ländern, wie in allen anderen Heimatländern der mit uns durch die VEM verbundenen Partnerkirchen in Afrika und in Asien steigen die Zahlen der Neuinfektionen stetig weiter; eine Wende, wie sie in Uganda bereits eingetreten ist, scheint hier noch nicht in Sicht. In zehn Jahren wird die Lebenserwartung in den meisten Ländern des südlichen Afrikas unter 40 Jahren liegen, wenn es keine einschneidenden Veränderungen gibt. In Botswana liegt die Lebenserwartung bereits bei 39 Jahren.

20 Jahre nach der Entdeckung des Virus werden in Afrika südlich der Sahara die derzeit schlimmsten Folgen der Epidemie sichtbar. Kinder werden zu Aids-Waisen, die Generation der erwerbstätigen und ausgebildeten Menschen zwischen 18 und 45 Jahren ist überproportional betroffen. Unternehmen spüren Mangel an Facharbeiterinnen und Facharbeitern. Das Bruttosozialprodukt der Länder, die nach dem Ende der Kolonialzeit und Apartheid eine eigene Stabilität erreicht hatten, sinkt. Armut, Bereitschaft zu Gewalt, Engpässe im Bildungssystem, erhöhte Ausgaben im Gesundheitswesen - all dies sind nur einige Folgen, die Länder wie Botswana, Namibia, Tansania, Südafrika, Sambia, Mozambique u.a. mehr und mehr betreffen. In Malawi wird bis zum Jahre 2005 die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung an HIV/Aids sterben. 70% der Krankenhauspatienten leiden dort an HIV/Aids.

D. h. nicht nur die Kirche, sondern fast ein ganzer Kontinent hat Aids. Aber auch im Osten Europas steigt die Aidsrate stetig an und auch in Deutschland infizieren sich jährlich ca. 2.000 Menschen neu mit dem HIV-Virus, wobei derzeit die Zahl der Neuinfektionen unter Frauen besonders ansteigt.

 

Vor diesem Hintergrund ist die Gründung des Aktionsbündnisses gegen Aids zu sehen, das maßgeblich sowohl auf die Ecumenical Advocacy Alliance des ÖRK sowie auf den Besuch einer hochrangigen EKD-Delegation in Südafrika im Dezember 2000 unter Leitung des Ratsvor­sitzenden Präses Manfred Kock zurückgeht. Er forderte damals als Konsequenz von den deutschen Kirchen und Hilfswerken ein wesentlich stärkeres Engagement gegen Aids. Als Zusammenschluss kirchlicher und nichtkirchlicher Gruppen und Organisationen der Aids- und Entwick­lungszusammenarbeit will nun das Aktionsbündnis, in dem sich für uns auch die Vereinte Evangelische Mission besonders engagiert, dafür Sorge tragen, dass der notwendige deutsche Beitrag zur weltweiten Prävention und Bekämpfung von HIV/Aids geleistet wird.

 

Ziele des Aktionsbündnisses sind u.a.:

-          HIV/Aids zum Thema in der Öffentlichkeit zu machen

-          HIV/Aids aus der Tabu-Zone herauszuholen und auch in Deutschland Menschen ein "positives Leben" zu ermöglichen

-          die Bundesregierung aufzufordern, ihren notwendigen Beitrag zum Globalfonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, TB und Malaria bereitzustellen

-          Wirtschaftsunternehmen darauf anzusprechen, für HIV-Betroffene-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre Familien an den jeweiligen Standorten Verantwortung zu übernehmen,

-          auf die Pharma-Industrie einzuwirken, nicht Patentrechtsabkommen höher als das Leben von Menschen zu setzen.

 

Durch die von der Kirchenleitung beschlossene Mitträgerschaft des  Aktionsbündnisses gegen Aids will die Evangelische Kirche im Rheinland ihrer Solidarität mit den Menschen, die von HIV betroffen sind, in der weltweiten Ökumene wie auch bei uns besonderen Ausdruck geben.

Die Kirchenleitung hat auch Kirchenkreise und Kirchengemeinden gebeten, sich diesem Bündnis anzuschließen  und das Thema HIV/Aids auch in ihrer gemeindlichen Arbeit  sowie in ihren Partnerschaftskontakten zum Thema zu machen.

Diese Bitte möchte ich Ihnen hier noch einmal besonders ans Herz legen.

Darüber hinaus engagiert sich die Evangelische Kirche im Rheinland auch im Rahmen des Landesagenda-Projektes "Agenda 21 NRW". Sie arbeitet zusammen mit der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Lippischen Landeskirche in dem Landesagenda-Projekt "Denn auch die Wirtschaft hat Aids - Kirchen in NRW bewegen Firmen zum Engagement gegen Aids im südlichen Afrika". Der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen Manfred Sorg und ich haben Unternehmen in Nordrhein-Westfalen angefragt, die wirtschaftliche Verbindungen, Tochterunternehmen oder Filialen im südlichen Afrika haben, ob in den jeweiligen Partnerunternehmen schon HIV/Aids-Programme laufen und wie diese gestaltet sind bzw. mit uns gemeinsam neue Projekte und Programme zu entwickeln. Aids-Projekte unserer Partnerkirchen im südlichen Afrika werden in dieses Programm eingeschlossen.

Wir wollen mit Wirtschaftsunternehmen und unseren kirchlichen Partnern im südlichen Afrika zusammen besondere Aids-Hilfe-Projekte entwickeln und fördern, die der besonderen Lebenssituation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im südlichen Afrika gerecht werden und ihre ganzen Familien und ihr Lebensumfeld mit einbeziehen und dabei besonderen Wert auf die seelsorgerliche Begleitung legen.

Noch im ersten Halbjahr 2004 sollen ca. drei Pilotprojekte gestartet werden.

 

II.7       Christen und Juden

Für die Evangelische Kirche im Rheinland ist die theologische und praktische Arbeit über die Bestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden von herausragender Bedeutung. Vom rheinischen Beschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden sind Impulse ausgegangen, die von weiteren Kirchen und der Leuenberger Kirchengemeinschaft aufgenommen wurden. Im Jahre 2005 werden wir des Beschlusses nach 25 Jahren gedenken und dem Thema neue Aufmerksamkeit widmen.

Die Studienstelle Christen und Juden fördert das "Studium in Israel", hält Kontakte zu vergleichbaren Dienststellen der EKD und anderer Kirchen, pflegt den Austausch mit jüdischen Partnerinnen und Partnern in Deutschland und darüber hinaus. Sie vermittelt vor allem aber Impulse in das Leben unserer Kirche hinein.

 

II.7.1   Nes Ammim

Das Projekt Nes Ammim in Israel und der Deutsche Nes Ammim Verein sind im Jahr 2003 40 Jahre alt geworden. Beide sind hervorgegangen aus einem besonderen Bemühen um die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden. Die christliche Siedlung in Israel soll Lernen mit gemeinsamer Arbeit und Zusammenleben, Studium und Teilnahme an der gefährdeten Existenz Israels verbinden.

 

Das vergangene Jahr war wohl das kritischste in der 40jährigen Geschichte Nes Ammims. Die wirtschaftlichen Konsequenzen der zweiten Intifada in Israel sind auch an Nes Ammim nicht vorübergegangen. Und da auch die unterstützenden Heimatvereine in Europa aufgrund der allgemeinen Wirtschaftslage mit Spendenrückgängen zu kämpfen haben, sind diese nicht mehr in der Lage, immer wieder neue Einbrüche in Nes Ammim Israel auszugleichen.

Im Oktober 2002 hat der internationale Nes Ammim Verein beschlossen, noch eine letzte Anstrengung zu wagen und sich als Ziel gesetzt, am 01. September 2003 ein ausgeglichenes "cash flow" Ergebnis in Nes Ammim zu erreichen, anderenfalls Nes Ammim zu schließen. Dazu wurde ein strenges Sanierungskonzept erarbeitet. Durch enorme Anstrengungen im Dorf Nes Ammim, durch zahlreiche Sparmaßnahmen, konsequente Vermietung leerstehenden Wohnraumes und eine selbst unter den schwierigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in Israel akzeptable Belegung des Gästehauses wurde dieses Ziel erreicht. Darüber hinaus wurde ein Landentwicklungsplan intensiv betrieben. Es gibt inzwischen ein konkretes Angebot, in Nes Ammim Einfamilienhäuser für ältere Menschen zu errichten, die dort selbständig leben aber Serviceleistungen von Nes Ammim in Anspruch nehmen können. Dieses Projekt bietet Nes Ammim mittelfristig die Chance zur finanziellen Unabhängigkeit.

Positiv ist die Zusammenarbeit mit einer internationalen Hotelfachschule aus den Niederlanden, die inzwischen konkrete Formen angenommen hat. Bereits im Sommer 2004 werden die ersten Praktikanten dieser Schule nach Nes Ammim gehen.

Aufgrund der Sparmaßnahmen musste die Zahl der Volontäre in Nes Ammim erheblich reduziert werden. Aber trotzdem und trotz der politischen Lage in Israel gehen immer noch Freiwillige dorthin. Der deutsche Verein hat im Jahr 2003 insgesamt sieben Volontäre nach Israel geschickt, darunter auch zwei ältere Damen, die für zwei Monate an dem Seniorenprogramm teilgenommen haben.

Im Sommer 2003 ist Pfarrer Andreas Grefen, der für fünf Jahre die Studienarbeit in Nes Ammim begleitet hat, in die Evangelische Kirche im Rheinland zurückgekehrt und hat eine Pfarrstelle in Remscheid übernommen. Seine Nachfolgerin in Nes Ammim ist Tatjana Weiß,. eine beurlaubte Pfarrerin aus der Badischen Kirche, die schon seit einiger Zeit in Israel lebt und auch als professionelle Reiseleiterin arbeitet. Dadurch hat sie besondere Kenntnisse und Fähigkeiten, die nun auch Nes Ammim zugute kommen. Künftig können also Reisegruppen, die hoffentlich bald auch aus Europa wieder nach Nes Ammim kommen, von Nes Ammim selbst eine Reiseleitung bekommen.

Im Oktober hat ein Pastoralkolleg der Evangelischen Kirche im Rheinland unter Leitung von Pfarrer Süselbeck und Pfarrerin Kriener in Israel stattgefunden. Es hat für einige Tage Nes Ammim besucht. Wir hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht, denn Nes Ammim ist jetzt auf die Besucher aus unseren Kirchenkreisen und Gemeinden angewiesen. Denn nur so können sich die enormen Anstrengungen des letzten Jahres lohnen und die Chance nicht nur auf Fortbestand, sondern auch auf Erneuerung und Erweiterung der Studienarbeit wahr werden.

 

Besondere Aufgabe der Studienarbeit soll in Zukunft die Lehrerfort­bildung und dort insbesondere die gemeinsame Lehrerfortbildung für deutsche und israelische Lehrer und Lehrerinnen sein. Dieses Programm wird entwickelt in Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft evangelischer Erzieher e.V. (GEE). Im Sommer 2004 soll die erste Studienwoche dazu in Nes Ammim stattfinden.

Außerdem ist Nes Ammim ein Ort für Versöhnungsarbeit zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Dazu ist ein besonderes Programm angelaufen, das sehr gut angenommen wird.

 

II.7.2      Antisemitismus

Immer wieder bedrückt uns der Antisemitismus mit seinen alten und neuen Vorurteilen und Unterstellungen. Über den Fall Hohmann hinaus sind wir als Evangelische Kirche im Rheinland herausgefordert, auf nach wie vor latent in unserer Gesellschaft vorhandene Tendenzen zu reagieren. Wir werden an Grundeinsichten erinnern müssen und angesichts neuer Tendenzen noch einmal deutlich zu artikulieren haben: Judentum wie Christentum oder Islam stellen Religionsgemeinschaften dar. Sie sind keine ethnisch definierbare Gruppe in unserem Land.

Christinnen und Christen bekennen sich zur Treue Gottes gegenüber seinem Volk Israel. Sie wissen, dass sie als Kirche der Heidenchristen in seinen Bund durch besonderes Gnadenhandeln aufgenommen worden sind. Dankbar erkennen sie an, dass die Gespräche zwischen Judentum und Christentum zu einer freundlichen Entspannung und schrittweisen wechselseitigen Anerkennung gefunden haben. Trotzdem müssen wir voller Scham feststellen, dass Jüdinnen und Juden besonders in Deutschland und Teilen Europas immer wieder Vorurteilen, Hass und Gewalt ausgesetzt sind. Deshalb sind wir verpflichtet, diesen Tendenzen in jeglicher Form entgegenzuwirken und das nicht unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern allein zu überlassen.

 

 

III.       Die Weltverantwortung unserer Kirche und der Dialog mit dem Islam

Die Jahreslosung nimmt ein Gotteswort des Propheten Jesaja auf: "Der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen ..., aber mein Heil bleibt für immer und meine Gerechtigkeit wird nicht erschüttert“. (Jesaja 51,6)

Heil und Gerechtigkeit sind also bleibender Auftrag für den Dienst unserer Kirche. Die bleibende Herausforderung besteht darin, vor Bosheit und Ungerechtigkeit nicht zu kapitulieren, sondern in der Welt den Geschmack von und die Sehnsucht nach Heil und Gerechtigkeit für alle Menschen wach zu halten und an deren Verwirklichung mitzuwirken.

Der Zuspruch von Gottes Heil aber kann Menschen nur insoweit erreichen, als sie ihre eigene Unvollkommenheit und Vergänglichkeit erkennen und akzeptieren. Die Erkenntnis, dass Menschen nicht aus eigenem Entschluss und eigener Kraft sich selbst erlösen und retten können, aber auch nicht müssen – denn das Entscheidende ist mit Jesu Kreuz und Auferstehung schon vollbracht -, ist gleichsam der Mutter­boden für das Wort vom Heil. Auf dem Boden einer realistischen und zuversichtlichen Selbsterkenntnis und Weltsicht schlägt Gottes ewiges Wort vom Heil Wurzeln, geht es auf und trägt Früchte.

Gerechtigkeit als eine Voraussetzung menschlichen Lebens in Frieden und Würde ist keine automatische Folge aus dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte. Gerechtigkeit muss politisch gewollt und gefördert werden zugunsten der Unterdrückten, der Benachteiligten, der Kranken und Ausgegrenzten. ‚Lahme gehen, Blinde sehen, Gefangene werden befreit und den Armen wird das Evangelium verkündet", das sind nach Jesu Worten die Zeichen für den Anbruch des Gottesreiches. Es heißt nicht: ‚Reiche können ungehindert ihren Reichtum vermehren, Mächtige feiern ihre militärischen Erfolge, und die Kirchen verschaffen den Selbstsüchtigen ein gutes Gewissen.

Unsere Kirche ist gebunden an Gottes Wort vom Heil und der Gerechtigkeit für alle Menschen. Sie muss sich deshalb einmischen in Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung, Kultur und Politik und führt unter diesem Auftrag das Gespräch mit anderen Weltanschauungen und Religionen.

 

III.1      Frieden und Gerechtigkeit

Die Sorge um Frieden und Gerechtigkeit als beständige biblische Anliegen  prägte die letzte Landessynode und das vergangene Jahr. Die Kundgebung der Landessynode 2003 "Aufstehen für Frieden und Gerechtigkeit", die entsprechende Öffentlichkeitsaktion und der zentrale Gottesdienst in der Düsseldorfer Johanneskirche am 27. Januar wurden stark beachtet. Das klare "Nein" unserer Kirche zum Krieg gegen den Irak provozierte aber auch die Frage nach der eigenen Standortbestimmung und nach dem Leitbild des „Gerechten Friedens“ als Ziel christlicher Friedensethik, gerade nachdem dieser Krieg doch geführt wurde.

Zur Erinnerung: Das Ende der atomaren Ost-West-Konfrontation und die Auseinandersetzungen auf dem Balkan veranlassten die Landessynode 1993 zu der Veröffentlichung "Glaube hat eine Wahl", um mit ihrer Hilfe Friedensgespräche in den Gemeinden zu vertiefen. Mit der Feststellung der vorrangigen Option für die Gewaltfreiheit wurde die alte Lehre vom gerechten Krieg ad acta gelegt. Dies geschah im Bewusstsein, dass um des Evangeliums und der eigenen Glaubwürdigkeit willen immer auch ein eigenes klares Friedenszeugnis zu geben und politische Handlungsspielräume aufzuzeigen sind.

 

Wir bleiben dabei: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Aber wir müssen erneut erkennen, dass Kriegsdrohung, militärische Gewalt und Kriege wieder und weiterhin als Mittel der Politik akzeptiert und angewandt werden. Die Militär- und Sicherheitsstrategien der NATO und vor allem der USA wurden  erweitert; heute gelten Kriterien wie  Prävention, Rohstoffsicherung, vorbeugende Erstschläge. Nüchtern müssen wir feststellen, dass Gewaltanwendung zur Problemlösung der Vorzug gegeben wird zu Lasten der Weiterentwicklung und Stärkung umfassender Rechtsordnungen. Dass staatliche Gewalt ohne Untersuchung und Gerichtsverfahren zur Tötung von Menschen eingesetzt wird, die etwa terroristischer Verbrechen beschuldigt werden, kann nur als eminenter zivilisatorischer Rückschritt bezeichnet werden.

Die Kriege der vergangenen 10 Jahre haben gelegentlich dazu verleitet , die kirchliche Forderung nach der Überwindung von Krieg bzw. nach der Herstellung einer Kultur der Gewaltfreiheit als Illusion zu disqualifizieren. Andererseits hat sich in unserem kirchlichen Bereich die Frage nach der Legitimation militärischer Gewalt verschärft. Das Recht zur Anwendung militärischer Gewalt als "ultima ratio" wird zunehmend kritisch hinterfragt. Längst ist deutlich geworden, dass die Kriterien der "ultima ratio" dehnbar und unscharf sein können.

Der UN-Sicherheitsrat hat den Krieg der USA gegen den Irak nicht legitimiert. Die USA haben sich über völkerrechtliche Kriterien bewusst hinweg gesetzt. Dass Saddam Hussein schließlich ergriffen wurde, kann diesen Krieg, der mit bewusster Fehlinformation der weltweiten Öffentlichkeit begonnen wurde, nicht nachträglich rechtfertigen.

Ich halte es für notwendig, dass die Bedingungen und Kontexte militärischer Gewalt zunächst analysiert, die Perspektive der Betroffenen vor allem in den Mittelpunkt gestellt und die Konsequenzen für sie klar benannt werden.

Das geplante, jedoch mangels Beteiligung nicht stattgefundene Tschetschenien-Forum hatte diesen Ansatz. Hier geht es um einen in der Öffentlichkeit fast vergessenen, nur schwer zu begreifenden und mit terroristischen Mitteln geführten Krieg mit ungezählten Opfern. Über 200 000 Flüchtlinge aus Tschetschenien vegetieren in erbärmlichen Lagern in Inguschetien.

Welchen Einfluss haben also ökonomische Interessen unter globalisierten Bedingungen auf innerstaatliche und zwischenstaatliche Konflikte?

Welche Kräfte bereiten einen Nährboden für terroristische Gewalt?

Die führende Weltmacht hat sich mit der Nationalen Sicherheitsstrategie vom 20.9. 2002 das Recht auf präventive und intervenierende Maßnahmen selbst erteilt und damit international geltende, multilaterale Ordnungen wie die UN-Charta geschwächt. Was gilt noch das Prinzip der friedlichen Konfliktlösung, wenn das gewaltförmige Austragen von Konflikten oder der präventive Krieg gegen den Terror gegen geltendes Völkerrecht durchgesetzt wird? Und wie wollen wir damit umgehen, wenn die Bundeswehr verstärkt an internationalen Militäreinsätzen beteiligt wird? Wieweit tragen die dafür angegebenen humanitäre Gründe?

(Für den 18. März ist ein Friedensethisches Forum geplant, das sich u.a. mit Fragen des Unilateralismus und des Terrorismus auseinandersetzen wird.)

 

In vielen Diskussionen, auch in Fachgesprächen zwischen Kirchen­leitung und Gruppen im Konziliaren Prozess, haben wir ein international tragfähiges Völkerrecht gefordert. Wir dachten darüber nach, wie ein an die UN gebundenes "Weltinnenrecht" geschaffen werden kann oder welche Chancen etwa "die Transformation des Kriegsvölkerrechts in ein internationales Polizeirecht" (Horst Scheffler) haben könnte, um im Konfliktfall Gewalt einzuhegen oder zu verhindern.

Zweitens ist grundsätzlich zu klären, wie in den globalen Prozessen unserer Zeit Strukturen unter dem Leitbild Gerechtigkeit geschaffen oder verstärkt werden können, z.B. über die Ordnung der Finanzmärkte oder durch Schuldenerlass für überschuldete Länder. Wir sollten uns an der Arbeit der „Sozialforen“ beteiligen, informiert sein über „Attac“ im Zusammenhang mit der „Tobin-Steuer“ und alle Bemühungen um ein „Wirtschaften für das Leben“ unterstützen.

Drittens müssen wir diese beiden Aspekte vordringlich beziehen auf die in unserer Kirche festgestellte "prima ratio", also die gezielte Konflikt- und Gewaltprävention sowie die professionelle zivile Konfliktbearbeitung.

In diesem Zusammenhang verweise ich auf die aktive Förderung der Friedensfachdienste, auf die Projektförderung im Rahmen der Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt und auf den von unserer Kirche 2003 veranstalteten Grundkurs in Ziviler Konfliktbearbeitung in Zusammenarbeit mit dem Oekumenischen Dienst/Schalomdiakonat.

Zu den globalen, gewaltförmigen Phänomenen unserer Zeit gehören das wachsende Nord-Süd-Gefälle, Armutsstrukturen, internationale Flüchtlingsströme, HIV/Aids in Afrika und Asien. Auch hier sind wir als Kirche gefragt, denn wir sind die "global players" in der Nachfolge Jesu Christi. Wir orientieren uns an der Gewaltfreiheit Jesu, wenn wir hartnäckig dafür eintreten, die Fragen von Frieden und Gerechtigkeit zusammen zu bringen.

Als eine "Kirche des Gerechten Friedens" versteht sich unsere Partnerkirche United Church of Christ USA. Im Dialog mit ihr schärfen wir unser Verständnis dafür, dass Gerechter Frieden ein offener, dynamischer Prozess ist - ein verbindliches Leitbild für Gottes Volk, das aufgeschlossen und kritisch in der heutigen Zeit unterwegs ist.

 

Schwerpunktland für die Dekade zur Überwindung von Gewalt ist in diesem Jahr die USA. Das ist eine besondere Herausforderung für die UCC, aber auch  für uns: die vielen Begegnungen zwischen unseren beiden Kirchen auf allen Ebenen tragen entscheidend dazu bei, das "andere Amerika" zu entdecken, das für Gerechtigkeit, für ein multilaterales Demokratieverständnis und für die Abschaffung der Todesstrafe im eigenen Land eintritt.

Pfarrerin Virginia Pych ist nach zweijähriger Arbeit in Hoerstgen/KK Moers in die UCC zurückgekehrt. Seit September 2003 findet ein "echter" Austausch zwischen Pfarrer Claus Jörg Richter aus Hennef und Pastor Joseph Hedden aus Lebanon/Penn Central Conference statt. Im April führt das Pastoralkolleg eine Studienreise in die Southern Conference in Verbindung mit einer friedensethischen Tagung durch. Ich verbinde die Teilnahme an der Tagung mit Besuchen des National Office der UCC in Cleveland, der beiden Partner Conferences und der Sitzung der UCC-UEK-Working Group. Zur Bekämpfung des Terrorismus wurden aber auch in unserem Land neue Maßnahmen der inneren Sicherheit eingeführt: z.B. Ausweitung polizeilicher Befugnisse, Rasterfahndungen, verschärfte Zuwanderungsbestimmungen sowie die "Out-Off-Area-Einsätze" der Bundeswehr, die letztlich ihre Veränderung zu einer flexiblen Einsatzarmee vorantreiben.

 

III.2      Islam

Das Gespräch mit dem Islam ist in unserem Land nicht allein wegen der großen und weiter wachsenden Zahl der Muslime notwendig. Das bessere Verstehen religiöser und kultureller Hintergründe dient dem Verständnis des Verhaltens, der Norm- und Begriffswelt der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Aus dem Verstehen kann Akzeptanz und Toleranz erwachsen, vor allem, wenn es gelingt, Gemeinsames und Ähnliches zu entdecken und Andersartiges in den je eigenen Kontext einzuordnen.

Ich halte es für einen Fortschritt, wenn im Dialog auch kritische Fragen gestellt werden können. Dazu gehören etwa die Verständigung über das Schriftverständnis. Denn es ist entscheidend für das Gespräch, ob etwa der Koran als Wort für Wort von Gott diktiert verstanden wird oder nicht.

Auch über das Verständnis des Märtyrerbegriffs muss gestritten werden. Menschen, die sich selber in die Luft sprengen, um andere mit in den Tod zu reißen oder zu verletzen, können nach christlichem Verständnis keine Märtyrer sein. Sie begehen vielmehr ein schlimmes Verbrechen.

Dazu gehört vor allem die Nachfrage, inwieweit unsere muslimischen Gesprächspartnerinnen und –partner in Bindung an ihren Glauben die Normen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland akzeptieren und mittragen können. Die Stichworte dazu sind z.B. "Geltung der Sharia" oder auch "Würde und Rechte von Frauen". In diesem Kontext möchte ich auf den sog. Kopftuchstreit eingehen.

Das im September des vergangenen Jahres vom Bundesverfassungs­gericht erlassene Urteil zum Tragen eines Kopftuches einer Muslima als Lehrerin im Schuldienst des Landes Baden-Württemberg hat die öffentliche Diskussion stark beeinflusst. Auffallend war, dass dabei die beamtenrechtlichen Hintergründe dieses Urteils weniger beachtet wurden als die damit zusammenhängenden Fragen nach der Neutralitätspflicht des Staates, nach der Religionsfreiheit und nach dem Zusammenleben in einer deutschen Gesellschaft, die zunehmend multikulturell wird. Obwohl die Bedeutung des Kopftuches in der islamischen Welt in der umfangreichen Urteilsbegründung nur in Ansätzen ergründet wurde, ist aber doch deutlich gemacht worden, dass es sich hier nicht nur um ein individuelles religiöses Zeichen handelt. Vielmehr ist auch der politische Hintergrund stets mit zu beachten. Ich folge dabei nicht der Ansicht, dass das Kopftuch der Muslima generell ein Zeichen für einen fundamentalistisch orientierten Islam ist. Aber die fehlende Gleichberechtigung von Frauen in der islamischen Kultur ist – trotz einiger besonders hier in Deutschland vorgetragener gegenteiliger Stimmen – Anlass, das Kopftuch auch als Zeichen der Diskriminierung von Frauen zu verstehen.

Gerade nach der ökumenischen Dekade "Kirche in Solidarität mit den Frauen" haben wir allen Grund, der öffentlichen Demonstration religiös begründeter Zurücksetzung im Namen des Staates Bundesrepublik Deutschland entgegenzutreten. Vermutungen in diese Richtung werden dadurch genährt, dass hinter der klagenden Lehrerin – so etwa die Recherche von Alice Schwarzer – islamistische Verbände stehen.

Zu simpel scheint mir eine laizistische Problemlösung zu sein, die alle religiösen Symbole aus dem öffentlichen, von staatlicher Autorität geprägten Raum verbannen will. Denn authentische religiöse Identität, die mit den Grundnormen unserer Verfassung übereinstimmt, gehört zu den Grundlagen staatlicher Ordnung, die der Staat selbst nicht schaffen kann.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Urteil einen Leitsatz vorgestellt: "Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein." Ich sehe darin ein Signal für die Notwendigkeit, unsere eigene Identität als evangelische Kirche und die Bedeutung des christlichen Glaubens für unsere Gesellschaft deutlich zu formulieren. Dabei haben wir den grundlegenden Unterschied zwischen Kreuz und Kopftuch inhaltlich zu begründen und herauszustellen.

 

III.3      Solidarität und Gerechtigkeit

Unter den Leitbegriffen Solidarität und Gerechtigkeit wurde das gemeinsame Wirtschafts- und Sozialwort der deutschen Bischofs­konferenz und des Rates der EKD formuliert. Diese grundsätzliche Ausrichtung bleibt verpflichtend bei allem, was zur sozial-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Thematik zu sagen ist.

Auf fast allen Ebenen unseres landeskirchlichen Handelns erleben wir eine Krise, die von den katastrophalen Haushaltslagen in den Gemeinden, Bundesländern und im Bund hervorgerufen wird.

Dabei ist eine Veränderung der bedrückenden gesellschaftlichen Rahmendaten noch nicht in Sicht: Die Zahl der Arbeitslosen im Dezember 2003 lag bei 4,35 Mio., um die Finanzierung der Krankheits­kosten und der Renten wird im Dauerstreit gerungen. Die Folgen der neuen Arbeitsmarktpolitik sind noch nicht zu übersehen. Sie dürfen das effektive und über Jahre gewachsene Netz unserer Hilfs- und Förderein­richtungen für Arbeitslose nicht zerstören. Leider erreiche mich Nachrichten darüber, dass Initiativen gefährdet sind oder aufgeben müssen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass bestehende Strukturen zerstört werden, bevor Alternativen geschaffen wurden. Nach meiner Überzeugung müssen Brüche vermieden und Übergänge gestaltet werden. Und eins ist ganz deutlich: zusätzlicher Druck auf Arbeitslose schafft keine neuen Stellen. Der Mangel an Arbeitsplätzen ist und bleibt das Kernproblem.

Ich bin davon überzeugt, dass den meisten Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern allein schon aufgrund der demographischen Entwicklung die Tatsache einleuchtet, dass es zu spürbaren Veränderungen kommen muss. Verdruss und Ärger wird dadurch hervorgerufen, dass einleuch­tende Konzepte zumindest mittelfristiger Dauer fehlen. Es entsteht der Eindruck des – zum Teil auch noch unfachmännischen – Abdichtens einzelner Finanzlöcher, bei dem sofort die Frage aufkommt: Welches Finanzierungsloch tut sich als nächstes auf?

Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit staatlichen Handelns wird so erschüttert. Die Probleme vertragen keine akademische oder rein machttaktische Behandlung, denn mangelnde Perspektiven und Vertrauensverlust können sich zu einer Gefahr für das demokratische Staatswesen entwickeln.

Die Verantwortlichen einiger Bundesländer nehmen Kürzungen und Streichungen in Bereichen gemeinsamer Finanzierung öffentlicher Aufgaben vor. Dadurch stehen ganze Arbeitsfelder zur Disposition: die Beratungsarbeit im Bereich Erziehung und für Familien, die Trägerschaft für Schulen und Kindergärten, die engagierte Jugendarbeit in vielfältiger Form, um nur einige Bereiche zu benennen. Bei allem Verständnis für die Dramatik der öffentlichen Finanzen: Wer durch Kürzungen Co‑Finanzierungen wegbrechen lässt, provoziert in den Pflichtbereichen staatlichen Handelns höhere Kosten!

Ärgerlich wird die Debatte, wenn unsere Kirche als Subventions­empfängerin dargestellt und ihr enormer finanzieller und ideeller Beitrag zur Sicherstellung gesellschaftlich notwendiger Arbeit unterschlagen wird.

Beunruhigend ist es schließlich festzustellen, dass das Subsidiaritätsprinzip als Ordnungsinstrument staatlichen Handelns an Bedeutung verliert.

Das Prinzip der Subsidiarität verpflichtet den Staat dazu, Aufgaben­wahrnehmung durch gesellschaftliche Träger zu ermöglichen und zu finanzieren. Dabei geht es um gesellschaftliche Partizipation und demokratische Wahrnehmung von Verantwortung und Rechten. Ein Abrücken von diesem Grundprinzip dient weder der Stärkung des demokratischen Bewusstseins noch dem partizipatorischen Handeln in unserem Land.

Die Kommission für gesellschaftliche Fragen der Deutschen Bischöfe hat einen Impulstext für eine langfristig angelegte Reformpolitik mit dem Titel "Das Soziale neu denken" vorgelegt. Es geht dabei vor allem darum, die strukturellen Blockaden langfristiger Reformpolitik zu benennen, Wege zu ihrer Überwindung aufzuzeigen und leitende Prinzipien wieder in den Blick zu nehmen, um zu einer integralen "Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land" zu kommen. Ich kann diese Studien im einzelnen nicht vortragen und bewerten, will daraus aber beispielhaft zwei einleuchtende Überlegungen vortragen:

-    'Bisher war das Verständnis von Sozialpolitik im wesentlichen auf Verteilungspolitik verengt. Das verhalf organisierten und gut formulierten partikularen Interessen zur Dominanz. Ausgeblendet wird dabei, dass Familien-, aber auch Bildungs- und Berufsbildungspolitik zukunftsorientierte Bereiche einer sozialen Gesellschaftspolitik sind. Neues politisches Denken und Handeln muss diese Bereiche als Querschnittsaufgabe zur Förderung des Gemeinwohls mit einbeziehen.‘

Diese notwendige Ausweitung der Perspektive darf aber nicht die grundlegende Bedeutung der Verteilungsgerechtigkeit vernachlässigen. Das gilt besonders in einer Situation, in der über Lohn- und Gehaltserhöhungen von 1,4 % debattiert, die Bezüge von Vorständen aber um 30 % oder noch mehr erhöht werden; Personalentlassungen zu Kurssteigerungen der Aktien führen oder ein Einzelner ca. 30 Mio. Euro nach einer verlorenen Übernahmeabwehrschlacht kassiert.

-    'Die ökonomische Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft darf nicht das einzige Ziel der Reformen sein. Selbstverantwortung und Solidarität, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit müssen gleichermaßen als Maßstäbe angelegt werden. "Wenn wir die Option für die Armen, die Ausgeschlossenen in unserer Gesellschaft, ernst nehmen", – so Kardinal Lehmann – "dann müssen wir in der Weiterentwicklung des Sozialstaates und bei allen Reformbemühungen auch diejenigen zu Wort kommen lassen, die sich sonst nicht artikulieren können. Wir müssen insbesondere die Interessen der zukünftigen Generationen in den Prozess einbringen und so allen Reformen eine langfristige Perspektive geben. In diesem Sinne muss das Soziale neu gedacht werden.“‘

Dem kann ich nur zustimmen. Die Förderung der Familien in allen ihren Erscheinungsformen, die Vereinbarkeit von Berufsarbeit und Familie für Frauen und Männer sind von entscheidender Bedeutung für unsere Gesellschaft. Im übrigen plädiere ich dafür, das gemeinsame Wort auch gemeinsam angesichts der aktuellen Herausforderungen fortzuschreiben.

 

III.3.1      Ländlicher Raum

Der Agrarministerratsbeschluss vom 29. Juni 2003 in Luxemburg mit der Einläutung einer grundlegenden Reform der gemeinsamen Agrarpolitik konnte die  Verunsicherung auf den Höfen nicht mindern.

Ausgleichszahlungen sollen künftig produktionsunabhängig und wohl noch mehr als bisher verwaltungsaufwendig gewährt werden. Auch national fürchtet die Landwirtschaft weiterhin harte Einschnitte mit den im Haushaltsbegleitgesetz vorgeschlagenen Kürzungen beim Agrardiesel und bei der landwirtschaftlichen Krankenkasse. Bei sinkenden Beitragszahlern werden die Kosten für den Einzelbetrieb bzw. für Betriebsinhaber der Kleinbetriebe zur Existenzbedrohung. Junge Menschen sehen auf den Höfen für sich keine Zukunft mehr und sind immer weniger bereit, diese verantwortungsvolle Arbeit der Eltern zu übernehmen. Der tiefgreifende Strukturwandel in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum kommt nicht zur Ruhe.

 

Auf der Suche nach Werte- und Zukunftsorientierung ist Kirche stark angefragt. Dabei ist das Verbraucherinteresse an gesunden Lebensmitteln geschärft.

Zum Erntedanktag in Limbach im Kirchenkreis an Nahe und Glan konnten wir als Kirche Zeichen der Ermutigung setzen, um der sich unter Bäuerinnen und Bauern ausbreitenden Resignation entgegenzuwirken.

An die tausend Menschen kamen bei großem Medieninteresse lokaler und überörtlicher Presse wie des Fernsehens in das 360 Einwohner zählende Dorf mit seinen 260 evangelischen Gemeindegliedern unter der Überschrift: "Mein ist das Land, denn Gäste und Beisassen seid ihr bei mir" spricht der Herr (3. Mose 25,13) zusammen. Nach dem Gottesdienst in der prall besetzten Gründerzeitkirche bekam ich am Nachmittag in der öffentlichen Diskussion mit dem Staatssekretär des Bundesinnenministeriums, verschiedenen Landtagsabgeordneten, dem Vertreter des Landwirtschaftsministeriums, Verbandsbürgermeistern und Bürgermeistern der umliegenden Orte, Vertretern und Vertretrinnen der Landwirtschaftskammer, des Bauernverbandes, Landfrauenverbandes, verschiedener Kirchenkreise, vielen Bäuerinnen und Bauern ein lebendiges Bild über die Nöte zwischen Hunsrück und Pfalz vermittelt.

Ermutigend für mich war, dass Kirche hier offensichtlich als wichtiger Gesprächspartner in der Öffentlichkeit gefragt ist und auch junge Menschen mobilisieren kann.

Die Gesprächsthemen, mögliche "Entwicklungen der Region" und "Kirche auf dem Land", bringen die hohe Erwartung mit sich, dass wir uns als evangelische Christen nicht nur begleitend sondern auch gestalterisch  an der Zukunft im ländlichen Raum beteiligen statt uns etwa, wie z.T. befürchtet,  zurückzuziehen. Eine Konsequenz könnte sein, dass wir in der Ausbildung Theologinnen und Theologen für den Dienst im ländlichen Raum noch stärker qualifizieren und vorbereiten.

 

Das Thema "Einen anderen Lebensstil probieren", eine Initiative des Kirchenkreises Moers, setzte ein Signal für den Brückenschlag zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern mit der Landwirtschaft im Blick auf einen schöpfungsgerechten Umgang mit Pflanzen und Tieren im Lebensmittelsektor.

Mit dem symbolischen Beginn der Bepflanzung einer Allee im Nachbarort Hundsbach mit drei Linden, die mittlerweile in Eigenleistung um fast 100 Bäume ergänzt wurde, haben wir mit der Kirchengemeinde nachhaltig ein bleibendes Hoffnungssymbol auf Zukunft hin gesetzt.

Der Nachklang am Abend in der Weinbaugemeinde Norheim wurde mit dem Setzen einer Rebe in einem Weinberg, dem Gästebuch von Gastland Nahe, mit der Deutschen Weinkönigin Judith Hohenrath, Studentin der katholischen Theologie, als Zeichen der Ökumene verstanden. Im Vordergrund der Gespräche hier standen die beiden urchristlichen Symbole, Brot und Wein.

Die tiefe Bedeutung von Symbolik erschließt sich mir noch einmal neu im Blick auf ihre Qualität und Herkunft: Es kann uns auch im Gottesdienst nicht gleich sein, unter welchen Bedingungen Wein und Brot auf den Tisch kommen.

Die Tischgemeinschaft mit unserem Herrn schließt nicht nur die kommunizierende Gemeinde durch alle Zeiten ein, sondern auch die Menschen, denen wir gleichsam unser täglich Brot verdanken.

 

III.3.2      Aktion 7 x 7 – Kirche für Ausbildung

Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit standen kurz vor Beginn des Ausbildungsjahres am 1. August 2003 ca. 70.000 Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland, davon 30.000 allein in Nordrhein-Westfalen, nach ihrer Schulausbildung ohne Ausbildungsplatz da.

Es ist ein fatales Signal für junge Menschen, wenn sie die Erfahrung machen, dass ihre Mitarbeit in unserer Gesellschaft nicht willkommen ist. Ferner ist – und das ist den Jugendlichen durchaus bewusst – Bildung und Ausbildung das wichtigste Kapital, um

-      die Zukunft bewältigen zu können,

-      eine angemessene Position in unserer Gesellschaft zu erlangen,

-      sich aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens beteiligen zu können und

-      die eigene Persönlichkeit weiter entwickeln und entfalten zu können.

 

Der Kirche wird häufig vorgeworfen, dass sie sich über negative Zustände oder Entwicklungen in der Gesellschaft beklage, ohne sich aber in der Praxis selbst an der Verbesserung der Zustände zu beteiligen. Natürlich stehen uns – gerade in der jetzigen finanziellen Situation – dazu nur sehr beschränkt Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung. Aber dennoch hat die Kirchenleitung im Juli 2003 beschlossen, in dieser auch für die Zukunft der Gesellschaft wichtigen Frage beispielhaft tätig zu werden. Sie stellte 500.000 Euro zur Verfügung.

In der öffentlichen Debatte zur Lehrstellensituation war – wenn auch nicht unumstritten – zu hören, dass viele, vor allem kleine Unternehmen und Handwerksbetriebe, keine Ausbildungsplätze einrichten, weil die Ausbildung für sie nicht finanzierbar sei. Dieses Argument aufnehmend hat die Kirchenleitung beschlossen, einen Betrag von 500.000 Euro zur Förderung der Einrichtung von Ausbildungsplätzen bereit zu stellen.

Ziel unserer Aktion war, in 7 Regionen, in denen das Verhältnis von Ausbildungsplätzen und Bewerbern besonders ungünstig war, jeweils mindestens 7 zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Diese Regionen lagen überwiegend im Ruhrgebiet, aber auch im Süden unserer Landeskirche, in Trier und Bad Kreuznach.

Es war bis zum Beginn des Ausbildungsjahres nur wenig Zeit zur Verfügung. Ich bin stolz darauf, dass es durch das hohe Engagement vieler Mitarbeitender im Landeskirchenamt, insbesondere aber auch in den 7 Regionen gelungen ist, diese Aktion erfolgreich durchzuführen.

Wir haben bewusst und unserer presbyterial-synodalen Ordnung entsprechend, die Verhandlungen mit den Handwerkskammern, der Industrie- und Handelskammer und den Arbeitsverwaltungen den der zuständigen Superintendenten anvertraut, um sicherzustellen, dass Ausbildungsstellen im Bereich von Kirche und Diakonie oder in der Kirche nahestehenden Betrieben geschaffen wurden. Das war in den betreffenden Kirchenkreisen – und gerade während der Urlaubszeit – mit einem enormen zusätzlichen Aufwand neben der täglichen Arbeit verbunden. Dafür noch einmal meinen herzlichen Dank an die Beteiligten.

Jeder Ausbildungsplatz, der zusätzlich errichtet werden konnte, wurde mit einem Betrag von max. 10.000,- Euro gefördert. Mit diesem Förderbetrag werden je nach Ausbildungsberuf bis zu 30 % der Bruttovergütung einer oder eines Auszubildenden finanziert.

 

Durch Verknüpfung mit anderen Förderprogrammen oder weil – angeregt durch unsere Aktion – zusätzliche Ausbildungsplätze ohne Förderung eingerichtet worden sind, haben wir es geschafft, statt der angestrebten 49 Ausbildungsplätze tatsächlich 70 Ausbildungsplätze zusätzlich einzurichten und damit 70 Jugendlichen eine Lebensperspektive zu geben!

So wichtig wie die Aufgabe ist, so schwer fällt es uns, 500.000 Euro dafür zur Verfügung zu stellen. Wir versuchen daher, einen möglichst hohen Betrag durch die Einwerbung von Spenden zu refinanzieren. Neben regelmäßigen Presseveröffentlichungen und einer starken Internetpräsenz haben wir nacheinander verschiedene Zielgruppen angeschrieben und um Spenden gebeten. Neben einer sehr großzügigen Spende der KD-Bank in Höhe von 100.000 Euro ist es gelungen, in den wenigen zur Verfügung stehenden Monaten, mit Hilfe von über 700 Einzelspendern, eine Summe von weiteren über 100.000 Euro zusammenzubekommen, insgesamt derzeit also über 200.000 Euro. Die Spendenaktion wird weitergeführt und ich bitte Sie herzlich, auch in Ihrem Umfeld noch einmal dafür zu werben.

 

III.3.3      Zuwanderung und Integration

Am 24. September 2003 begann das Vermittlungsverfahren über den Entwurf des Zuwanderungsgesetzes. Bei der Neuregelung des Zuwanderungsrechts sollte nach kirchlicher Auffassung die volle Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt werden. Die Kirchen haben folgende Kernforderungen:

-      Einführung einer gesetzlichen Härtefallregelung, die es in besonders gelagerten Fällen gestatten soll, von den Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzuweichen.

Erfahrungsgemäß führt die Anwendung des geltenden Asyl- und Ausländerrechts immer wieder zu Härten, die mit dem bestehenden Instrumentarium nicht zu beseitigen sind. Es ist damit zu rechnen, dass auch bei einer Rechtsänderung derartige Härten auftreten werden. Die Verwaltung bedarf daher eines Instruments, um Einzelfällen angemessen Rechnung tragen zu können.

Eine gesetzliche Härtefallregelung könnte den Entscheidungsspielraum der Behörden erweitern und ein Aufenthaltsrecht in den Fällen ermöglichen, in denen nach geltendem Recht die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht zulässig wäre. Personen, denen nach der Rückkehr in ihre Heimat eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes oder eine Re-Traumatisierung droht, die u.U. zu sozialer Isolation und Arbeitsunfähigkeit führen kann, ist ein Bleiberecht aus humanitären Gründen einzuräumen. Dies ist Ausdruck unserer völkerrechtlich bindenden humanitären Verpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Schließlich könnte eine gesetzliche Härtefallregelung eine Basis für begünstigende Entscheidungen in den Fällen bieten, in denen dringende humanitäre oder persönliche Gründe für einen Rechtsanspruch auf einen Aufenthaltstitel allein nicht ausreichen. Weiterhin gäbe eine gesetzliche Härtefallregelung die Möglichkeit, Art. 6 GG, die grundrechtliche Verpflichtung zum Schutz von Ehe und Familie, zu berücksichtigen, wenn es darum geht, Familienangehörigen, Ehepartnern oder Kindern der Betroffenen ein Bleiberecht zu erteilen.

Die schon bisher in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin tätigen Härtefallkommissionen zeigen, dass ihr Wirken erfolgreich ist und keine zusätzlichen Verzögerungen mit sich bringt. Die Empfehlungen der Härtefallkommissionen werden von den Ausländerbehörden in der überwiegenden Anzahl der Fälle übernommen.

 

-      Erteilung eines rechtmäßigen Aufenthaltstitels an Opfer nicht­staatlicher Verfolgung, denn diese erhalten bisher regelmäßig nur eine Duldung; die Duldung ist kein rechtmäßiger Aufenthaltstitel.

Nichtstaatliche Verfolgung ist ein Tatbestand, der eine Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention nach sich zieht. Dieses ist die Auffassung des UNHCR und der Mehrzahl der europäischen Staaten. Das gleiche Ergebnis hat auch eine öffentliche Anhörung des Bundestagsausschusses für Menschenrechte in der 14. Legislaturperiode erbracht.

Opfer nichtstaatlicher Verfolgung dürfen nach geltendem Recht nicht abgeschoben werden. Zumeist erhalten sie den prekären Status der Duldung, der oftmals über Jahre hinweg verlängert wird. Dieser Nicht-Aufenthaltstitel erschwert die Integration (erschwerter Zugang zum Arbeitsmarkt, kein Zugang zu Bildung und Ausbildung für Jugendliche, keine Familienzusammenführung, reduzierter Sozialhilfebezug).

Bei der Reform des Zuwanderungsrechts muss deshalb durch die ausdrückliche Anerkennung der nichtstaatlichen Verfolgung als Asyltatbestand eine rechtliche Besserstellung für Menschen erreicht werden, die nach deutschem Ausländerrecht ohnehin nicht abgeschoben werden dürfen.

 

-      Abschaffung der Kettenduldungen und Überführung in einen recht­mäßigen Aufenthaltsstatus, insbesondere bei dauerhaften Abschiebehindernissen.

Es ist humanitär nicht hinnehmbar, wenn Ausländer, die absehbar auf geraume Zeit nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, weil ihnen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, über Jahre hinweg im Status der Duldung und damit in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit belassen werden. Dies ist auch unter Integrationsgesichtspunkten kontraproduktiv. Menschen, die sich über mehrere Jahre in Deutschland aufhalten und die ihr Abschiebehindernis nicht zu vertreten haben, müssen Rechtssicherheit über ihren Aufenthalt erhalten, um sich zu integrieren.

Die Kirchen setzen sich für ein Aufenthaltsrecht vornehmlich derjenigen Ausländer ein, bei denen nach geltendem Recht ein Rechtsanspruch auf Duldung besteht, weil ihnen Verletzungen von Rechten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention drohen (derzeit § 53 AuslG). Es ist humanitär geboten, Menschen, die solchen existentiellen Gefahren ausgesetzt sind, einen sicheren Aufenthaltsstatus zu verleihen, der ihnen hilft, das Erlebte zu verarbeiten und in Deutschland bestmöglich Fuß zu fassen. Wichtig ist neben der Möglichkeit der Aufenthaltsverfestigung vor allem der Zugang zu Erwerbstätigkeit, schulischer und beruflicher Ausbildung sowie die Möglichkeit der Herstellung der Familieneinheit.

Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen lediglich kurzzeitige Abschiebungshindernisse bestehen, weil beispielsweise vorübergehend keine Flugverbindungen ins Herkunftsland existieren, Ausweispapiere beschafft werden müssen, ein Schuljahr in Deutschland abgeschlossen werden soll, eine medizinische Behandlung zu Ende zu führen ist oder einer Schwangeren die Heimreise nicht zumutbar ist. In solchen und ähnlich gelagerten Fällen ist es aus Sicht der Kirchen nicht unbedingt geboten, von vornherein dauerhafte Aufenthaltsrechte zu erteilen.

 

Das Vermittlungsverfahren ist noch im Gange. Mitte Januar 2004 geht es weiter. Zu hoffen bleibt, dass sich Koalition und Opposition im Jahr 2004 auf ein Zuwanderungsgesetz verständigen, dass auch deutliche Konturen für ein Integrationskonzept mit der entsprechenden finanziellen Ausstattung beinhaltet.

 

III.4      Bildung

Das Thema Bildung bekommt endlich wieder den gebührenden Stellenwert in unserer Gesellschaft. Wir sind eine Wissensgesellschaft geworden. Aber wir verhalten uns nicht danach. Deswegen stehen im Grunde alle klassischen Bildungsinstitutionen gegenwärtig auf dem Prüfstand. Wir haben den Schock noch zu überwinden, der uns getroffen hat, als die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien an die Öffentlichkeit kamen. Plötzlich wurde vielen klar: Unser Land wird wirtschaftlich abgehängt, wenn wir nicht in Bildung investieren.

Bildungsarbeit gehört zu den klassischen Arbeitsfeldern der Kirche auf allen Ebenen. Wenn wir verbunden bleiben wollen mit unserer Quelle, der Heiligen Schrift, dann werden wir immer lernende Kirche bleiben müssen. Das Studium der Heiligen Schrift ist auch Bildungsarbeit.

Bildung ist mehr als nur Wissen oder Erfahrensein im Alltagshandeln. Wir müssen den Wissens- und den Bildungsbegriff größer und umfangreicher denken, als dies oft geschieht. Denn es geht bei Bildung immer um beides: Weltwissen und Lebenswissen. Es geht darum, in unserem Denken und Tun "Maße des Menschlichen" zu finden. Ich bin dem Rat der EKD dankbar, dass er eine Denkschrift mit diesem Titel in die öffentliche Bildungsdiskussion eingebracht hat. Ich sage deutlich: Nicht der allein ist gebildet, der viel weiß, Klassiker zitieren und der mit Handlungswissen in Talkshows glänzen kann. Als evangelische Kirche können wir nur sagen: Der ist gebildet, der sein Wissen und Können, seine Gaben und Begabungen dafür ausbildet, dass das Maß des Menschlichen in dieser Gesellschaft nicht verloren geht. Dieses Maß steht oft auf dem Prüfstand oder besser noch auf des Messers Schneide.

 

Was haben wir als Kirche zu tun?

1.  Wir haben mit unserer Bildungsarbeit Gelegenheiten zu geben, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene Maße des Menschlichen entdecken. Und das tun wir in der Jugendarbeit und in unseren Schulen, in Kindergärten und in der Konfirmandenarbeit, in der Frauenhilfe und im Männerkreis. Das tun wir, damit Menschen sich entsprechend bilden und Verantwortung übernehmen können.

2.  Wir machen exemplarische Bildungsangebote. Wir können nicht alles machen, aber wir können zeigen, welche Bildungsimpulse vom Evangelium ausgehen. Wir wollen erkennbar bleiben und laden andere ein, mit uns zu lernen.

3.  Wir wollen Partner sein in der öffentlichen Verantwortung für Bildung. Bildung braucht Partnerschaften und Bündnisse. Wer dazu nicht bereit ist, handelt unverantwortlich gegenüber der nachwachsenden Generation. Eltern, die sich nicht kümmern um das Lernen ihrer Kinder, handeln unverantwortlich. Unsere Kinder müssen mehr wissen, als je zuvor. Sie müssen sich einstellen auf neues Wissen und neue Erkenntnisse und Anforderungen. Die Beschleunigung ist groß. Man darf sie nicht alleine lassen. Deswegen leisten wir unsere Beiträge, wenn es heißt: früh lernen, Schule gestalten, Menschen aufschließen für Verantwortung.

4.  Wir teilen mit anderen öffentliche Verantwortung und nehmen öffentliche Aufgaben in Bildung und Erziehung wahr. Das tun wir besonders in Schulen und Kindergärten, also den klassischen Bildungsinstitutionen. Aber wir tun es eben auch z.B. in der Jugend­arbeit und in anderen Gemeindekreisen. Unsere Beiträge sind unverwechselbar: Leben in der Ökumene, in der einen Welt; Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, Versöhnung mit Israel; an Schuld nicht scheitern.

 

Was können wir nicht akzeptieren?

1.  Wir können nicht akzeptieren, dass wir als Partner gesucht werden und wenn es wirklich ernst wird, links liegen gelassen werden. Von dieser Art müssen wir Maßnahmen der Haushaltsentscheidungen für den Doppelhaushalt 2004/2005 in NRW wahrnehmen. Warum sonst bürdet man z.B. kirchlichen Trägern von Schulen mehr Eigenleistungen auf unter gleichzeitiger Behauptung: Bei Schulen werde nicht gespart? Wir nehmen mit unseren Schulen öffentliche Aufgaben wahr. Wir nehmen der staatlichen Seite Aufgaben der Schulaufsicht und der Verwaltung ab und tragen enorme Leistungen für den Erhalt der Gebäude. Zwischenzeitlich wurde die Mehrbelastung halbiert und auf ein Jahr begrenzt. diese Veränderung nehme ich als freundliche Geste wahr. Allerdings ist die Begründung dieser Maßnahme nicht einsichtig, weil bis auf einen einmaligen Griff in unsere Kasse kein nachhaltiger Effekt erzielt wird.

2.  Wir können nicht akzeptieren, dass unsere Kindergärten nicht ordentlich in ihren öffentlichen Aufgaben gefördert werden. Es waren kirchliche Kindergärten, die Jahrzehnte die ganze Last frühkindlicher öffentlicher Erziehung getragen haben.

      Es kann nicht sein, dass Kindergartenträger, die Liegenschaften anmieten, besser behandelt werden, als unsere Gemeinden, die viel für ihre Einrichtungen aufwenden müssen. Der Hinweis darauf, dass Rücklagen, die aus den Pauschalen gebildet wurden, nun eingesetzt werden könnten, greift bei vielen unserer Gemeinden nicht. Wegen des älteren Gebäudebestandes mussten die Pauschalen regelmäßig zur Bauerhaltung eingesetzt werden, zum Teil reichten sie dafür nicht aus. Im Kindertagesstättenbereich wurde nur ein Erleichterung gegenüber den Ursprungsplänen vorgenommen: Mieter von Liegenschaften, also keine kirchlichen Träger, werden entlastet.

      Es kann nicht sein, dass wir aufgrund fehlender Finanzen trotz hoher Eigenbeiträge ggf. unsere Einrichtungen aufgeben müssen und sogenannte arme Träger zu 100% refinanziert werden. Die „Arme-Träger-Regelungen“ wirken sich in der heutigen Situation als sturkturelle Benachteiligungen aus.

      Es kann nicht sein, dass das Versprechen der 1998er Sparrunde, den Eigenbeitrag der kirchlichen Träger auf durchschnittlich 15 % zu senken, nicht eingelöst wird.

      Hier ist etwas in eine Schieflage geraten.

Partnerschaft ist auf Verlässlichkeit und Vertrauen angewiesen. Partnerschaft wird zerstört, wenn das Vertrauen in die Verlässlichkeit gestört ist. Wir werden weiterhin unseren Beitrag zur Bildung leisten, müssen aber darauf bestehen, dass dies in Augenhöhe geschieht.

 

III.5      Bioethik

Im November letzten Jahres habe ich das in Bonn angesiedelte Modellprojekt "Beratung bei pränataler Diagnostik" besucht. Dieses Modell bietet Begleitung für Frauen, welche während der Schwanger­schaft erfahren, dass sie ein nicht lebensfähiges Kind oder ein Kind mit einer schweren Behinderung zur Welt bringen werden. An diesem Projekt sind die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen des Diakonischen Werkes, die Universitätsklinik Bonn sowie die evangelische und katholische Klinikseelsorge beteiligt. Alle Beteiligten verfolgen das Ziel, Frauen und Paare in einer derartig schwerwiegenden Krisensituation bestmöglich zu beraten und ihnen bei einer ethisch und persönlich vertretbaren Entscheidungsfindung zu helfen.

Pränatale Diagnostik gehört mittlerweile zu den ärztlichen Regelangeboten während einer Schwangerschaft. Sie kann auf der einen Seite Diagnose- und Eingriffsmöglichkeiten eröffnen, die dem Überleben des Kindes und dem Überleben der Mutter dienen.

Auf der anderen Seite kann sie aber auch gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Behinderungen des Ungeborenen offenbaren, so dass die betroffenen Mütter bzw. Eltern schlagartig in eine extreme Belastungs- und Entscheidungssituation gestürzt werden.

In den meisten Fällen bleiben die Betroffenen bislang mit dieser für sie traumatischen Situation weitgehend allein.

 

Die bisherigen Erfahrungen sind ermutigend und richtungweisend zugleich. Beratung während und nach der Pränataldiagnostik verhindert, dass Frauen aus dem Schockerlebnis einer problematischen Diagnose heraus überstürzt handeln und schnellstmöglich einen Abbruch wollen. Beratung überprüft mögliche Schreckensbilder von Behinderung bei den betroffenen Eltern. Sie begleitet eine Entscheidungsfindung, indem sie Raum lässt für Gefühle von Überforderung und Hoffnungslosigkeit und indem sie Perspektiven für ein Leben mit dem Kind anspricht. Dazu gehört auch, die persönlichen und familiären Ressourcen und die gesellschaftlichen Unterstützungsangebote abzuklären.

Ziel evangelischer Beratung muss es sein, alles zu tun, um Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden. Die Erfahrung der Praxis zeigt, dass dieses Ziel nur eine Chance hat, wenn die Beratung im Einzelgespräch ohne moralischen Druck geführt wird. Nur dann ent­wickeln die betroffenen Frauen oder Paare keinen inneren Widerstand und finden zu einer Entscheidung, mit der sie auf Dauer leben können. Allerdings müssen die Beraterinnen damit fertig werden, dass es auch nach den Beratungsgesprächen zu einem hohen Maß an Abbrüchen kommt.

Das Gespräch in Bonn hat mich neu für die Frage sensibilisiert, wie in unserer Gesellschaft behindertes Leben geschätzt und geschützt wird. Wie glaubwürdig sorgen wir für behindertes Leben, wenn es im Mutterleib bis zum 9. Monat abgetrieben werden kann?

Bei diesen Fragestellungen – und auch bei der Diskussion um die Stammzellenforschung – wird der Begriff der Menschenwürde immer wichtiger.

Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat am 3. September einen Zeitungsartikel unter der Überschrift: "Die Würde des Menschen war unantastbar" veröffentlicht. Darin setzt er sich sehr kritisch mit der Neukommentierung des Grundgesetzes Artikel 1 Abs. 1 durch Mathias Herdeggen im Grundgesetzkommentar "Maunz/Düring" auseinander. Böckenförde’s Beobachtungen gipfeln in der These, dass der "Traditionelle Diskurs … bewusst verabschiedet (wird)", weshalb der Begriff der Menschenwürde seine ihm eigene Relevanz verlieren könnte. Eine der Ursachen für diese Entwicklung sei die Ablösung des geistesgeschichtlichen Hintergrundes für ein derartigen Topos.

 

Hier wird deutlich, wie wichtig die Beiträge der Kirchen für ein wertgebundenes, lebensförderliches gesellschaftliches Klima sind. Auch die Evangelische Kirche im Rheinland darf sich aus diesem öffentlichen Gespräch nicht verabschieden.

 

 

Schlussbemerkung

"Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen", mit dieser Verheißung beschließt Jesus nach dem Markusevangelium die Ankündigung von Endzeitkatastrophen. Anzeichen solcher Katastrophen, die die Grundfeste unserer persönlichen und gesellschaftlichen Sicherheiten erschüttern, identifizieren Menschen immer wieder neu in ihrer Weltgeschichte. Und nur zu oft führt ein Zusammenbrechen der eigenen "kleinen Welt" dazu, dass Menschen sich nach dem großen Weltende sehnen, weil das Verlangen nach dem vollständigen Erscheinen des ewigen Gottesreiches übermächtig wird.

Wann aber der Tag oder die Stunde sein wird, dass Himmel und Erde, dass unser irdisches Bewahren, Planen und Gestalten vergehen, das weiß keiner außer Gott allein!

Diese Feststellung Jesu folgt unmittelbar auf unsere Jahreslosung. So bleibt es auch für das vor uns liegende Jahr 2004 unsere Aufgabe und Herausforderung, den Menschen in unserer vergänglichen Welt und in unseren vergänglichen Bezügen Gottes unvergängliche Welt zu bezeugen. Getragen von der Verheißung des Evangeliums und bewegt von Gottes Geist können wir gelassen Kirche gemeinsam leben und gestalten. Das eine Wort Gottes, das uns in Jesus Christus schon erschienen ist, hat uns einen Vorgeschmack gegeben von dem ewigen Gottesreich, das wir erwarten und in dem ‚Frieden und Gerechtigkeit sich küssen‘ (Psalm 85, 11).

Mit diesem Vorgeschmack auf unseren Lippen halten wir gegen alle Todeserfahrungen und Todesmächte die Hoffnung wach, auf Gottes neuen Himmel und Gottes neue Erde, die erscheinen werden, wenn und wann Gott es will.


Anlage 1

 

Brief einer ehemaligen Zwangsarbeiterin

 

Liebe …,

 

ich habe mich sehr über deinen Brief gefreut. Er hat mich an unsere Jugend erinnert, als wir gemeinsam im Theater waren, um „Rotkäppchen“ anzuschauen, und wie ich dich nicht ordentlich zum Mittagessen gerufen habe, als du auf der Eisbahn warst. Wie ich Anorte russische Gedichte und Lieder gelernt habe und wie sie sie in gebrochenem russisch wiederholte.

Ich bin im September 1945 nach Hause zurück gekehrt. Meine ganze Familie war am Leben, der Vater kam von der Front, wie bekamen eine neue Wohnung, da die alte im Krieg ausgebrannt war.

Dann habe ich im Technikum gelernt, nach dem Abschluss habe ich im Handel gearbeitet und mich von einer einfachen Verkäuferin zur Verkaufsstellenleiterin hoch gearbeitet.

Ich habe zwei erwachsene Söhne. Meine Eltern haben mir geholfen, sie groß zu ziehen, denn ich war ohne Ehemann. Ich habe vier Enkelkinder und zwei Urenkelkinder.

Meine Eltern und meine beiden Brüder sind gestorben, ich habe nur noch meine jüngere Schwester. Jetzt bin ich Rentnerin, bin oft krank,   aber ich reiße mich zusammen.

Du fragtest nach Pascha. Sie ist vor etwa 20 Jahren gestorben, zu ihren Verwandten habe ich keinen Kontakt, so kann ich dir nichts genaueres sagen.

Danke für das Foto vom Haus, es hat mich an sehr vieles erinnert, und für das Päckchen (oder: die Sendung) bin ich dir sehr dankbar.

…bitte grüße deine Schwestern … und …, und schreibe mir, wie es euch geht, schreibe, wie es euch ging, als die Eltern noch lebten. Ich sehe sie manchmal im Traum.

Komm zu uns zu Besuch, wir wohnen am Asowschen Meer, wenn du es dir überlegt hast, gib mir Bescheid. Ich schicke dir eine Einladung (gemeint ist ein offizielles Einladungsformular, mit dem man ein Visum bekommt).

Bis zum nächsten Brief mit lieben Grüßen und Küssen für euch alle

Warja.


Anlage 2

 

Das Erbe der Märtyrer für das 21. Jahrhundert

Redebeitrag von Präses Nikolaus Schneider
am 9. September 2003, Int. Treffen Comunità Sant‘Egidio

 

Märtyrer sind nach dem für das folgende vorausgesetzte Verständnis zum Ersten Frauen und Männer, die ihr eigenes Leben bewusst für ihre Überzeugung bzw. ihren Glauben opfern. Christliche Märtyrer aus allen großen Konfessionsfamilien – römisch-katholisch, orthodox, reformatorisch – haben dabei bezeugt, dass sie im Martyrium eins wurden mit Jesus Christus und keine andere Herrschaft über ihr Leben anerkannten als die Herrschaft Gottes.

Terroristen, die im Namen ihrer religiösen oder politischen Überzeugung andere Menschen töten, sind Mörder, auch wenn sie ihr eigenes Leben riskieren oder hingeben.

Märtyrer stehen zum Zweiten zu ihrer Überzeugung, sie sind innerlich gebunden angesichts von Folter und Tod. Sie verzichten bewusst auf den lebensrettenden Ausweg der Verleugnung, des Widerrufs oder der Flucht. Ihr Weg des Lebens geht durch das Martyrium hindurch zum Leben in der Gegenwart Gottes.

Christliche Märtyrer überschreiten zum Dritten in ihrem Martyrium nicht nur die Grenzen von Zeit und Raum, sie überschreiten auch die Grenzen der Kirchen und der Konfessionsfamilien. Sie sind schon eins in Christus, also ökumenische Persönlichkeiten.

Die Märtyrer stellen damit zum Vierten eine Herausforderung für die Kirchen dar. Sie machen die noch nicht überwundenen Grenzen zwischen den großen Konfessionsfamilien als Ausdruck der mangelnden Einheit mit Jesus Christus deutlich. So wird auch verständlich, was die ehrliche Kenntnisnahme der Kirchengeschichte vermittelt:

Kirche ist zum einen selbst Täterin. Sie verfolgte, folterte und tötete Menschen, deren Glaubensüberzeugung im Widerspruch zur eigenen, offiziellen Lehre stand.

Kirche ist zum anderen selbst Opfer. Menschen wurden wegen ihrer kirchlichen Zugehörigkeit und ihres kirchlichen Bekenntnisses verfolgt, gefoltert und getötet.

Wichtig ist mir, deutlich zu machen, dass christliche Märtyrer nicht mit ihrer jeweiligen konfessionellen Kirche in eins gesetzt werden können. Es konnte nämlich sein, dass das Martyrium einzelner Glieder der jeweiligen Kirchen von ihnen im Gebet und im Gedenken mitgetragen wurde. Es konnte aber auch sein, dass die Kirchen vom Martyrium abrieten, dass sie sich teilnahmslos verhielten oder ihren Märtyrer sogar durch offene oder verdeckte Kooperation mit den Mördern verrieten.

Und es konnte sogar sein, dass das Martyrium von Christinnen und Christen von ihren eigenen Kirchen initiiert und vollstreckt wurde.

Aus diesem Verständnis der Märtyrer und ihres Verhältnisses zu ihren Kirchen ergeben sich folgende Überlegungen zu ihrem Erbe für das 21. Jahrhundert:

1.      Politik und Gesellschaft müssen Garanten und Hüter der Freiheit des Denkens und des Glaubens der Einzelnen sein. Dies wird durch die Förderung demokratischer Prinzipien in allen Machtstrukturen am besten gelingen.

Der gnadenlose und mörderische Fundamentalismus sollte in allen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften geächtet werden.

2.      Die christlichen Kirchen sind herausgefordert, über ihre Verflechtungen in Strukturen der Schuld und über ihr Versagen über den Märtyrern nachzudenken und dabei in konkreter Weise Schuld zu benennen und Schuld zu bekennen.

Für unsere deutschen Kirchen bedeutet das auch die kritische Rückfrage, ob und wann institutionelle Verflechtungen mit Staat und Gesellschaft oder die Bindung an mächtige Menschen in Staat und Gesellschaft notwendige Glaubenszeugnisse verdunkeln, verhindern oder gar verraten.

Im Gedenken an die Märtyrer der anderen kirchlichen Konfessionen und im Bewusstsein des Versagens und der Schuld der eigenen christlichen Kirche müssen die christlichen Kirchen alle ihre Lebensvollzüge ökumenisch ausrichten.

Insbesondere die theologische Arbeit in allen ihren Dimensionen darf nicht auf Abgrenzung bzw. die Sicherung der eigenen konfessionellen Grenzen ausgerichtet sein. Sie muss vielmehr Brücken bauen, auf die Überwindung von Grenzen und die Ermöglichung von mehr Gemeinsamkeiten und Gemeinschaft zielen. In der Suche nach der Einheit mit Christus wird sie der Einheit untereinander am besten dienen.

3.      Christlicher Glaube und christliche Theologie bleiben geistlos, wenn sie sich in zeitlosen dogmatischen Lehrsätzen erschöpfen. Die Wahrheit von Glaube und Theologie ereignet sich durch und an konkreten Menschen in konkreten Zeiten und an konkreten Orten.

Glaube und Theologie, die Jesus Christus vergegenwärtigen, dem Heiligen Geist sich öffnen und Gott die Herrschaft geben, bleiben unlösbar verbunden mit Menschen, denen Gott sich offenbart und die Gottes Wort mit ihrem Leben bezeugen.

Das macht theologisch-wissenschaftliche Reflexion und Lehrbildung, die Bindung an traditionelle Konfessionen und kirchliche Gemeinschaft nicht überflüssig. Aber es macht studierte Theologen und kirchliche Amtsträger bescheiden. Die von uns allen geglaubte eine, heilige, apostolische und katholische Kirche ist von den Märtyrern der christlichen Kirchen – der römisch-katholischen, der orthodoxen und der reformatorischen Konfessionsfamilien – schon real vorweg genommen. Die Märtyrer sind uns als „Wolke der Zeugen“ Leitbild und Ermutigung, diese „una sancta“ auch heute zu verwirklichen.