Pressemitteilung

Auch für die Vermissten gilt: Menschen gehen bei Gott nicht verloren

Predigt von Präses Schneider im Trauergottesdienst im Kölner Dom

  • Nr. 40
  • 14.1.2005
  • 9788 Zeichen


Achtung, Sperrfrist: Samstag, 15. Januar 2005, 15 Uhr. Es gilt das gesprochene Wort!


Für die Opfer der Flutkatastrophe in Südasien und deren Angehörige findet am Samstag, 15. Januar 2005, 15 Uhr, ein zentraler ökumenischer Gottesdienst im Kölner Dom statt. Der Gottesdienst wird unter Leitung des Erzbischofs von Köln, Joachim Kardinal Meisner, und des Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Nikolaus Schneider, gefeiert. Die Teilnahme an diesem Gottesdienst steht allen offen. Nach dem Gottesdienst wird der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen Peer Steinbrück für die Landesregierung sprechen.



Nachfolgend finden Sie das Predigtmanuskript von Präses Nikolaus Schneider. Bitte beachten Sie die o.a. Sperrfrist und den Wortlautvorbehalt:



„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.“



Liebe Gemeinde,



in seiner Not und Verzweifelung ruft der Beter des 22. Psalms zu Gott: „Ich bin allein, fühle mich von Gott verlassen mit aller meiner Not und in meinem Elend. Viele, die heute hier sind, können sich dem anschließen und sagen:



Schmerzen habe ich zu ertragen. Mit knapper Not habe ich überlebt. Oder: Ich habe liebe Menschen verloren, die zu mir gehören. Durch den Verlust bin ich arm und verzweifelt.


Oder aber: Mit Toten kehre ich heim, oder noch viel schlimmer: Ich weiß nicht einmal, wo meine Lieben sind. Und es quält mich die Frage: Wieso habe ich überlebt und sie nicht?



Es gibt eine Not, liebe Gemeinde, die übersteigt unser theoretisches Vorstellungsvermögen. Es gibt eine Not, die tiefer und grundsätzlicher ist, als die Mühe und Last des Alltages. Es gibt eine Not, die ist jenseits des Maßes, das wir meinen ertragen zu können. Menschen werden darüber apathisch, verlieren die Orientierung und sie verlieren Glauben und Vertrauen zu Gott: Mein Gott, warum bin ich so verlassen – ohne jede Hilfe, ganz allein?



Beides kommt in solcher Not zusammen: Die Verletzungen und Verluste, die unsere Existenz bedrohen, und unsere seelische Einsamkeit, die Störung der Beziehungen, in denen und von denen wir leben.



Wer einen Menschen verliert, verliert ja noch viel mehr: die vertraute Stimme, Rat und Tat, das gemeinsame Lachen, die zärtliche Begegnung, die vertrauten Konflikte, all das, was der geliebte Mensch als Teil unseres Lebens ausmachte.



Dabei kann es durchaus geschehen, dass wir nicht nur einen Teil von uns verlieren, sondern dass wir selbst verloren gehen.



Leiden und Tod zerstören Beziehungen von Menschen untereinander, sie stellen häufig aber auch unsere Beziehung zu Gott in Frage. Denn auch unsere Gottes-Beziehung ist lebendig: Wir glauben uns getragen von dem Gott, der selber das Leben ist, der unser Leben will und der sich uns in Liebe zuwendet.



Elend, Not und Zerstörung passen nicht zu diesem Verhältnis. Zu diesem vertrauenden Glauben, den wir in guten Zeiten zu Gott haben. Was aber geschieht mit unserem Glauben in unseren Todeserfahrungen? Was sollen wir von einem Gott denken, der entgegen unseren Hoffnungen und Wünsche schweigt, uns fern ist und uns und so viele Menschen auch nicht vor Katastrophen und Elend bewahren kann oder gar will.



Deshalb hat auch Jesus selbst mit genau diesen Worten geklagt, am Kreuz, in seiner Todesstunde: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?



Jesus, wie der Psalmbeter, klagen ihre Gottverlassenheit zu Gott selbst. Sie lassen Gott nicht los, obwohl sie sich von Gott verlassen fühlen.



Ihre Klage geht davon aus, dass die Beziehung zu Gott zwar gestört ist, aber noch existiert. So ist Klage zugleich Ausdruck von und verzweifelter Ruf nach Beziehungen. So ist die Klage ein Ruf nach Klärung, Ruf danach, dass es wieder anders werden soll.



In einer solchen Klage, die sich nach Beziehungen sehnt, schreien wir unsere Enttäuschungen heraus. Das hilft. Das hilft unserer Seele und erleichtert den auf ihr liegenden Druck.



Eine solche Klage ist darüber hinaus ein Schritt heraus aus der uns zerstörenden Einsamkeit und Beziehungslosigkeit. Klagend öffnen wir uns heilenden Erfahrungen von Trost und Nähe. Wir geben unsere geschundene und verletzte Seele in Gottes Hände und begreifen: Gottes Schöpfung ist noch nicht das Reich Gottes. Sie enthält in sich Glück und Unglück, Entwicklung und Zerstörung, Leben und Sterben. Und das häufig in für uns rätselhaften Zusammenhängen. Es ist eine Überforderung unseres Denkens und Fühlens, in dem allen einen Sinn finden zu wollen. Manches bleibt unerklärt, sinnlos für uns.



Das gilt für unsere Gottesbeziehungen wie für unsere Menschenbeziehungen: Wir können nicht alle Rätsel lösen, die unser Leben beschweren. Manche Entwicklungen bleiben rätselhaft, unsere liebsten Partner kennen wir nicht bis in die letzten Verästelungen ihrer Seele, auch wir selbst werden uns häufig genug selbst zu einem Rätsel.



Wichtig ist deshalb, dass wir uns klar machen: Das Bestehen einer Beziehung ist nicht abhängig von vollständiger Erklärbarkeit und uns offenbarer Sinnhaftigkeit. Nachhaltige und tragfähige Beziehungen halten Irritationen, Verletzungen und Enttäuschungen aus, wenn wir einander auch in den Tiefpunkten unserer Existenz nicht loslassen.



Der Psalmbeter und Jesus haben in ihren Klagen Gott nicht losgelassen. So wandelt sich die Klage des Psalmisten in eine Bitte: „Aber du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!“



Und so erwächst aus der Klage ein neues Gefühl für die Zusammengehörigkeit und eine neue Stärke. Es wächst neues Zutrauen, dass Leid, Zerstörung und Sterben nicht das letzte Wort für uns sind. Aber das alles muss wachsen, wir können es nicht machen. Wir müssen es aus unserem Beziehungen heraus erwarten und können nichts anderes dazu tun, als uns diesem Wachsen nicht zu verschließen.



Was uns bedroht und in Frage stellt, ist sehr wohl real, aber es ist auch begrenzt. Leid hat ein Ende, Zerstörung dauert nicht ewig, Sterben hat nicht das letzte Wort. Es gehört zum Rätselhaften und manchmal auch erschreckend Rätselhaftem, dass Gott auch in diesen Dunkelheiten und durch diese Dunkelheiten hindurch uns zugewandt bleibt und für uns und unser Leben eintritt. Trotz aller schlimmen Erfahrungen: Es hat weiterhin Sinn, ihn als unsere Stärke zu verstehen und Hilfe von ihm zu erwarten. Es macht Sinn, an dieser Beziehung festzuhalten und durch alles Schwere hindurch sich die Gewissheit zu bewahren: Wir leben aus der Beziehung zu Gott, und wir leben gehalten in einem Netz menschlichen Zusammenlebens. Ohne unsere Einbindung in ein Netz menschlicher Beziehungen kann keiner von uns leben, gerade wenn er an seine geistigen, seelischen und körperlichen Grenzen gelangt. Und so mag auch Hoffnung wieder entstehen, auch in einer Situation wie heute. Hoffnung, dass unsere Lieben zwar jetzt und hier nicht mehr unter uns sind, dass sie Gott aber nicht verloren gehen können.



Und es ist die Beziehung zu Gott, die uns auch in unseren Todeserfahrungen trägt und bewahrt. Sie reicht sogar über den Tod hinaus: „Mein Gott, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ – In diesem Vertrauen hat Jesus sich in seiner schlimmsten Stunde an Gott selbst gewandt. Und sein Vertrauen war berechtigt. Gott hat ihn nicht im Tod gelassen, er hat ihn auferweckt und er lebt.



So soll auch für uns heute im Gedenken an die Zerstörungen und die Opfer der Flutkatastrophe gelten: Wir klagen Gott und einander unsere Enttäuschungen und Verletzungen. Wir schreien zu Gott in unserer Gottverlassenheit und finden so Schritte aus der tödlichen Beziehungslosigkeit hin zu neuem Leben.



Leben soll unser Dasein bestimmen und das Vertrauen darauf, dass über all unser Verstehen und Begreifen hinaus Gott selbst uns kennt, trägt und bewahrt.



So kann neues Vertrauen und Zuversicht wachsen – und das ist mehr als „das Leben geht weiter“. Denn es ist nicht ein unbestimmtes Existieren, sondern das Leben aus der Beziehung zu dem Gott heraus, der uns zugewandt bleibt. Und Leben aus tragfähigen Beziehungen zu unseren Mitmenschen heraus, die durch ihr Mitfühlen und mit einem langen Atem Opfer helfend begleiten.



So kann Klage sich verändern, sich wenden. So kann neue Kraft wachsen und Zuversicht entstehen, um unser Leben hier und jetzt verantwortlich zu gestalten, um die Beziehungen zu pflegen, in denen und von denen wir alle Leben.



Amen“



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Hinweis an die Redaktionen:


Das Kölner „domradio“ überträgt live; die Signalübernahme koordiniert Ingo Brüggenjürgen, Telefon 02 21/2 58 86-0. Auch der WDR überträgt den Gottesdienst live in seinem Fernsehprogramm. Aus diesem Grund ist die Foto- und Filmberichterstattung eingeschränkt:





  • Für Film- und Fernsehaufnahmen: Der WDR ist Poolführer. Andere Kamerateams sind im Dom nicht zugelassen. Der WDR stellt anderen Anstalten sein Sendesignal zur Verfügung; Ansprechpartnerin beim WDR ist Angelika Wagner, Tel. 0221/220-2485.



Für Fotografen: Wegen der Live-Übertragung des Gottesdienstes und aus Rücksichtnahme auf die Angehörigen der Opfer ist das Fotografieren im Dom ausschließlich unmittelbar vor Beginn der Feier möglich. Treffpunkt für Fotografen ist das Nordportal des Kölner Doms (Bahnhofsseite) um 14.40 Uhr. Von dort werden die Fotografen in den Dom geleitet.