Pressemitteilung

Erste Begegnung mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern

Rheinische Delegation zu Besuch in der Ukraine

  • 6.11.2002

Von 31. Oktober bis 5. November 2002 hielt sich eine neunköpfige Delegation von Vertreterinnen und Vertretern aus Diakonischen Einrichtungen der Evangelischen Kirche im Rheinland unter Leitung von Landeskirchenrat Jörn-Erik Gutheil in Kiew auf.


Anlass der Reise war der Beschluss der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 27. April 2001 über die Zustiftung zur Bundesstiftung für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter („Erinnerung, Verantwort, Zukunft“) hinaus ein Begegnungs- und Versöhnungsprojekt zu initiieren, das die Verschleppung hunderttausender Menschen aus den von der deutschen Wehrmacht okkupierten Ländern in Osteuropa in Erinnerung hält, dokumentiert und gleichzeitig Lernfelder für zivilgesellschaftliche Prozesse eröffnet.


Von 18 eingeladenen ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der Ukraine, die bisher ermittelt werden konnten, kamen 8 mit je einer Begleitperson nach Kiew. Sie hatten ausführliche Lebensberichte über die Umstände ihrer Verschleppung, ihre Erfahrungen in den diakonischen und kirchlichen Einrichtungen, Fotos und andere Materialien mitgebracht.
In Einzelinterviews erzählten die teilweise hochbetagten und gesundheitlich stark angegriffenen Frauen und ein Mann, was ihnen in den Jahren 1942 bis 1945 widerfahren ist. Sie waren meist noch Kinder oder Jugendliche, als sie nach Deutschland verschleppt wurden.


Die anrührenden, von Zufällen, Missgeschicken und Gewalttaten gekennzeichneten Erfahrungsberichte illustrierten den Besuchern aus dem Rheinland eindrücklich, auf welche Weise auch Kirche und Diakonie in das Unrechtsystem der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verstrickt waren.


Daran können auch die überwiegend positiven Erlebnisberichte nichts ändern, in denen die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ihre Erfahrungen zusammenfassten. Oft genug setzte sich nach der Befreiung durch die US-Armee die Stigmatisierung und Verfolgung bei der Übergabe an die sowjetischen Behörden fort. Dem Verdacht ausgesetzt, mit dem Feind kollaboriert zu haben („ihr habt den Nazis geholfen, während wir gekämpft haben“), wurden sie oder ihre Ehepartner zum Beispiel in die sogenannte „Trudarmee“ (Arbeitsarmee) eingewiesen oder zu den Streitkräften eingezogen und konnten so nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Sie kamen zunächst auch nicht in den Genuss von Unterstützungen für Opfer des Nationalsozialismus, so dass viele (auch in den eigenen Familien) die Tatsache verheimlichten, in Deutschland als Zwangsarbeiterin bzw. Zwangsarbeiter gewesen zu sein.


Ein Beispiel bemerkenswerter Zivilcourage war die Schilderung von Frau Anna Borisenko, die im Evangelischen Alten- und Kinderheim in Alt-Saarbrücken arbeiten musste. Sie wurde dank der Intervention der leitenden Diakonisse davon befreit, das stigmatisierende Kennzeichen „Ost“ auf ihrer Kleidung zu tragen. Frau Borisenko konnte sich lebhaft an die Familie des damaligen Pfarrers in der Einrichtung erinnern, zu dessen Kindern sie intensive Kontakte pflegte. Ihre Beheimatung in der Kirchengemeinde, deren Gottesdienste sie mit ihrer Freundin, einer Jüdin, die durch die Verschleppung nach Deutschland unter anderer Identität das Massaker an der jüdischen Bevölkerung in Charkow überlebte, regelmäßig besuchte.
Als ob es eines Beweises bedurfte sang sie eines Abends Kirchenlieder vor, die ihr auch in einem Abstand von 60 Jahren noch in deutscher Sprache gegenwärtig waren.


Für die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wie ihre Besucher aus dem Rheinland erwies sich die Begegnung in Kiew als erster notwendiger Schritt, Brücken des Vertrauens und Zielvorstellungen für die Zukunft zu entwickeln. Hierzu können konkrete Hilfen zur Besserung des Gesundheitszustands, die Förderung des Schüleraustausches, Sommerlager für Jugendliche u. a. zählen.


Für das Frühjahr 2003 soll der Gegenbesuch in den diakonischen und kirchlichen Einrichtungen im Rheinland erfolgen. Eine offzielle Einladung dazu wurde in Kiew ausgesprochen und dankbar angenommen. Die Zeit drängt angesichts des Alters und des Gesundheitszustandes der Betroffenen. Alle wollen sich den Reiseanstrengungen unterziehen, wenn es denn die Umstände zulassen. Der Wunsch aller ist es, nach Möglichkeit noch einmal Menschen wiederzusehen, mit denen sie vor 60 Jahren zusammenlebten und an die sie sehr konkrete Erinnerungen haben.


Noch von Kiew aus wurden deshalb auch die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die auf die Einladung nach Kiew nicht reagiert hatten, erneut angeschrieben und gebeten, sich am Gegenbesuch Anfang 2003 zu beteiligen. Es wird abzuwarten sein, wie viele ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Frühjahr des kommenden Jahres in der Lage sein werden, ins Rheinland zu kommen.


Mit einem Besuch der Gedenkstätte Babi Yar und dem ehemaligen Gefangenenlager Syretzky, aus dem der ehemalige Leiter der Finanzabteilung beim Ev. Konsistorium der Rheinprovinz, der SS-Offizier F. W. Sohns, 1943 die Menschen rekrutierte, die die sogenannte „Enterdung“ (Exhumierung und Verbrennung der Leichen) der Opfer von Babi Yar vornehmen mussten, bevor sie ebenfalls ermordet wurden, endete die erste offizielle Begegnung mit den ehmaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der Ukraine.


Der Abschied war für alle an der Begegnung Beteiligten ein bewegender Moment, der mit der Verpflichtung verbunden bleibt, dem ersten Schritt weitere folgen zu lassen.


gez. Jörn-Erik Gutheil
Landeskirchenrat


Hinweise:
· Ein Fernsehteam des ARD-Studios Moskau hat die Begegnung filmisch begleitet und wird darüber am 20. November 2002 im WDR Fernsehen berichten.
· Auf unserer Homepage (www.ekir.de) finden Sie Fotos zu diesem Thema, die wir Ihnen auf Wunsch gerne als Datei zur Verfügung stellen.