Pressemitteilung

Vorläufige Einsichten, Empfindungen und Einschätzungen zu einem Besuch im Gebiet Saratov an der Wolga von Landeskirchenrat Jörn-Erik Gutheil

  • 22.3.2002

 


(Juli 2000)


I. Die Fahrt beginnt


Samstag, 1. Juli, 7.00 Uhr, Gleis 18, Düsseldorf-Hauptbahnhof. In der Bahnhofshalle herrscht normaler Betrieb; übernächtigte Passanten, gelegentlich auch ‚menschliches Strandgut‘ einer Großstadt und zielbewusste Reisende bevölkern die Bahnhofshalle. Auf Gleis 18 herrscht reger Betrieb. Der ICE zur EXPO in Hannover fährt ein. Nur wenige Reisende steigen zu. Die Gegenwart hält offensichtlich viele von der „Schau in die Zukunft“ ab. In unserer kleinen Reisegruppe stehen Eltern, Freunde in Gruppen zusammen. Marina und Irina, erst vor wenigen Jahren aus Kasachstan nach Deutschland ausgesiedelt, freuen sich auf die Rückkehr in „die Heimat“; andere, die die Reise vor drei Jahren bereits mitgemacht haben, sehnen sich nach einem Wiedersehen mit ihren Freunden in Russland. Die Anspannung ist deutlich spürbar. Wie wird der Flug, wie wird das Wetter sein? Es werden letzte Fotos gemacht. Wir fahren ab.


Einige gleichen die kurze Nacht durch einen ersten Schlaf aus. Andere spielen Karten, nur wenige lesen, es ist leise. Hannover empfängt uns bei strahlendem Sonnenschein. Der Weg zum Flughafen ist rasch zurückgelegt. Wir finden unseren Abfertigungsschalter.


Neben uns werden im Laufschritt Sommerurlauber für Mallorca, Fuerteventura, Lanzarote, Kreta abgefertigt. Alle sind schon entsprechend gekleidet, um bei Ankunft auf der Insel die Erfrischung im Meer zu suchen. Es herrscht eine heitere Ausgelassenheit, alles ist klar, es kann losgehen.


II. „Mir sin Russland-Deitsche“


Anders an unserem Abfertigungsschalter. Kein Hinweis auf unseren Flug, keine präzisen Auskünfte, dafür aber Menschen, die schon beim ersten Anblick klar identifizierbar sind. Ältere Frauen mit Kindern oder Enkeln, schwer bepackt, die Russisch miteinander sprechen. Spricht man sie an, sagen sie im Dialekt der Wolga, „mir sin Russland-Deitsche“. Dabei blitzen die silbernen oder goldenen Zähne und liefern den letzten Beweis, wo sie die längste Zeit ihres Lebens zugebracht haben.


Sie fahren zu Besuch nach Engels und nach Marx; deshalb der Flug nach Saratov, an die Wolga. Und wenn sie das aussprechen, schwingt die ganze Sehnsucht, ihr ganzes Gefühlsleben und die Hoffnung mit, dass es noch einmal so schön in ihrem Leben sein sollte, wie es an der Wolga gewesen ist.


„Uns geht’s gut, aber ich bin einsam, der Mann ist schon tot, die Kinder sind auf der Arbeit. Wir wohnen in Bautzen in der DDR. Oh, ja, uns geht’s gut…“.


Der Besuch gilt den Zurückgebliebenen, der Tochter, der Mutter. Für alle wird viel mitgebracht, sie sollen sehen und spüren, dass es gut geht in „Deitschland“ und dass die Ausreise ein Erfolg war…


Nur im direkten Gespräch sagen sie, in Russland waren wir die „Hitlerovskis, die Nazis“, man hat uns vertrieben, verfolgt, unter die Kommandantur gestellt – und hier in Deutschland sind wir die „Russen“. Vielleicht haben wir nur eine Heimat, im Himmel! Hierin schwingt Bitterkeit, Enttäuschung. Aber die Kinder werden es ja eines Tages besser haben, sie haben nicht mehr den verräterischen Akzent, sie sind voll integriert, haben den Schwung der westlichen Lebenskultur, für sie ist die Wolga Vergangenheit, die Geschichte der Omas und Opas, lange her… Dabei kennt jeder die Zerrissenheit, das das Leben vieler Jugendlichen kennzeichnet, die hohe Arbeitslosigkeit und das Leben in der Abgeschiedenheit der städtischen Ghettos, in der Sozialhilfe… Es ist keine Zeit, darüber zu reden. Am Abfertigungsschalter ist Bewegung.


Die Abfertigung erfolgt rasch ohne besonderen Service. Es gibt klare Kommandos, was Transport- und was Sperrgut ist. Der Flug wird nicht aufgerufen, aber alle wissen, wann es losgeht. In der Flughafenhalle kann man schon die Maschine erkennen, eine YAK 42, ein eigentlich als Transportflugzeug gebautes Fluggerät, aber sichere russische Bauart und durchaus vertrauenserweckend.


Wir kennen uns allmählich als Passagiere nach Saratov; mit jedem kann man schnell noch ein kleines Schwätzchen halten, sich gegenseitig alles Gute und einen reibungslosen Flug wünschen, dann heißt es: der Flug Sar Avia 2918 ist einsteigebereit. Der Einstieg ist etwas beschwerlich, die älteren Damen mit dem schweren Handgepäck erklimmen nur mühsam die Einstiegstreppe, die sich hier wie bei einem Truppentransporter am Heck befindet. Es gibt keine Platzreservierung, aber jeder findet seinen Platz.


Der Start verläuft planmäßig, wir gewinnen rasch an Höhe, das Flugzeug liegt stabil und unter uns breitet sich ein weißer Wolkenteppich aus. Rasch geht der Flug über Polen nach Weissrussland. Der Flugzeugführer macht uns in Witebsk aufmerksam, dass wir bald die Grenze nach Russland überfliegen werden. Gedanken an Chagall. Die vier Stunden Flugzeit vergehen rasch, wir haben Rückenwind und landen gegen Abend in Saratov ohne jegliche Probleme.


III. Ankunft an der Wolga


Schon aus dem Flugzeug breitet sich vor uns die Weite des Landes aus, sehen wir die riesige Wolga mit ihren kleinen Inseln. Es ist etwas holprig, aber die Piloten kennen ihren Heimathafen. Am Flugzeug steht ein Busanhänger, der von einer Zugmaschine gezogen wird. Wir sind amüsiert, für unsere Mitreisenden, die hier viele Jahre ihres Lebens verbracht haben, ist alles wie gewohnt. Die Passkontrolle verläuft zügig, mit ernster Mine. Dann erleben wir die Gepäckausgabe; auf einem Wohnzimmertransportband werden die ca. 120 Gepäckstücke aufgesetzt, dann von einem Mitarbeiter wieder heruntergenommen und sofort durch einen anderen Mitarbeiter in Reih‘ und Glied aufgestellt. Hier stehen nicht Dienstleistung, Kosteneinsparung oder gar Effizienz im Vordergrund, sondern hier erleben wir ein Beschäftigungsprogramm, das Menschen (hoffentlich) Arbeit und Brot gibt, aber aus unserer Sicht viel zu teuer sein wird. Das gleiche Spiel wiederholt sich beim Zoll. Da wir Gruppenreisende sind, kommen wir ohne weitere Verzögerung schnell durch und warten dann wieder auf unser etwas abenteuerliches Transportgefährt, das uns an den Ausgang des Flughafens bringt. Klar, der TÜV-Rheinland hat hier noch keine Niederlassung.


VI. Saratov – Hauptstadt im Oblast Saratov


Man kann es rasch sehen: hier ist kein Flughafen einer Millionenstadt, sondern eine alte Militärbasis. Die Maschinen von Air-Saratov werden im Freien gewartet. Das lässt Bilder von Fernsehfeatures über die Wartung von Flugzeugen in Russland lebendig werden. Aber die Beschaffung von Ersatzteilen steht ja nicht an. Nichtsdestotrotz, wir überwinden unsere Beklemmungen und Ängste, gehen noch kurz durch einen etwas dunklen Gang und sind plötzlich draussen.


Dort erwartet uns Alexander Arndt, Präsident der lutherischen Kirche in Westrussland. Beruflich steht er einer „Aktiengesellschaft“ vor, die im Auftrag der GTZ (Gesellschaft für Technik und Zusammenarbeit) Projekte für Russlanddeutsche entwirft bzw. begleitet. Er ist ein Mann um die Fünfzig, früherer Kampfjetpilot der Roten Armee, entschlossenen und spricht im Dialekt der Wolgadeutschen.


Die rasche Abfertigung hat offenkundig auch Alexander Arndt überrascht. Den Bus, der uns in unsere Unterkunft bringen soll, hat er für etwa eine Stunde später bestellt, weil er nicht davon ausging, dass wir ohne größere Probleme durch die Pass- und Zollabfertigung kommen würden. Wir warten vor dem imposanten Gebäude des Flughafens und versuchen per Handy Kontakt nach Deutschland zu bekommen, was freilich misslingt. Allmählich kommen auch unsere anderen Mitreisenden, die eine viel längere Verweildauer im Flughafengebäude hinter sich haben. Sie wirken erschöpft, aber doch voller Zuversicht; jetzt noch kurz über die Wolga nach Engels und Marx zu ihren Verwandten, dann sind sie wieder da. „Zu Hause“!?


Der erste Eindruck ist zwiespältig, die Jugendlichen aus unserer Gruppe, die noch in Düsseldorf voller Vorfreude auf die Rückkehr in „die Heimat“ waren, fühlen sich von ihren Erfahrungen eingeholt, die ihre Kindheit geprägt haben. Die Gebäude machen einen verwahrlosten Eindruck, die Parkanlagen vermitteln die Mühsal, mit der hier der öffentliche Eindruck beschönigt werden soll; Menschen, die an uns vorbeiflanieren, tragen den Chic ihrer Fernsehwelt oder dessen, was ihr Geldbeutel hergibt. Auf jeden Fall wollen sie sich abheben von der grauen Tristesse der Wirklichkeit und sind dabei gerne auch bereit, über das Zuträgliche hinauszugehen.


V. „Wolskie Dali“ – Wohnen am Fluss


Der Bus kommt, wir fahren durch Saratov in unsere Unterkunft „Wolskie Dali“.


Der erste Eindruck von Saratov entspricht der Erwartung. Eine riesige Stadt voller Hochhäuser und Trabantensiedlungen, Fabrikanlagen, die ihre Produktion längst eingestellt haben und langsam vor sich dahinrotten, Häuser, deren Glanz lange zurückliegt und die viele Verschönerungen, die eigentlich Verletzungen waren, über sich haben ergehen lassen müssen. Alles macht den Eindruck eines verblassten Glanzes und selbst da, wo gebaut wird, fehlt der Drang zu Klarheit in der Linie und Qualität in der Ausführung. Die Fahrt über die Straßen in Saratov ist eine Herausforderung, ein ordnungsgemäßer Straßenbau findet nicht statt, aber jeder findet sich damit ab und fährt, so gut es geht.


Unser Erholungsheim liegt direkt an der Wolga; eine mehr als drei Kilometer lange Autobrücke überwindet den breiten Strom, der immer wieder von kleinen Inseln durchzogen ist. Gelegentlich fährt ein Kahn über die Wolga, wohin weiss niemand…


 


Die russische Gruppe empfängt uns, wie wir es kennen: aufgereiht, diszipliniert, mit einem fröhlichen Lied. Die sich seit Jahren kennen, fallen sich in die Arme, freuen sich über das Wiedersehen und verschwinden rasch auf ihre Zimmer. Die Begegnungen vollziehen sich jetzt in einem rasenden Tempo, Namen, Geschichten, Informationen…


Alexander Arndt ist Russlanddeutscher. Seine ganze Familie ist in Deutschland, er aber darf nicht nach Deutschland, weil er Mitglied der Partei und Mitglied der Roten Armee und Jagdflugzeugführer gewesen ist. Er erzählt dies mit einer freundlichen Bitterkeit, aber abgefunden hat er sich damit nicht. In unerer Runde sitzt Natascha, eine junge Frau Mitte dreißig. Sie ist mit dem Sohn des Predigers in der lutherischen Gemeinde verheiratet, der ein schweres Augenleiden hat. Verschiedene Versuche, ihm zu helfen sind gescheitert. Der notwendige stationäre Aufenthalt in Deutschland ist einfach nicht zu bezahlen.


Ein Schicksal wie viele andere, die wir kennenlernen, das anrührt und zum Handeln nötigt. Aber wie? Falsche Hoffnungen machen kann noch schlimmer sein als bloße Anteilnahme.


Wir haben noch viel Zeit, die einzelnen Punkte miteinander zu besprechen, aber schon jetzt zeigt sich: an der Wolga werden wir mit Schicksalen konfrontiert, wie sie uns nicht jeden Tag begegnen.


Es ist schon spätabends, wir sind eigentlich sehr müde, aber Natascha meint, wir sollten noch in die Wolga zum Schwimmen gehen. Wir verschwinden in der dunklen Nacht und tatsächlich, das Bad in der Wolga ist erfrischend. Der erste Tag geht zu Ende, wir sind alle müde und schlafen gut ein.


VI. Ev.-Lutherische Gemeinde Saratov


Sonntag, 2. Juli. Der Morgen empfängt uns mit Regen. Alexander erzählt, dass in Saratov die Straßen unter Wasser stehen, ein Wolkenbruch, ein Unwetter, aber wir lassen uns deshalb nicht die gute Laune verderben. Das Frühstück ist gewöhnungsbedürftig, Milchreis mit Käse und irgendwelchen Keksen. Das Wetter drückt etwas auf die Stimmung, weil sich alle auf Strand, Sonne und Entspannung eingerichtet hatten. Wir haben ein erstes Planungsgespräch und lernen Nastassia kennen, die in der russischen Gruppe als Dolmetscherin mitwirkt. Sie hat gerade ihr Diplom in Deutsch absolviert und einen Wettbewerb gewonnen, der ihr die Möglichkeit gibt, an der EXPO in Hannover teilzunehmen. Sie ist eine junge, zielbewusste, fleissige Frau, an religiösen Fragen interessiert, aber wie viele hier, mehr im Umfeld der Gemeinde als in ihrem Mittelpunkt verankert.


Wir fahren zum Gottesdienst nach Saratov. Kein Aushang, kein Glockenklang. Vorher gehen wir durch die „deutsche Strasse“, die sich in Ansätzen noch den Glanz früherer Zeiten erhalten hat. Große Gebäude aus der Jahrhundertwende mit reichen Ornamenten, schmiedeeiserne Türen, an denen die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat. Gegenüber dem Konservatorium stand früher die große ev.-lutherische Marienkirche, die 1972 abgerissen wurde. Nichts erinnert mehr daran; nur die Menschen, die dort zum Gottesdienst gingen oder dort getauft, getraut, konfirmiert wurden, tragen die Erinnerung weiter. Die neu gebildete ev.-lutherische Gemeinde in Saratov ist Gast in der Kapelle der katholischen Kirche; wir finden sie in der „deutschen Straße“, in einem Kellergebäude und sie bietet etwa 100 Menschen Platz.


Der Gottesdienst ist gut besucht, es sind viele alte Menschen gekommen, die noch gut Deutsch sprechen, aber es gibt auch viele junge Menschen, die sich meist in russischer Sprache verständlich machen können. Der Gottesdienst wird deshalb zweisprachig gehalten. Der Charakter des Gottesdienstes ist eher freikirchlich, in den Liedern und Gebeten, aber auch bei der Predigt merkt man, dass die Menschen mitgehen, innerlich beteiligt sind und ihre Emotionen nicht verbergen.


Der Gast aus Deutschland wird freundlich begrüßt, für die Gemeinde ein seltener Besuch. Die Aufnahme ist überaus herzlich und freundlich. Nach dem Gottesdienst Händeschütteln und eine lange Runde gegenseitigen Erzählens. Natürlich sind auch einige dabei, die um Rat fragen, wie sie am besten nach Deutschland kommen, die Grüße mitgeben wollen oder die einfach sagen, dass sie nicht vergessen werden möchten.


Wir fahren zurück. Die Jugendlichen haben am Nachmittag miteinander gearbeitet. Der Abend ist frei. Das Wetter hat sich leider nicht gebessert. Einige Unentwegte sind schon wieder in die Wolga zum Schwimmen gegangen, aber es ist kälter als erwartet.


VII. Zeit für Begegnungen


3. Juli. Wir müssen unser Programm neu überdenken. Nastassia hat klare Vorstellungen und möchte am liebsten an jedem Tag einen Theater-Workshop mit abendlicher Aufführung durchsetzen. Das ist natürlich mit den Jugendlichen, die auch Erholung suchen, nicht zu machen. Deshalb müssen wir umstellen. Es muss Zeit für Begegnungen sein. Viele wollen zunächst das weitere Gelände erkunden.


Wie in der guten „alten Zeit“ heisst es auch jetzt erst einmal, sich registrieren zu lassen. Die Pässe müssen eingesammelt und Formulare ausgefüllt werden. Ein Glück, dies übernehmen unsere russischen Gastgeber. Eine kleine Gruppe fährt nach Saratov zum Einkauf, die Sonne über der Wolga lädt zum Strand ein, die Bauarbeiter nutzen die lange Mittagspause und angeln in der Wolga; ob sie wirklich etwas fangen und was sie fangen, ich wage es nicht zu entschlüsseln. Einige selbst gebaute Motorboote, die wahrscheinlich früher in Armeebesitz waren und als Landungsboote dienten, fahren über die breite Wolga; dem Schwimmvergnügen und dem Spiel am Strand tut das keinen Abbruch. Die Stimmung ist gut, das gegenseitige Kennenlernen trägt erste Früchte. Der Tag wird ein Erfolg.


Die Begegnungen vom Vorabend bei der „Disco im Freien“ werden heute am Strand fortgesetzt. Die Gruppe russlanddeutscher Jugendlicher, die im Programm der GTZ betreut wird, übt Volkstänze; mit den Lehrern werden wir uns gelegentlich treffen.


Unser Küchenchef spürt die Zurückhaltung beim Essen und bietet uns an, Schaschlik für uns vorzubereiten, aber das geht nur gegen Bares. Wir stimmen begeistert zu.


Zu unserer Gruppe gehören auch Jugendliche aus der Gemeindejugend in Saratov. Fünf Mädchen und ein junger Mann. Sie gehören zwar zu unserer Gruppe, aber es ist offenkundig, dass sie sich nur zögernd zugehörig fühlen. Nach einem strengen Reglement, das „Galina“ vorgibt, eine Russlanddeutsche, die die pädagogische Hochschule in Saratov erfolgreich absolviert hat und jetzt als Lehrerin arbeiten will, wird in Gruppendisziplin gemacht. Jeden Morgen um acht und jeden Abend um acht versammeln sie sich in einem der Zimmer und halten Andacht. Das Andachtsbuch, das ich ihnen zusammen mit geistlicher Literatur geschenkt habe, ist bereits in Dienst genommen worden. Es sind junge Leute zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren, im öffentlichen Auftreten betont schüchtern, Autoritäten gegenüber unterwürfig, aber durchaus handfest im täglichen Leben. Sie sind alle fleissig, haben große Talente und sind geübt in der deutschen Sprache. Was ihnen vielleicht fehlt, ist das Selbstbewusstsein unserer Jugendlichen, die mit ihren Überlegungen, Gefühlen, Ängsten und Enttäuschungen frei heraus sind. Fast alle in der Gruppe, mit Ausnahme einer jungen, verheirateten Frau, haben einen Ausreiseantrag gestellt.


„Galina“ hat mich zur Abendandacht eingeladen. Die Gruppe hat sich besonders vorbereitet. Die Andacht feiern wir in beiden Sprachen, wobei die Verwendung des deutschen Andachtsbuches dazu zwingt, den Text auch noch ins Russische zu übersetzen. Das hat „Galina“ am Nachmittag bereits getan und sie ist gut vorbereitet. Eine Teilnehmerin, die die Bibellese übernommen hat, trägt einen bunten Schal über dem Kopf, was offenkundig Ausdruck der Ehrfurcht vor dem Wort Gottes ist, sich nicht ohne Bekleidung des Kopfes in der Gemeinde zu zeigen (1. Tim. 2, 9). Die Lieder sind voller Inbrunst und Jesus-Frömmigkeit, getragen in Ton und Geschwindigkeit, mit Texten, die unsere Jugendlichen kaum mitsingen würden. Es ist selbstverständlich für die Gruppe, dass man sich zum Gebet erhebt, die Augen schließt und andächtig den Text hört bzw. mitspricht.


Eine beeindruckende Gruppe junger Menschen!


Nastassia hat heute ihr Diplom erhalten. Sie hat eine Arbeit über die phonetische Entwicklung der Sprache der Russlanddeutschen geschrieben. Ein Exemplar hat sie uns mitgebracht, das wir kurz überfliegen. In der „Wolga-Zeitung“ soll ein Kapitel dieser Arbeit veröffentlicht werden; wir bieten an, das Manuskript mitzunehmen, um es möglicherweise auch in Deutschland zu publizieren. Ganz interessant ist, dass in der Arbeit auch ein kurzer Reflex auf die Migrationsarbeit in Deutschland erfolgt. Aber für eine genauere Analyse wäre erforderlich, sich den Text ausführlich durchzulesen.


Nastassia hat Wein, Schokolade mitgebracht, Natascha besorgt den Wodka und einige aus unserer Gruppe haben Kaviar gekauft. Ein wahres Festessen. Wir lassen es uns gut schmecken und unterhalten uns.


Der Tag am Strand klingt bei einem kühlen Bier aus.


VIII. Saratau – Saratov – Stadt mit Geschichte


a) Stadtbilder


4. Juli. Aufstehen, zum Himmel sehen, Morgentoilette. Hygiene ist ein Problem. Nach den ersten Tagen und der intensiven Benutzung der Duschen kommt der Untergrund ins Schwimmen. Dabei sind wir noch sehr privilegiert, weil wir eine Toilette auf unserem Zimmer haben. Aber unsere Augen und unsere Gefühlswelt sind von anderen Gewohnheiten geprägt. Hier will jeder Tritt genau bedacht und geprüft sein. Es kostet etwas Überwindung, aber ohne Dusche wäre alles noch komplizierter.


Nachdem es in der Nacht geblitzt und gedonnert hat und ein richtiges Unwetter über der Wolga hernieder gegangen ist, erstrahlt der Tag mit einem wunderbaren Blau am Himmel und die Stimmung ist prächtig.


Heute steht die Stadtbesichtigung auf dem Programm. Wir fahren nach Saratov (von tatarisch Saratau, gelber Stein), 1590 gegründet, von drei kleineren Bergen umgeben, etwa eine Million Einwohner, fünf Universitäten mit bedeutenden Besuchern: Humboldt, 1829; Clara Zetkin, 1924. Heute sind wir da.


Holzhäuser haben zunächst das Stadtbild bestimmt, in dem Kosacken, deutsche Kaufleute und Russen ihren deutlichen Stempel hinterlassen haben. Die Stadt lag an einem wichtigen Handelsweg nach Asien, vor allem nach Astrachan am Kaspischen Meer. Heute bestimmt die chemische Industrie die Stadt; bis zur Wende unter Gorbatschow war die Rüstungsindustrie in Saratov zu Hause. Das brachte der Stadt Mitte der fünfziger Jahre den Status einer „geschlossenen Stadt“ ein. Dieser hielt bis in die neunziger Jahre an und war für die Bewohner eine harte Belastung.


Die kleinen bemalten Holzhäuser, stark verwittert, mit Ziegelsteinfundamenten verkleidet, können nicht mehr verdecken, dass sie nur noch ein erbärmliches Zuhause anbieten. Doch die Menschen haben keine Wahl, deshalb sind alle auch noch so schrecklich aussehenden Häuser bewohnt.


Uns fährt ein Bus, der noch alle Anzeichen eines deutschen Linienbusses im Harz aufweist. Wir fahren über den Heumarkt, auf dem früher die Landbevölkerung Heu verkaufte für die Viehhaltung in der Stadt.


Die Stadt lässt an manchen Stellen noch erkennen, dass sie einst eine blühende Kaufmannsstadt war. Große, den Wohlstand dokumentierende Häuser mit reichen Ornamenten lassen sich entdecken, aber der Putz ist längst abgefallen und die verschiedenen Versuche, den alten Schmuck wieder einigermaßen herzustellen, sind nicht gelungen.


Die deutschen Kaufleute, in der Folge der ersten Kolonisten um 1750 ins Land gekommen, haben eine führende Rolle in der Stadt übernommen; vor allem in der Mehlproduktion sind die Familien Schmidt, Borell und Reinicke durch ihre Dampfmühlen an der Wolga bekannt geworden. Sie haben das Korn aus der Umgebung gekauft und ihr Vermögen mit der Mehlproduktion und dem Transport auf der Wolga verdient. Ihre Stadtvillen sind noch erhalten, aber die willkürliche Nutzung durch staatliche Einrichtungen sind nicht spurlos an den wertvollen Gebäuden vorübergegangen; und für Restaurierungsarbeiten fehlt das Geld. Viele Gebäude aus der Jahrhundertwende sind noch vorhanden, aber sie haben durch die fehlende Pflege und Sorgfalt stark gelitten. Was immer funktioniert ist die Wodka-Fabrik in der Mitte der Stadt; das Krankenhaus nebenan sieht dafür ganz anders aus und niemand kann sich wünschen, die Dienste des Krankenhauses in Anspruch nehmen zu müssen. Die Straßen, Häuser und Parks machen den Eindruck, als seien Menschen und irgendwelche pflegenden Hände lange nicht mehr dagewesen. Zwischen den leuchtenden und protzigen Bankgebäuden finden sich Bauwerke, die seit zwanzig Jahren auf ihre Vollendung warten. Niemand wundert sich mehr, wenn die Fertigstellung immer wieder angekündigt wird!


Die neue katholische Kirche wird mit Eifer gebaut und ist bald fertiggestellt.Wir erfahren, dass in der Gegend um Saratov etwa 17.000 Christen leben, die sich gegen die als Staatskirche anerkannte orthodoxe Kirche behaupten müssen; davon sind etwa zwei Drittel evangelisch und ein Drittel katholisch. Die kleine evangelisch-lutherische Gemeinde in Saratov sammelt eifrig für ein neues Kirchengebäude, nachdem ihre Marienkirche 1972 zerstört worden war. Aber wann das sein wird, kann heute noch niemand sagen.


Immer wieder beeindrucken die schmiedeeisernen Arbeiten, die Ornamente an Häusern, aber alles hat angesichts der Witterung und der mangelnden Pflege stark gelitten.


Dafür bemühen sich die Menschen mit allen Attributen der westlichen Welt, sich von der Eintönigkeit des Lebens abzuheben; natürlich ist Coca-Cola da, MercedesChrysler, das hier noch Mercedes- Benz heisst, aber auch Versace. Mode, Sporttrikots, Hot pants, Vereinstrikots stehen in hohem Kurs; jeder versucht, sich chic zu machen, aufzufallen; das gute Wetter schafft gute Voraussetzungen dazu.


An den Stadträndern finden sich Automärkte, die alle Fahrzeuge anbieten, die sich so mancher Bürger von Saratov wünscht. Ob Jaguar, Mercedes, Ford, Opel, ob Honda, Hyundai oder Lada und natürlich der neue Wolga; im Stadtbild sind sie dann alle zu sehen. Die entscheidende Frage, wer wie an ein solches Luxus-Modell auf seriöse Weise kommen kann, bleibt ungestellt.


b) Geldwechsel


Wir wollen Geld tauschen und besuchen deshalb eine Bank. In sie kommt man nicht so einfach hinein. Wachleute stehen bereit, die nur jeweils zwei Personen in das Bankgebäude hineinlassen. Der Bankschalter befindet sich im Keller; hinter einer dicken Panzerwand sitzt eine Mitarbeiterin, die gegen Vorlage ausländischer Währung und des Reisepasses den Geldwechsel vornimmt; dabei kann es vorkommen, dass einzelne Scheine nicht angenommen werden (zum Beispiel, wenn ein Schein eingerissen ist oder wenn ihm gar eine Ecke fehlt). Und vor allem, es dauert. Wir haben Glück, es geht alles ohne Probleme vor sich.


Wir schlendern durch die „deutsche Straße“. Sie war früher und ist heute eine Flaniermeile ohne Autoverkehr, links und rechts Straßencafés und Geschäfte, die zum Geldausgeben einladen. Dafür fehlt den meisten der finanzielle Rahmen, also zeigt man sich.


Wir gehen weiter zum Basar, der ein reichhaltiges Angebot bietet; es gibt alle Sorten von Gemüse, Gewürzen, Früchten, Fleisch. Aber auch hier gilt, nur wer Geld hat, kann sich die entsprechenden Artikel leisten. Dennoch, es wird ganz gut gekauft.


Wir essen im Bistro in der „deutschen Straße“, einige Eltern der russischen Gruppenmitglieder besuchen ihre Kinder. Dann kommt Olga Litzenberger, die ein Buch geschrieben hat über die Geschichte der Wolga-Deutschen, das leider nur in russischer Sprache erschienen ist.


Auf den Straßen ist es laut, die Musik ist nicht sonderlich neu, aber sie unterstützt die Vorstellung, das Lebensgefühl der Zeit gefunden zu haben.Dort, wo immer wieder flaniert und sich gezeigt wird, schlängelt sich auch fast unbemerkt das Elend vorbei. Die schmutzigen Menschen, die um einen Groschen betteln, die Frau, die sich vor einem bekreuzigt und die Hand aufhält, oder der Bettler, der am Straßenrand liegt, die Hand ausstreckt, aber längst eingeschlafen ist, oder der blinde Mann, der sich durch die Stadt müht und den kaum jemand wahrnimmt….


Das Elend ist sichtbar, auch wenn alle bemüht sind, sich herauszuputzen und zu zeigen, was man hat. Auch die Roma-Kinder dürfen nicht fehlen, sie betteln im Café und werden wie überall auf der Welt vertrieben; irgendwo steht ihre Mutter, die einsammelt, was die Kinder erbettelt haben.


c) Fahrt auf der Wolga – Lebenslinien am Beispiel von A.


Fahrt auf der Wolga. Die ganze Gemeinde ist gekommen. Eine herzliche Begrüßung, alles scheint ein großes Ereignis zu sein.


Ich lerne A. aus Leipzig kennen, die schon am Sonntag im Gottesdienst übersetzt hat. Sie ist 1956 mit einem sowjetischen Soldaten nach Saratov gekommen, hat geheiratet, zwei Kinder bekommen. Kurz nach ihrer Ankunft wurde Saratov zur „geschlossenen Stadt“ erklärt. Die Rüstungsindustrie war der Grund dafür. Niemand kam rein, niemand kam raus aus der Stadt ohne offizielle Genehmigung. Diese war nicht einfach zu bekommen, sondern hing immer von der Willkür der verschiedenen Parteigremien ab. A.‘s Mann arbeitete in der Rüstungsindustrie, aber wegen seiner Heirat mit einer Deutschen kam er nicht mehr richtig voran. Seine Karriere war verbaut. Die nächsten Stationen waren vorgezeichnet: Alkohol, andere Frauen, schließlich Scheidung. Für A. brach im wörtlichen Sinne eine Welt zusammen. Sie war zwar deutsche Staatsbürgerin (DDR), sogar aus einem „Bruderland“, aber sie konnte nicht nach Deutschland zurück. Sie hätte man vielleicht gehen lassen, aber ohne Kinder. Das sowjetische System verlangte immer ein Pfand, wenn man das normalste von der Welt wollte.


A. hatte ihr Studium der Slawistik in Leipzig nicht beendet. Was sollte sie hier damit? Also studierte sie am Pädagogischen Institut Deutsch. Rasch wurde sie Lehrerin an der Pädagogischen Hochschule, aber in die Prüfungskommission wurde sie nie berufen. Ihre deutsche Nationalität machte sie verdächtig. Von diesem Verdacht hat sie sich nie befreien können.


So sind die Jahre in Saratov Jahre der Prüfung geworden. Mit ihrem Mann hat sie sich einigermaßen verständigen können, aber er ist letztlich zerbrochen und hat sich selbst das Leben genommen. Mit dem schmalen Einkommen musste sie sich durchschlagen und ihre Kinder aufziehen, an denen die Spannungen des Elternhauses und der Umgebung nicht spurlos vorübergegangen sind. In der Schule waren sie die „Hitlerovskis“ oder die „Faschisten“, bei sozialen Aktivitäten konnten sie nie Fuß fassen oder Vertrauen gewinnen. Der Sohn ist seit einem Jahr verschwunden, die Tochter lebt mit zwei Kindern in Saratov. Sie hat drei Arbeitsstellen, um ihre Kinder zu ernähren, die Miete und Nebenkosten bezahlen zu können.


A. hat wiederholt die Mutter in Leipzig besucht, aber das war jedes Mal schwierig und von Zufällen abhängig. Eine Rückkehr in die DDR war ausgeschlossen. Doch jetzt will sie unter allen Umständen zurück nach Deutschland. Mit ihr wird die Tochter mit den Kindern reisen. Die Zukunft ist ungewiss, wovon soll sie leben? Als deutsche Staatsbürgerin in der Sowjetunion ist sie keine Aussiedlerin und ob ihr die Zeit an der Universität, annähernd dreißig Jahre, angerechnet wird, weiss niemand. Sozialhilfe?


Den Entschluss, aus Saratov wegzugehen, hat befördert, dass sie im vergangenen Jahr ihre Arbeit an der Universität verloren hat, weil sie keine Promotion aufzuweisen hatte. Gerade aber dies war ihr unmöglich gemacht, weil sie in der „geschlossenen Stadt“ lebte und keine Erlaubnis erhielt, die notwendigen wissenschaftlichen Arbeiten in Bibliotheken anderer Städte durchzuführen. Ironie des Schicksals oder schlicht Schikane? Es ist gleichgültig, ihr Leben hat sich in den Fängen des Kalten Krieges verstrickt und manifestiert ein Beispiel eines gezeichneten Lebens an der Wolga.


Auf dem Schiff ist Gelegenheit, mit vielen aus der Gemeinde zu sprechen. Einige träumen noch von der Wolga-Republik, die es nicht mehr geben wird. Kaum einer glaubt jedoch daran, dass sich in Russland etwas ändern wird. Die nach außen hin erfolgte gesellschaftliche Änderung hat nichts verändert; es ist alles beim Alten geblieben. Die alten Kader, die alte Nomenklatura hat im neuen Gewand die alten Positionen festgehalten und bedient sich weiter. Die einfachen Menschen, längst desillusioniert, ohne Widerstandskraft, haben die Hoffnung auf Änderung aufgegeben. Wer tatsächlich versucht aufzumucken, den bricht das System. Jeder kann versuchen, den geraden Weg zu gehen, er wird schnell feststellen, dass ihm nichts gelingen kann. Überall muss geschmiert werden, überall wollen andere mitverdienen, überall muss mitgespielt werden, sonst gelingt nichts. Die Ergebnisse dieses lange geübten Systems zeigen sich im Stadtbild und in den schmucken Häusern am Stadtrand. Für wenige!


Der alte Stolz, „mir sin doch Deitsche“, kommt aus alten Mündern, die in der evangelisch-lutherischen Gemeinde zusammenstehen, ihre Ängste und Befürchtungen, ihre Abhängigkeit und Armut teilen und auf Gottes Führung hoffen. Sie alle sind den langen Weg nach dem Stalin-Dekret von 1941 gegangen, weg von der Wolga (weil man ihnen vorwarf, mit den deutschen Truppen Funkkontakt zu haben und so etwas wie die 5. Kolonne der Wehrmacht zu sein), man ließ ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit und verschleppte sie dann in offenen Güterwagen nach Sibirien. Dort mussten sie sich neu beheimaten, überleben, aber viele von ihnen haben schon diese erste Station des Leidens mit dem Tod bezahlt. Aus Sibirien sind in jüngster Zeit einige wieder an die Wolga zurückgekehrt oder haben den Umweg über Kasachstan oder Usbekistan oder Tadschikistan oder Kirgisien nehmen müssen. Viele haben im Kaukasus die längste Zeit ihres Lebens zugebracht und sind an die Wolga zurückgekommen in der Hoffnung auf eine neue Wolga-Republik. Die Hoffnung ist zerstoben. „Gäbe es unsere Gemeinde nicht, wir wären längst kaputt“, ist die einhellige Auffassung.


So hat die kleine ev.-lutherische Gemeinde die wichtige Aufgabe des Zusammenhaltens und der Pflege des guten geschwisterlichen Kontakts zur katholischen Gemeinde; sie wirkt attraktiv und einladend für die Menschen, die sich religiös orientieren, aber gegen die übermächtige Staatskirche kommen beide nicht an.


Das Land an der Wolga ist fruchtbar. Schwarzer Boden, den die Menschen nutzen, um ihrer Armut wenigstens dadurch abzuhelfen, dass sie ihr eigenes Gemüse ziehen und so für den Lebensunterhalt das Notwendigste haben. In den Flussauen und an den Flusshügeln schmiegen sich eigenwillig konstruierte Schreberhäuschen, die hier Datscha heißen und einen gewissen Wohlstand signalisieren. Der eigene Garten ist so etwas wie eine Lebensversicherung, denn bei Einkommen bis maximal 500 Rubel (1 DM = 13 Rubel) sind keine großen Sprünge möglich. Zudem ist der Wohnraum in der Stadt sehr teuer und man ist keineswegs gewiss, am Monatsende auch den Lohn für die geleistete Arbeit zu erhalten. Ohne den eigenen Garten wären viele Familien verloren, denn auf dem Land wird schon seit Jahren kein Lohn mehr bezahlt. Zur teuren Wohnungsmiete (200 bis 500 Rubel) kommen die erheblichen Kosten für Gas, Wasser und Elektrizität.


Die Fahrt über den Fluss zeigt eine weitgehend unberührte Landschaft mit herrlichen, kleinen Inseln, mit Strand, kleinen Wäldern und Sümpfen; hier hätte ein gedämpfter Tourismus eine Chance, aber längst haben sich dort andere angesiedelt, die die Natur zerstören und das ökologische Gleichgewicht ins Schwanken bringen werden. Die Wolga ist die Entsorgungsstelle für die Abwässer der Stadt, aber wen kümmert dies hier, wo es täglich darum geht zu überleben.


In der Stadt gibt es noch eine kleine jüdische Gemeinde, aber auch hier sind die meisten Gemeindeglieder inzwischen nach Israel ausgewandert. Bei der Stadtführung ist dies nicht erwähnenswert.


Vom Boot geht es in die Oper, eine weltberühmte russische Sängerin (Lubow Kasarnowskaja) gibt in Saratov ein Konzert. Das Gebäude stammt aus dem Ende des letzten Jahrhunderts, es ist gut gepflegt und auch technisch bestens ausgestattet. Alles funktioniert. Ausstattung und Bühnenbild wirken antiquiert, aber was macht das schon bei einem leichten und schönen Durchgang durch die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts.


Gekommen sind nicht etwa die Musikfreunde, sondern eher die „Betuchten“, die es sich leicht leisten können, 600 Rubel (ein Monatsgehalt) für diesen Konzertabend auszugeben.


Die Fahrt zurück nach „Wolskie Dali“ (weite Wolga) ist nachdenklich; während des Konzerts hat es wieder einen kurzen Wolkenbruch gegeben, die Straßen der Stadt sind übersät mit Pfützen und größeren Seen, die sofort zu unangenehmen Fontänen werden, wenn ein Auto durchfährt. Rücksicht wird hier nicht genommen, weder auf Passanten, noch auf das eigene Auto. Die Gehwege versinken im Morast und es ist immer wieder verwunderlich, wie es die Menschen schaffen, sich vor dem gröbsten Dreck zu schützen.


Abends sitzen wir gemütlich zusammen. Es hat Ärger wegen der vergangenen Nacht gegeben, weil einige Jugendliche noch nach 23.30 Uhr laut waren. Die Geschäftsleitung hat bei unserem Partner in Saratov angerufen und um Mäßigung gebeten. Die Jugendlichen werden eingeschworen, sich den Verhältnissen im Gastland anzupassen. Für die sowjetischen Jugendlichen wird angedroht, dass sie bei erneutem Zuwiderhandeln nach Hause geschickt werden und die Schule bzw. Universität informiert wird. Strenge Sitten, die mit einer Pädagogik zusammenhängen, die uns fremd ist und die wir Gott sei Dank überwunden haben.


IX. Fahrt über Land – „Siedlung Steppe“


5. Juli. Eine kurze Nacht, denn schon um 8.00 Uhr wartet das Auto, das uns nach Saratov bringt und von dort aus wollen wir in die Umgebung fahren. Die Abholung verzögert sich, weil unser Auto erst mit zwanzigminütiger Verspätung eintrifft. Wir fahren zum Deutschen Haus in Saratov und von dort aus über die Wolga nach Engels. Unser Fahrer kennt die Landesverhältnisse, er fährt in der zweiten oder dritten Reihe ohne Rücksicht auf Verluste, hupt, aber es passiert nichts. Unser Ziel heisst Stepnoje (Siedlung Steppe), etwa 130 bis 150 Kilometer von Saratov entfernt. Wir müssen über Engels nach Marx und erreichen nach zwei Stunden Stepnoje.


Die Siedlung ist mit Geld aus Deutschland ab 1991 gebaut worden; im Augenblick sind es 108 Häuser, in denen Deutschstämmige aus Usbekistan und Kasachstan Unterkunft gefunden haben. Der Regen hat die Wege aufgelöst, überall ist Matsch und selbst bei größter Vorsicht kann man dem Dreck nicht entkommen.


Die Besitzverhältnisse sind bewusst unklar gehalten; die Familien, die die Häuser bewohnen, sind nicht Eigentümer. Deshalb werden auch keine Renovierungen vorgenommen und jede bauliche Veränderung oder Verbesserung geht auf eigene Rechnung. Im Dorf gibt es keine Arbeit, die Menschen leben aus den Gärten um die Häuser, die sie gut bewirtschaften. Der einzige Arbeitgeber in der Gemeinde ist die frühere staatliche Sowchose, sechs Kilometer entfernt, die heute privatisiert ist, aber unter dem neuen Namen im alten Gewand weiterarbeitet. Der Direktor und alle leitenden Stellungen werden von denen wahrgenommen, die auch schon vorher das Sagen hatten. Wer einen Job bekommt, erhält 100 Rubel für die Feldarbeit im Monat, das sind 7,50 DM.


Kein Wunder, dass alle nichts als weg wollen, aber viele einzelne Schicksale beschreiben, weshalb dies nicht ganz so einfach ist.


In der jüngsten „Wolga-Zeitung“ wird der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Jochen Welt, zitiert, die „Eigeninitiative vor Ort“ fördern zu wollen. Die „Siedlung Steppe“ ist ein klassisches Beispiel von Wunsch und Wirklichkeit. Die Menschen sind verzweifelt, hoffnungslos, abgestumpft. Die kleine evangelisch-lutherische Gemeinde ist ohne Pfarrer; eine junge Frau aus Usbekistan hält Lesegottesdienste und bemüht sich jetzt, eine Kindergruppe aufzubauen. Dabei hilft der Pfarrer aus Saratov, der aber schon seit Wochen in Deutschland weilt.


Wir sind nach Stepnoje gekommen, weil heute die Kommission tagt, die freiwerdende Häuser an neue Interessenten vergibt. Das wird zunehmend ein Streitpunkt, weil diejenigen, die vor der Ausreise stehen, ihre Investitionen nicht mehr zurückerhalten. Die neuen Wohnungsbezieher sind keineswegs gewillt, getätigte Investitionen zu bezahlen. Meist fehlt ihnen selbst das Geld, aber selbst, wenn sie die Mittel hätten, würden sie es nicht tun wollen, weil sie die Ausweglosigkeit der Besitzer kennen. „Wenn sie ihre Garage abreissen und die Steine verkaufen wollen, dann tun sie dies doch. Sie können die Garage auch mitnehmen nach Deutschland“. Mit solchen Offerten wird letztlich persönlicher Besitz verschleudert und was die neuen Hausbewohner machen werden, interessiert niemanden mehr.


Die Kommission, bestehend aus dem Verwaltungschef der Gemeinde, der Bürgermeisterin der Siedlung und den zwei Vertretern der Gesellschaft, die die deutschen Projekte im Gebiet Saratov betreuen, haben einen schweren Stand. Sie kennen oft das persönliche Schicksal derer, die weggehen wollen und wissen, dass die zurückbleibenden Häuser für diejenigen interessant sind, die auf Dauer im Land bleiben wollen. So ist schon jetzt absehbar, dass – wenn die Deutschen eines Tages aus Stepnoje weg sein sollten – die Häuser von russischen Bewohnern übernommen werden.


X. Tränen in der Steppe


a) Besuch aus Deutschland


Wir besuchen eine ältere Frau, die jetzt in Deutschland lebt und gerade wieder einmal zu Besuch ist. Sie stammt aus der Gegend von Wolgograd, ist auf dem Dorf geboren und – wie viele andere ihrer Schicksalsgenossen auch –1941 nach Sibirien, nach Omsk gebracht worden. Der Vater kam in die Trud-Armee und blieb dort bis 1947; ausgemergelt und krank ist er nach Hause zurückgekehrt, die Familie ist dann aus Sibirien nach Usbekistan umgesiedelt, in die Gegend von Sarowschalne; dort haben sie gut gelebt. Mit der Wende Gorbatschows begann auch die Wende ihres Lebens in Usbekistan. Die dortige Bevölkerung, mit der sie über Jahrzehnte gut zusammengelebt hatten, machte ihnen plötzlich das Leben schwer. Als „Russen“ waren sie nicht länger willkommen.


Mit ihrem zweiten Mann, einem Russen, zog sie deshalb nach Stepnoje, um die Ausreise nach Deutschland zu organisieren. Der Mann stellte die Anträge und hat dabei die Kinder aus erster Ehe bewusst nicht in den Antrag aufgenommen. Das Schicksal wollte es, dass er vor der Ausreise verstarb und jetzt in Stepnoje auf dem Friedhof liegt. Seine Frau konnte mit ihren Geschwistern ausreisen, aber ohne ihre Kinder, die nicht auf dem Familienantrag standen und deshalb in Stepnoje verblieben. Bis heute! So kommt sie jetzt Jahr für Jahr nach Stepnoje, um den Kindern zu helfen. Diese müssen versuchen, neue Pässe zu bekommen, damit als Nationaliät nicht länger „Russe“ im Dokument steht, sondern „Deutsch“. Nur so haben sie vielleicht die Chance auszureisen und der Mutter zu folgen. Ob dies gelingt, weiss niemand, weil die Kinder kein Deutsch sprechen und den Sprachtest nie bestehen würden.


Hier in Stepnoje haben sie keinerlei Perspektive, die Arbeit wird so geringfügig bezahlt, dass die Familie davon nicht leben kann. Also muss die Mutter ihre schmale Rente noch einmal aufteilen, um die Kinder zu unterstützen. Vor allem die Kosten für Gas, Wasser und Elektrizität sind bei den kalten Wintern extrem hoch; woher sollen sie etwa 500 Rubel aufbringen, um diese Kosten tragen zu können?


Natürlich erfahren wir auch von allerlei Missgunst im Dorf, von der Not, der Armut, die sichtbar ist. Die Menschen haben keine Perspektive, die Kinder müssen zu einer Schule gehen, die sechs Kilometer entfernt ist und wo kein Bus fährt. Schicksal. Was sie zusammenhält, ist die kleine evangelisch-lutherische Gemeinde und der Kontakt zur katholischen Kirche. Aber auch hier herrscht der Eindruck vor, dass die katholischen Gemeindeglieder viel besser aus Deutschland versorgt werden als sie, gebrauchte Kleider erhalten oder Geld, damit sie z. B. Saatkartoffeln kaufen können. Wir können das nicht überprüfen, aber was nutzt es auch, es fehlt an Geld, es fehlt an Arbeit, es fehlt an Zukunft….


b) Kurz vor der Ausreise


Wir treffen einen vierundsiebzigjährigen Mann, der, auf‘s Gartentörchen gestützt, auf das Ergebnis der Kommissionssitzung wartet. Mitte Juli wird er nach Deutschland ausreisen. Er stammt ursprünglich aus der Gegend um Saratov und musste schon als Jugendlicher nach Sibirien. Auch er hat in Omsk gelebt und wurde in die Trud-Armee eingezogen. Sieben Jahre ist er dort festgehalten worden, danach musste er in den Kohlegruben arbeiten. Später ist er mit seiner Familie nach Usbekistan gezogen und hat dort als Chauffeur gearbeitet. Auch er hat mit seiner Familie in Sarowschalne, der Stadt mit den Goldgruben, gelebt. Es ging ihm gut, bis er wie alle anderen Russlanddeutschen Usbekistan verlassen musste, weil die Usbeken sich ihnen gegenüber feindlich erwiesen.


Seit 1991 ist er in der „Siedlung Steppe“ (Stepnoje). Er hat am Aufbau der Häuser mitgewirkt und hofft jetzt, sein Haus und die Erweiterungen günstig an den Nachfolger verkaufen zu können. Den Wolga hat er schon verkauft, aber er ist pessimistisch, weil die Menschen in Stepnoje kein Geld haben.


Wir fragen ihn nach seiner Familie. Er beginnt zu weinen und erzählt von seiner Frau, die vor etwa zweieinhalb Jahren „den Verstand verloren hat“. Sie ist psychisch krank geworden und so hofft er jetzt, wenn sie endlich ausreisen können, dass sie in Deutschland die angemessene medizinische Hilfe bekommen wird. Die Schwägerin ist schon in Deutschland. Jetzt folgt er mit seiner Frau, dem Sohn, der Schwiegertochter und dem Enkel in wenigen Tagen.


Die Fahrt kostet etwa 20.000 Rubel, neuerdings ist auch noch ein Transitvisum für Weissrussland erforderlich, für das ebenfalls gezahlt werden muss. Alle Ersparnisse aus Usbekistan sind in den neun Jahren in Stepnoje aufgebraucht worden. Jetzt fahren sie mit dem, was ihnen geblieben ist, in eine ungewissene Zukunft.


Er ist ein gebrochener Mann, „hier gibt es keine Zukunft“; die Ärzte im Krankenhaus haben ihm gesagt, seine Frau habe ein gutes Alter, sie könnte sterben, eine medizinische Hilfe sei nicht erforderlich. Was er in den kurzen Sätzen erzählt, ist die Wirklichkeit seines Lebens, einer Zeit harter Jahre mit mühsam erkämpften Erfolgen, die jetzt zerrinnen, weil er neun Jahre in einer Siedlung zugebracht hat, die absolut ohne Hoffnung ist. Nach Deutschland will er nur noch der Kinder und des Enkels willen, sie sollen eine gute Zukunft bekommen.


Ob er weiss, was ihn erwartet? Man kann eigentlich nur Gott bitten, dass sich Menschen finden in seiner Nähe, die ihm sein Schicksal tragen helfen und die ihm beistehen, eine adäquate medizinische Hilfe für seine Frau zu finden.


c) Dorfleben


In der Tat, von Veränderung oder gar Fortschritt ist hier auf dem flachen Land nichts zu spüren. Gnade Gott, wer hier ohne Moped, Motorrad oder Auto ist. Gnade Gott, wer keine Verwandten in Deutschland hat, die regelmäßig Geld schicken können. Gnade Gott, wer keine Registriernummer hat, die ihm zumindest die Hoffnung gibt, irgendwann einmal nach Deutschland ausreisen zu können…..


Ein Dorf ohne Arbeit. Wie mag es hier im Winter aussehen? Keine Elektrizität, offene Straßen, kein Wasser….. Es übersteigt die normale Vorstellungskraft, in solchen Umständen leben zu müssen. Was nützen in einem solchen Zusammenhang Vergabekriterien für Häuser: man muss Deutscher sein, viele Kinder haben, eine/n Kranke/n in der Familie, alleinerziehend, behindert…..


Wir fahren zurück. In der Ferne sehen wir, dass es in Saratov regnet. Unterwegs holt uns der Regen kurz ein, wir rasen durch Wasserlachen und Pfützen, an der Straße streunende Hunde, Rinderherden, Schafe und Ziegen, die zur Sowchose gehören, weite Kornfelder, weite Sonnenblumenfelder – ein reiches Land – für wen?


d) „…wenn das Karl Marx wüsste…“


Wir kommen nach Marx und besuchen die kleine evangelisch-lutherische Kirche. Das Gebäude ist der Gemeinde zurückgegeben worden, aber es befindet sich in einem beklagenswerten Zustand. Der prachtvolle Hallenbau mit drei Emporen ist völlig verwüstet. Die fünf Lüster, die früher sicher in vollem Glanz erstrahlten, sind Gott sei Dank erhalten, aber völlig renovierungsbedürftig. Orgel und Abendmahlstisch, Kanzel und Bestuhlung sind längst verschwunden. Das Gebäude hat als Kulturzentrum eines Industriebetriebes gedient und ist entsprechend misshandelt worden. Die Gemeinde hat einen im Paulinum in Berlin ausgebildeten Pastor, der in Kürze ordiniert werden soll. Er macht einen engagierten und zupackenden Eindruck; die Partnergemeinde in Potsdam tut ihr Möglichstes, um die Gemeinde zu unterstützen. Auf die Gemeinde wartet noch enorm viel Arbeit, aber die kleine Schar hat offenkundig genügend Gottvertrauen, dass es gelingen wird.


Wir verabschieden uns und fahren zurück nach Saratov, erneut werden wir in die Ambivalenz dieser Stadt geführt: den zur Schau gestellten Protz, den teuren Limousinen aus dem Westen und dazwischen die einsamen Papiersammler, die Kinder, die Flaschen aus den Abfallkörben sammeln, um sich so einen Rubel zu verdienen, der ihnen selbst oder aber ihrer Familie dienen wird. Lange Autoschlangen, nach billigem Benzin („Gouverneursbenzin“) anstehend, zeigen, dass auch die Mobilität ihren Preis hat und wer nicht ein gewiefter Mechaniker ist, läuft Gefahr, sein Auto unbrauchbar zu machen. Wer hier ohne „goldene Hände“ ist, sieht alt aus!


Über der Wolga strahlt gerade wieder die Sonne, kleine Wolkenberge unterbrechen die starke Sonneneinstrahlung, wir sind wieder zurück.


XI. Gang übers Gelände der Sanatoriumsanlage


6. Juli. Wieder ein strahlender Sonnentag. Die Stimmung ist gut. Einige haben zuwenig geschlafen. Olga, eine Teilnehmerin der russischen Gruppe, wird heute einundzwanzig. Sie erhält ein Glückwunschplakat und einige Geschenke. Die deutsche Gruppe singt ihr ein Geburtstagsständchen; gemeinsam mit der russischen Gruppe versuchen wir einen Volkstanz.


Nach dem Frühstück, das heute etwas später eingenommen werden muss, weil der gestrige Abend die Planung durcheinandergebracht hat, finden die Arbeitsgruppen am Strand statt. Jede Gruppe lernt ein Lied in der jeweils anderen Sprache. Das wird dann sofort ausprobiert und schließlich geht es weiter mit Taizé-Liedern.


Das Mittagessen verzögert sich ebenfalls; Kartoffelsuppe, Reis mit Fleisch und Krautsalat stoßen auf große Zustimmung.


Nachmittags tagt die Theatergruppe, eine andere Gruppe bereitet sich auf ein Spiel vor, bei dem die jeweilige Kenntnis des anderen Landes gefragt ist.


Auf dem Gelände wird heftig gebaut; der Maschinenpark ist nicht neuester Bauart, aber geschickte Hände bringen es immer wieder fertig, dass die Transportkräne oder die Paletten mit Ziegeln – wenn auch mit viel Krach und enormer Energieverschwendung – ihre Funktion erfüllen. Die etwas unkoordinierten Aktivitäten werden durch längere Pausen unterbrochen; der eine oder andere Bauarbeiter geht mit einer geschnitzten Holzrute an die Wolga, um sich einen Fisch zu angeln. Erstaunerlicherweise gelingt das auch hin und wieder, aber offenkundig hat das Spiel mit dem Unbekannten einen größeren Reiz als der Erfolg.


Am Abend referiert Olga Litzenberger zur Situation der evangelisch-lutherischen Kirche in Russland. Man merkt ihr an, dass sie sehr vorsichtig ist. Dabei hat sie eine umfangreiche Doktorarbeit zum Schicksal der Russlanddeutschen geschrieben. Minutiös ist darin dokumentiert, welches Verfolgungsschicksal diese Minderheit in Russland erlitten hat. Es wäre gut, wenn diese Arbeit auch ins Deutsche übersetzt und dann verbreitet werden könnte.


Das Interesse der deutschen Jugendlichen ist auffallend. Sie fragen viel nach und erhalten so einen knappen Überblick über die Ereignisse seit der Zeit der Ankunft der ersten deutschen Kolonisten an der Wolga. Vieles bleibt unangesprochen. Vielleicht schafft dies die Gelegenheit, darüber im Unterricht vertiefend zu sprechen. Es ist deutlich erkennbar, die beiden Gruppen haben sich gefunden, es sind kleine Freundschaften entstanden und vieles wird gemeinsam gemacht. Natürlich haben die Jugendlichen, die aus Russland stammen, einen deutlichen (sprachlichen) Vorteil. Man merkt, sie sind mit den Gepflogenheiten vertraut und sie finden sich ohne jegliches Problem zurecht. Dagegen haben die Jugendlichen ohne diesen Hintergrund erkennbare Probleme. Das beginnt bei der Hygiene, bei dem angebotenen Essen, bei der Schwierigkeit, Getränke oder Lebensmittel zu besorgen….. Aber irgendwie geht es ganz gut. Und der Leiter unserer Herberge hat nach vier Tagen seine ökonomische Chance erkannt und im Garten ein kleines Café eröffnet. So werden die Geldströme nicht mehr in den weit entfernt liegenden Kiosk umgeleitet, sondern landen direkt bei dem geschäftstüchtigen Herbergsvater.


Am Abend beginnt es zu nieseln und alle Aktivitäten werden auf die Zimmer verlegt.


XII. Stadtaktivitäten


7. Juli. Heute ist der Besuch des Kunstmuseums in Saratov angesagt, aber es gibt organisatorische Probleme. Unser schöner gelber Mercedes-Bus parkt mitten im Gelände, weil der direkte Zufahrtsweg durch Bauarbeiten versperrt ist. Unsere russischen Begleiter stellen plötzlich fest, dass wir alle einen Pass benötigen. Also müssen wir noch einmal ins Quartier zurück und dann kann die Fahrt in die Stadt beginnen.


In der Nacht hat es wieder mächtig gewittert und aus vollen Kübeln geregnet. Der Himmel ist Wolken verhangen, es fallen schon die ersten Tropfen, bevor wir die Stadt erreichen.


Wer sich unter diesen Umständen schön zu machen versucht und helle Kleidung trägt, muss damit rechnen, schmutzig zu werden. Ein Fehltritt genügt, eine Unachtsamkeit und schon ist alles dahin.


Am Straßenrand streunen Hunde herum, offenkundig auf der Suche nach einem Leckerbissen. An den Haltepunkten warten die Menschen auf den Bus, um in die Stadt zu kommen. Der Straßenbau muss unterbrochen werden, weil alles unter Wasser steht, die Menschen wirken angespannt, kein Lächeln ist auf ihren Lippen.


Wir erreichen das Stadtzentrum von Saratov. Es regnet. Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt. Wir gehen in ein Kunstmuseum. Unsere Führerin heisst Julia, die an der örtlichen Universität Deutsch studiert hat und sich durch mehrere Jobs über Wasser zu halten versucht. Von ihr erfahren wird, dass ein Job an der Uni zwischen 300 und 500 Rubel einbringt. Führungen im Museum oder andere Nebentätigkeiten sind also eine willkommene Möglichkeit, das schwache Budget aufzubessern. Übrigens gelten in Russland als offizielles Mindesteinkommen 700 Rubel pro Monat. Viele erreichen dieses Einkommen nie.


Im Kunstmuseum befinden sich Exponate aus einer privaten Sammlung. Die Führung erfolgt noch im wohlbekannten sowjetischen Stil und ist sozialkritisch unterlegt. 1885 eröffnet, als Schenkung aus Privatbesitz, bietet sie auch die große Schule der russischen Wandermaler mit starkem Anklängen an die westeuropäische Malkunst des 18. und 19. Jahrhunderts.


Es regnet in Strömen. Unser nächster Termin ist bei der Regierung des Oblast Saratov. Ein imposantes Glasgebäude mit einer Vielzahl von Kontrolleuren. Wir brauchen unsere Pässe nicht vorzeigen, sondern werden direkt durchgeführt. Erinnerungen machen sich bemerkbar. Wie zu sowjetischer Zeit ist alles vorbereitet, der Raum strahlt im Charme der vergangenen Zeit, auf den Tischen sind Namensschilder aufgestellt für die Mitglieder der verschiedenen Gruppen, ein Fernsehgerät hängt irgendwie im Raum, ohne dass man wüsste, weshalb es notwendig ist.


Völkerfreundschaft und Festigung der gegenseitigen Beziehungen werden betont. „Druschba und Mir“!


Wir erfahren von den noch ungefähr 17.000 Deutschstämmigen im Gebiet um Saratov. Ihnen stehen vierzig Kulturzentren zur Verfügung; es wird behauptet, dass dreizehn davon vom russischen Staat finanziert werden. Der Herr Minister betont, wie wichtig eine Jugendbegegnung wie die unsere ist. Seiner Unterstützung dürfen wir sicher sein! Wirklich? Wir werden sehen.


Nach diesem offiziellen Auftritt haben wir frei bis gegen Abend. Wir nutzen die Zeit zu einem Schlendern durch die Straßen. Es begegnet uns die Eleganz mit Plastiktüten aus Paris oder London; der Reiz der Fremde liegt den Menschen besonders am Herzen.


Kurzfristig entschließen wir uns zum Besuch des Generalkonsulats. Obwohl die offizielle Dienstzeit bereits beendet ist, empfängt uns der Kulturattaché zu einem kurzen Gespräch. Er gibt uns hilfreiche Anregungen für die Intensivierung und Optimierung des Jugend-Austausches; alles scheint ohne größere Probleme möglich zu sein.


Ein letztes Mal zum Markt. Er ist überfüllt mit Angeboten. Alles ist zu kaufen, wenn man die notwendigen Finanzmittel hat. Jeder sucht, ein Schnäppchen zu machen. Unsere Jugendlichen haben sich in russische Uhren verliebt und kaufen zur Freude des Ladenbesitzers kräftig ein.


Das Wetter ist unbeständig, die Häuser, an denen wir vorbeigehen, klagen über die Misshandlungen aus Jahrzehnten, denen sie widerstehen konnten, aber schließlich haben sie sich doch der Willkür ergeben müssen. Die schmiedeeisernen Meisterarbeiten, die ihren Glanz und ihre Klasse trotz Regen und Wind behauptet haben, sind jetzt krumm und schief, weil ihnen ihre Besitzer keine Anerkennung und Pflege haben widerfahren lassen. Über den Schaufenstern sind einfache Bleche gespannt, die den Regen in voller Wucht auf die Straße lenken. So muss man jedesmal aufpassen, um nicht von einer Wasserladung getroffen zu werden. Die Menschen sind erfahren im Umgang mit solchen Situationen, gezeichnet von der Hoffnungslosigkeit, dass es sich doch nicht lohnt, sorgsam mit dem „Volkseigentum“ umzugehen. Also verfällt alles weiter; wo einmal etwas repariert wird, entstehen andernorts neue Löcher. Hier bleibt nur die Flucht ins Private oder man lässt sich auf Spielregeln ein, die die Bürokratie oder die Mafia vorgeben.


Rush hour bei der Fahrt aus der Stadt, eine Polizeikontrolle lässt alle etwas vorsichtiger sein, aber die verheerenden Straßenverhältnisse führen sofort zu Staus.


Alle sind ziemlich erschlagen von dem Aufenthalt in der Stadt. Am Abend eine knappe Verabschiedung. Geschenke werden ausgetauscht, Verabredungen getroffen und natürlich die normale Planung für die kommenden Tage in Angriff genommen.


XIII. Abschied von der Wolga


8. Juli. Sar Avia 2917 nach Hannover. Wir sind schon vor 7.00 Uhr am Flughafen. Viele Menschen sind unterwegs, für einige ist die Nacht im Straßengraben noch nicht zu Ende.


Die Abfertigung am Flughafen erfolgt ohne erkennbares System. Gewichtig ist das Auftreten der Beamten, das Transportband in Wohnzimmergröße setzt sich immer wieder ruckartig in Bewegung, viele Passagiere sind völlig entnervt. Gegen die mürrische Staatsmacht hat keiner eine Chance. Im Hintergrund höre ich die Stimme eines alten Mannes, der offenbar Probleme hat, mitgenommen zu werden. Er beruft sich auf sein Alter, 75 Jahre, und seinen Status als Pensionär, aber dies scheint niemanden zu beeindrucken. Das Telefon klingelt, der Mann kommt nicht an Bord.


Gegen 7.15 Uhr sind wir alle „abgefertigt“. Jetzt beginnt das große Warten. Die kleinen Kinder sind ungeduldig, die Babies quängeln. Die Eltern versuchen alles, ihre Kinder stillzuhalten. Es bleibt Gelegenheit zu Gesprächen. Viele sind zu Besuch bei ihren zurückgebliebenen Familienangehörigen gewesen. Das ist auch der einzige Grund, weshalb sie immer wieder zurückkehren. Für viele, so sagen sie zumindest, war es das letzte Mal. Sie sind entsetzt von der Situation, sie glauben nicht an Besserung, sie bedauern diejenigen, die es verpasst haben, rechtzeitig auszureisen.


Gegen 8.30 Uhr Ortszeit dürfen wir endlich den kurzen Weg durch das Gebäude zum Flugfeld antreten. Erneut besteigen wir das abenteuerliche Gefährt, das uns zum Flugzeug bringen wird. Die Maschine ist einsteigebereit. Draußen regnet es. Der Start gelingt problemlos. Ein letzter Blick auf die Wolga und dann liegen erneut vier Stunden vor uns, bis wir in Hannover landen.


Ende einer Dienstfahrt?


Die Empfindungen sind langsamer als die Düsenmaschine; viele Eindrücke wollen erst noch ankommen und verarbeitet werden. Es wäre schön, wenn es nicht nur eine Episode bleiben würde. Die Wolga ist mehr als nur ein Fluss in Europa.


Und was bedeuten die Einsichten für die zukünftige Arbeit mit „Aussiedlern“? Hier hat sich – fast unbemerkt – im Horizont einer vorbildlichen Verbindung von Schule und Freizeitarbeit in unserer Kirche ein Pilotprojekt etabliert, das weitergeführt werden muss.


Die Jugendlichen aus Hilden könnten ihre Mediatoren-Rolle noch deutlicher wahrnehmen, wenn der Begegungsrahmen klarer konturiert würde.


Eine Gemeinde- und Schulpartnerschaft mit regelmäßigen Begegnungen, ein Schul- und Studierenden-Austausch könnten die Basis dafür bilden, dass die Ausreise nach Deutschland und die Eingliederung in unsere Gesellschaft nicht dem Prinzip Zufall unterliegen, sondern sich zu gezielten Abstimmungen entwickeln. Länderzuweisung, Wohnung, Ausbildungs- und Arbeitsplatz, berufsbegleitender Sprachunterricht, Aufgenommensein in der Gemeinde könnten miteinander verbunden werden und den Ankommenden eine Perspektive eröffnen, sie zu Landsleuten werden lassen…


Das sind Überlegungen, die jetzt geprüft und vielleicht in die Tat umgesetzt werden können…


Hoffentlich!


Jörn-Erik Gutheil


Düsseldorf, 10. Juli 2000