Pressemitteilung

Vortrag in der Universität zu Bonn am 9. Mai 2000

Vortrag in der Universität zu Bonn am 9. Mai 2000

  • 15.3.2002

Medien und Menschenwürde – Gedanken zur aktuellen Lage in den Medien
Inhalt:
1. Haben wir das Fernsehen, das wir verdienen?
2. Zur Rolle der Kirche in der gesellschaftlichen Mediendebatte.
3. Menschenwürde in den Informationssendungen.
4. Menschenwürde in der digitalen Welt.


Anrede


über Medien möchte ich mit Ihnen heute Abend nachdenken, darüber, wie sie auf uns wirken, und darüber, was sie aus uns machen. Einige medienethische Maßstäbe möchte ich in die aktuelle Diskussion einbringen und Perspektiven aufzeigen, wie sich die evangelische Kirche im öffentlichen Mediendiskurs profiliert.


Am ersten Ostertag telefonierte ich mit einem guten Freund – hochgebildet, politisch interessiert, geistig wach. Unser Gespräch kreiste um die Frage, wie die Krisen unserer Zeit zu begleiten seien. Wir waren uns schnell einig, als es um Symptome des Werteverfalls ging. Eines dieser Symptome sei das Programm der bei uns über Kabel und Satellit erreichbaren Fernsehsender. Nichts sei dabei, das uns an diesem Oster-habend gefesselt hätte.


„Das Programm wird nicht für uns zwei gemacht“, tröstete ich uns. Aber mein Gesprächspartner war damit nicht zu beruhigen. Ostern, das Fest, dessentwegen unser Land die Feiertage hat und Ferien macht, habe als Thema im Abendprogramm keinen Platz. Es sei auch nicht die Spur einer feierlichen, festlichen Thematik erkennbar, geschweige denn eine direkte Verbindung zum Osterfest. Statt dessen sei die Seichtigkeit des Programms nicht zu überbieten.


 Eigentlich sollte es doch selbstverständlich sein, dass wir präzise informiert werden oder angenehm unterhalten – aufgemuntert, aufgerüttelt oder gerührt.


Gott sei Dank gibt es Journalisten und Journalistinnen, die sorgfältig arbeiten, die gut recherchieren, auswählen, berichten, kommentieren und präsentieren. Es gibt auch Drehbuchautoren -innen und Redakteure, die für gute Unterhaltung sorgen. Sie bieten eine schier grenzenlose Phantasie auf, um im immer breiteren Angebot des Fernsehens Geschichten zu erzählen, die ans Herz gehen, in denen wir das Leben wiedererkennen, in denen wir Konflikte sehen, wie in einem Spiegel.


Es ist falsch, von „bösen“ Medien zu reden. Das Christentum, speziell der Protestantismus, ist eine Religion, die von Anfang an Medien für die Kommunikation genutzt hat.


Die ältesten erhaltenen Zeugnisse unseres Glaubens sind Briefe und aufgeschriebene Geschichten. Durch Abschreiben und Vorlesen hat der Glaube Verbreitung gefunden. Bilder und Plastiken haben die Vorstellungen des Glaubens geprägt. Die reformatorischen Ideen fanden rasche Verbreitung, weil ein neues Medium genutzt wurde: Die Kunst des Buchdruckes mit beweglichen Lettern.


Die rasante Entwicklung der elektronischen Medien bringt uns an eine neue Schwelle mit bisher ungeahnten Chancen.


Wenn im Folgenden also kritisch gewertet wird, was sich zur Zeit im Bereich des Fernsehens ereignet, wenn die Grauzonen und Grenzverletzungen benannt werden, so bedeutet das nicht, die Medien selbst zu schelten. Es geht vielmehr um Tendenzen ihrer Nutzung, um den Hinweis auf Entwicklungen, die nicht widerstandslos hingenommen werden sollten.


 1. Haben wir das Fernsehen, das wir verdienen?


Der Programmdirektor von En de Mol in Deutschland Axel Beyer, der Promotor und Verkäufer von „big brother“ sagt „Ja, diese Gesellschaft hat genau das Fernsehen, das sie verdient.“ Und er verkaufte „big brother“ an RTL2, und er kann heute sagen: Nach seinen Maßstäben war das ein Erfolg. Die Sendung erreicht 30% der jugendlichen Zuschauer, sie hat eine medienwirksame Debatte ausgelöst und ist zum Teil Tagesgespräch in den Schulhöfen. In hellen Scharen ziehen die Leute nach Hürth, um etwas mitzukriegen von dem, was hinter den Kulissen geschieht bei einer Sendung, die selber schon hinter den Kulissen zu spielen vorgibt.


Die Grenze ist überschritten. Denn es ist keine Sendung, was sich da hundert Tage lang Abend für Abend zur besten Sendezeit abspielt, es ist ein Gesellschaftsspiel mit absurden gruppendynamischen Blüten.


100 Tage lang lassen sich 10 Leute von einem Sender auf ca. 200 qm zusammensperren, ziemlich stressfest sollen sie sein. Alle 8 Tage werden von den Bewohnern zwei „nominiert“ wie es heißt. Und aus diesen beiden „Nominierten“ wählt das Publikum einen aus, der das Haus dann zu verlassen hat. Wer am Ende übrig bleibt, erhält 250.000DM. Alles was in diesem Haus passiert wird 24 Stunden lang von 30 Kameras festgehalten. Die Bewohner werden beobachtet, wenn sie duschen, wenn sie schlafen – auch wenn sie miteinander schlafen – sie werden beobachtet, wenn sie weinen, traurig sind oder betrunken. Vor allem wird beobachtet, wie der emotionale Druck zwischen den Männern und Frauen steigt, die sich vorher nie gesehen haben und sich danach vermutlich nicht mehr sehen können. Die Probanden unterschreiben, dass sie für 100 Tage, vermutlich auch davor und danach, dem Sender gehören.


Es ist anzunehmen, dass neben Geldnot auch der Wunsch nach Prominenz oder die Hoffnung auf einen Partner oder einen Job der Motor zum Mitmachen war. Auf jeden Fall hat es das im Deutschen Fernsehen noch nicht gegeben, dass Menschen ohne Leistung, ohne bemerkenswerten Inhalt, ohne eine Mission, 100 Tage Fernsehprogramm blockieren.


Die evangelische Kirche hat sich bei dieser Sendung in einen kritischen Diskurs mit Machern und Verantwortlichen begeben. Die zuständigen Medienwächter haben erwogen, die Sendung zu verbieten auf der Basis des Paragraphen, der die Menschenwürde schützt. Das Ergebnis ist noch höhere Publizität und infolgedessen höhere Quoten.


Was macht eine solche Sendung mit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, was macht sie mit uns als Zuschauer? Wobei die spezielle Sendung nur der Spiegel eines Trends ist, und der Trend ein Seismograph für unsere Gesellschaft.


 Norbert Schneider, der Direktor der Landesmedienanstalt in Nordrhein-Westfalen, hat grundsätzliche Fragen an dieses Programmformat gestellt, die ich hier verstärken möchte:


 1. Welche Auswirkungen hat die permanente Überwachung des träg- lichten Lebens, wenn eine solche Überwachung spielerisch vorgenommen wird? Wird nicht mit einem solchen Überwachungsspiel öffentlich das Grundrecht auf Privatsphäre konterkariert? Besteht nicht ein erhebliches Risiko, dass derartige Überwachungen als harmlos und folgenlos erscheinen und damit die Schwelle, auch sonst Überwachung des privaten Bereiches zuzulassen, erheblich gesenkt wird?


Wir leben in einem Land, das in der Vergangenheit staatliche Überwachung in zwei Diktaturen erlitten hat. Der Titel der Serie „big brother“ erinnert an den Roman 1984 von George Orwell, der den Inbegriff für Überwachungsterror totalitärer Regime beschreibt. Mindestens wir als Christen und Christinnen müssen gegen die Verharmlosung angehen, die mit der Aufgabe von Persönlichkeits-rechten im Spiel gegeben ist. Wir können nicht unwidersprochen geschehen lassen, dass zwar von der Gesellschaft der unbedingte Schutz von Persönlichkeitsrechten gefordert wird, wie der Schutz der Privatsphäre, das Recht auf Information, das Recht auf Bewegungsfreiheit, auf der anderen Seite aber ein Veranstalter mit dem Abkauf solcher Rechte sein Spiel treibt.


 2. Welche Folgen hat es für eine Gesellschaft, wenn man die Grenzen zwischen öffentlichen Räumen und Räumen der Diskretion, die bisher in jeder Kultur von Bedeutung waren, aufhebt? Diese Grenzen sind wohl sowieso im Schwinden. Das tägliche Elend der Talkshows beweist es. Was macht es mit unserer Gesellschaft, mit uns, den Zuschauenden, dass es Tabus der Privatheit, die eine Voraussetzung von Kultur sind, nicht mehr zu geben scheint? Die Zuschauer werden mit solcher Art Sendung zu Voyeuren. Sie schauen durchs Schlüsselloch in das Leben der anderen. Eine un-aufgebbare wichtige Lebenshaltung ist die Diskretion, die muss gepflegt und kultiviert werden.


3. Nun noch ein Wort zu den Teilnehmenden, den „Probanden“. Man sagt, sie wüssten worauf sie sich einlassen. Verletzungen der Menschenwürde, das ist in der Rechtssprechung klar, sind auch dann gegeben, wenn die derart Verletzten darin subjektiv gar keine Verletzung sehen. Und gewiss ist die RTL2-Serie von harmloser Banalität, wenn man an die Menschenrechtsverletzungen denkt, die weltweit in vielen Ländern der Erde geschehen, wo gefoltert, getötet, vergewaltigt und erniedrigt wird. Das eigentliche Risiko ist aber, wie mit dieser Serie der Angriff auf die Privatheit hoffähig wird, wie das Ergötzen am Privatbereich der anderen gesteigert und Indiskretion zur Selbstverständlichkeit wird.


Und dann die Frage, die von allen gestellt wird, die das Programm kritisch und gewissenhaft begleiten:


Muss unsere Debatte über das, was in den Medien menschenwürdig ist, wirklich immer erst vor dem Kadi entschieden werden?


Ist denn alles erlaubt, was zufällig nicht verboten ist?


Sind moralische Fragen wirklich weniger wichtig als Rechtsfragen? Kann man denn nicht mehr mit einer persönlichen ethischen Verantwortung von Programmmachern rechnen? Wie steht es mit der Verantwortung derer, die die Eigentümer und Finanziers der Sender sind?


Ausdrücklich will ich betonen, das öffentlich-rechtliche, durch Gebühren finanzierte Fernsehen ist nach wie vor ein wichtiges Bollwerk gegen totale Banalisierung, gegen die gröbsten Auswüchse der Geschmacklosigkeit. Henning Röhl, Fernsehdirektor des MDR, hat betont, dass es so eine Sendung weder bei ARD noch ZDF geben könne. Privatisierungsforderungen in diesem Bereich sind, Gott sei Dank, bisher ohne Erfolg geblieben.


2. Zur Rolle der Kirche in der gesellschaftlichen Mediendebatte


Die Kirchen sind als gesellschaftlich relevante Gruppe in den Rundfunk- und Fernsehräten der öffentlich-rechtlichen Veranstalter präsent und in einigen Programmbeiräten der Privatfunkveranstalter; sie sind in den Medienanstalten vertreten, die als Programmaufsicht der Privatsender dienen, und sie tragen selbst Programmverantwortung, sofern es sich um christliche Verkündigungssendungen handelt.


Es ist nicht von ungefähr, dass die Kirchen im öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem, das in der Nachkriegszeit dem völlig demoralisierten Deutschland durch die Alliierten aufgezwungen wurde, eine privilegierte Rolle innehatten. Eine Besinnung auf christliche Grundwerte erwartete sich die Gesellschaft, eine Neuorientierung in einem Land, in dem die Menschenwürde den unmenschlichen Zielen des Systems untergeordnet worden war.


 Die Mediendebatte heute stellt wieder die Frage nach der Würde des Menschen, nicht weil ein Diktator sich zum Maßstab aller Dinge glaubte aufschwingen zu können, sondern weil die Kommerzialisierung alle Lebensbereiche erfasst – die Diktatur der Ökonomie – und weil die Frage „was rechnet sich?“ die einzige Frage von gesellschaftlicher Relevanz zu werden droht. Die im Niveau ständig sinkende Unterhaltung verstärkt die Passivität der Zuschauenden. Ihr „Standort“ ist ihr Sitzort. „big brother“ ist noch nicht der Tiefpunkt.


 Das Magazin „Reporter“ bei RTL2 fordert zum Beispiel Leute auf der Straße auf, für Geld „den Hund zu machen“. Die lassen sich dann für 100 DM auf allen Vieren an der Leine führen, heben das Beinchen und machen „platz“ und alles wird mitgedreht, und alles wird gezeigt. Der gleiche Sender animiert Frauen, sich vor laufender Kamera auszuziehen und hula-hupp-Reifen zu drehen.


Ist die Menschenwürde in einer juristischen Grauzone verschwunden? Wer schützt die sogenannten Freiwilligen vor der Manipulation durch das Medium Fernsehen? Wer schützt die Menschen vor der Instrumentalisierung durch die Unterhaltung? Wer schützt das Publikum vor Veranstaltern, die ihre Protagonisten auf den „Hund“ bringen und die Zuschauer für dumm verkaufen?


So wie die unterschiedlichen Fernsehsender sich zunehmend auf spezielle Zielgruppen und Geschmacksmilieus einstellen, so teilt sich unsere Gesellschaft entsprechend in Milieus, und der Konsens über Fragen der Moral ist – so scheint es – fast völlig abhanden gekommen.


Die Kirchen geraten in diesem Diskurs unweigerlich in die Rolle der mäkelnden Moralapostel, weil sie immer wieder auf Grenzüberschreitungen hinweisen. Journalisten spotten über die „selbsternannten“ Moralapostel, Programmverantwortliche sehen den Einspruch der Kirchen geradezu als einen notwendigen Teil der PR-Inszenierung: Denn wenn niemand widersprechen würde, könnte eine solche Sendung ihre jugendlichen Zuschauer schwerer erreichen.


All dies sollte Christen jedoch keinesfalls entmutigen, im gesellschaftlichen Diskurs mit guten Argumenten zu intervenieren. Wir sind einem christlichen Menschenbild verpflichtet, das verbietet, dass Menschen mit ihrer ganzen Existenz, ihren Empfindungen, ihren Wunden, ihrem ganzen Leben für die Unterhaltung anderer instrumentalisiert werden. Unsere Kritik muss aber differenziert geschehen. Pauschale Verdammungen von Presse, Rundfunk, Fernsehen und jetzt auch des Internet, wie sie in kirchlichen Kreisen bisweilen ausgesprochen werden, machen gesprächsunfähig.


Vor allem aber müssen wir auch positive Impulse geben. Gute Sendungen müssen empfohlen werden. Nicht nur Bildungssendungen, auch gute Unterhaltung, ja auch gute Talkshows.


 Das geschieht schon häufig, bei Medienmachern ist das anerkannt. Eine der wichtigen medienbegleitenden Stimmen ist epd-medien, ein Produkt des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP).


Aber die öffentliche Wirkung könnte noch besser sein – vor allem auch dadurch, dass wir unser eigenes Engagement in der Produktion guter Sendungen verstärken.


Mancher Auftritt in einer Talkshow ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit, bei dem das Innerste nach außen gekehrt wird, um Beachtung zu erreichen.


 Wenn Menschen ihre Sorgen in Talkshows abladen und Talkmaster zu Beichtvätern werden, wird besonders deutlich, wie wichtig unser kirchliches Angebot an die Menschen ist, nicht nur in den Medien, sondern gerade in unseren Gemeinden. Kirchen bieten den Menschen Orte und Personen, die hier Akzeptanz und Geborgenheit finden.


Rasch heißt es: Hier hat die Kirche versagt. Ich bin vorsichtig mit dieser Art innerkirchlicher Selbstkritik. Sie entspringt einer Allmachtsphantasie, als könnten wir alle Probleme für die Gesellschaft lösen. Aber wir haben qualifizierte Angebote von Seelsorge. Da haben wir Grund, selbstbewusst zu sein, sollten nicht gleich alle seelischen Sorgen der Menschen an Therapeuten und Ärzte delegieren. Jedenfalls sollten wir unsere Seelsorge-Kompetenz verstärken.


3. Menschenwürde in den Informationssendungen


Zu den Verletzungen menschlicher Würde im Unterhaltungssektor kommen noch andere Risiken, die nicht auf die seichten Programmteile beschränkt bleiben. Sie ereignen sich gerade auch im Bereich der Informations- und Nachrichtensendungen. Irrtum und Manipulation sind bei heutiger Technik oft nicht erkennbar. Auch Nachrichtensendungen mutieren immer stärker zu Unterhaltungssendungen.


 Die Inszenierungen der Kriegsberichterstattung haben spätestens seit dem Golfkrieg immer wieder die Ebene seriöser Information verlassen. Beim Kosovokrieg offenbarte das Medium Fernsehen, dass es durch die Geschwindigkeit der Nachrichtenanforderungen einerseits, und wegen der streng kanalisierten Angebote an Gesprächspartnern und Bildern andererseits, zum Oberflächenmedium wird. Abend für Abend gab es Sondersendungen, die in immer gleichem Ablauf die immer gleichen Bilder zeigten. Hintergründe, Menschengeschichten, die Opfer auf beiden Seiten und die Täter auf beiden Seiten, die wurden eher in den Zeitungen gewürdigt. Der Krieg im Fernsehen verkam zur Kriegsberichterstattung, zum Teil auch zur oberflächlichen Rechtfertigung des Krieges.


 Es sei deshalb ausdrücklich den Redakteuren gedankt, die sich beispielsweise die Mühe gemacht haben, ihren Zuschauern zu erklären, wie sie an das gezeigte Bildmaterial gekommen sind. Es sei auch ausdrücklich den Autoren im deutschen Fernsehen gedankt, die sich Zeit genommen und Mühe gemacht haben, sich in Gefahr begeben haben, um die Wahrheit über den Krieg konkret an den Opfern des Krieges zu erzählen.


Ein zweites Beispiel aus der Katastrophenberichterstattung: Da sitzt eine zitternde junge Frau am Bahndamm in Brühl. Sie steht sichtlich unter Schock und ist in eine Decke gehüllt. Soeben ist ihr klar geworden, dass sie beinahe ihr Leben verloren hätte, und ein Reporter hält ihr das Mikrophon vors Gesicht und fragt: Wie geht es ihnen jetzt? So, als wäre sie soeben Siegerin eines Preisausschreibens geworden. Es gehört zur Menschenwürde, von Opfern zwar zu erzählen, sie selbst aber mit Diskretion zu behandeln.


In der aktuellen Mediendebatte spielt das Wort „freiwillig“ die zentrale Rolle, um Indiskretionen zu rechtfertigen. Das Einverständnis des Interviewpartners, des Spielpartners, des Talkshowgastes scheint schon alles andere zu rechtfertigen. In der Geschichte der Theologie ist die Frage nach dem freien Willen eine jahrhundertealte Streitfrage. Wirkliche Freiheit gibt es nur in Bindung an Gott, die zur Verantwortung befreit. Andernfalls wird Freiheit zur Beliebigkeit und zur Willkür.


Der Mensch ist nur bedingt frei, und er ist in vielen Situationen schutz-würzig. Ich rede nicht einem Fernsehen der Bevormundung das Wort, indem „schlaue“ Redakteure entscheiden, was das „dumme“ Publikum anschauen darf. Ich rede davon, dass jeder Mensch in Grenzsituationen den Schutz durch den anderen braucht. Der Schutz des Einzelnen muss einen höheren Wert darstellen, als die sensationelle Information an die Öffentlichkeit. Menschenwürde bedeutet auch, den anderen vor einer gnadenlosen Öffentlichkeit zu schützen.


Das wird noch komplizierter, wenn es um einen Politskandal geht, wo Personen wegen vermuteter ungesetzlicher Handlungen zur Debatte stehen. Hier muss abgewogen werden, ob über eine gesponserte Hochzeitsreise berichtet werden muss und ob man über die weiblichen Begleitpersonen von Ministern noch berichten darf. Die Privatsphäre eines Menschen, auch einer Person der Zeitgeschichte, gehört zu seiner Menschenwürde, und ich kann dem Aufklärungsbedarf der Amerikaner über das Privatleben ihres Präsidenten keine Sympathie entgegenbringen. Das öffentliche Tribunal, wie es uns im Fall Clinton vorexerziert wurde, ist ein Zeichen des Abschieds von dem Gott, der uns dereinst richten wird; der gerade dadurch uns Menschen aus der Richterpose befreit; der recht machen wird, was Unrecht war; der zurechtrücken wird, was in Schieflage geriet. Wenn das Vertrauen in diesen Gott verloren geht, dann allerdings kann es geschehen, dass Gott ersetzt wird durch die sogenannte Öffentlichkeit, die dann in Umfragewerten zu Gericht sitzt.


Das andere aber ist ebenso wichtig: Die schonungslose Aufklärung von Betrügereien, die dem Gemeinwesen schaden. Die deutsche Presse und die Fernsehjournalisten haben diesem Land in den vergangenen Monaten einen großen Dienst erwiesen: Sie haben hartnäckig gefragt, sie haben nicht locker gelassen und sich mit unbefriedigenden Antworten nicht zufriedengegeben. Es ist in dieser Situation dringend festzuhalten, dass dieses Gemeinwesen keine Privilegien vor dem Recht dulden kann. Hoffentlich verläuft nicht alles Ungeklärte im Sande der öffentlichen Ermüdung, die eine Feindin der Quote ist.


Ein weiteres Beispiel gelenkter Berichterstattung will ich nur kurz ansprechen. Möglicherweise werden sich erst allmählich die Auswirkungen zeigen. Die Platzierung von Firmen auf dem Aktienmarkt wird gelenkt durch gezieltes Medienmarketing für ungeheure Geldsummen. Wirtschaftsberichte werden im Tonfall und Dramatik inszeniert wie Formel I-Rennen. Der reale „Wert“ einer Firma tritt in den Hintergrund. Es ist die subtile und spektakuläre Steuerung der Informationen über das Fernsehen vor allem, die die Nachfrage nach bestimmten Aktien steuert.


 Lassen Sie mich noch ein weiteres Wort zur aktuellen Katastrophenberichterstattung sagen.


Wie aus dem Nichts sind sie wieder in der Berichterstattung aufgetaucht, die verhungernden Kinder, die gestorbenen Rinder, die bewaffneten Jugendlichen in Äthiopien. Das ist gut, denn die Publizierung ist unerlässlich, um Hilfe zu mobilisieren. Dennoch muss ein kritisches Wort erlaubt sein.


Von wenigen Zeitungen abgesehen, konzentriert sich unsere Auslands-Berichterstattung auf die Länder, die für Deutschland politisch oder ökonomisch wichtig sind. Von Ländern der Dritten Welt sehen wir zumeist lediglich die Elends- und die Katastrophenbilder.


Die Folge ist, diese Länder sieht der Fernsehzuschauer ausschließlich mit dem Spenderblick, mit dem Gestus des Reichen, der einen Brosamen für den Armen vom Tisch fallen lässt. Menschen dürfen nicht zu Hilfeempfängern und Bettlern reduziert werden. Selten wird vom wirtschaftlichen Aufstieg der Entwicklungsländer berichtet. So war es vermutlich schon ein kleiner Schock für den deutschen Bildungsbürger, dass plötzlich ausgerechnet aus Indien die weltführenden Computerspezialisten stammen sollen. Wenn die Medien den Hunger und den Tod bekämpfen helfen, dient das der Wahrung der Menschenwürde. Es gehört aber auch zur Menschenwürde, dass es eine Berichterstattung in Augenhöhe gibt, wo nicht nur Rückschläge und Schwächen berichtet werden, sondern auch Gaben und Fortschritte.


 Eben habe ich darauf hingewiesen, dass Menschen bereit sind, sich in entwürdigenden Situationen vor der Kamera zu präsentieren. Man muss auch umgekehrt die Frage stellen, warum Menschen so etwas sehen wollen. Was geschieht mit Menschen, die sich an diesen Grotesken delektieren? Wie verändert es sie? Welche Gründe lassen Lebensbeichten im Fernsehen interessant erscheinen, während man der Nachbarin mit ihren Sorgen nicht gerne zuhört?


Schon vor 20 Jahren zitierte der amerikanische lutherische Theologe John W. Bachman eine Untersuchung, nach der Menschen die gute Nachrichten hören, im allgemeinen anderen Menschen stärker zugeneigt sind und zur Zusammenarbeit bereit sind als diejenigen, die schlechte Nachrichten hörten (nach Wunden, S. 80). Nachrichten werden nicht nur über Menschen gemacht, sondern sie beeinflussen sie auch.


Inwieweit Sendungen Verhalten verändern ist umstritten. Es gehört zum Verteidigungsritual mancher Sender, aus der sozialen Verantwortung zu entkommen mit dem Argument, ein schlechtes Programm übe keinen negativen Einfluss aus. Sicherlich kann man nicht einen speziellen Gewaltfilm für einen Gewaltakt verantwortlich machen. Aber wie dauerhafte Beeinflussung wirkt, das zeigt sich schon darin, dass ja der Verkauf der Werbezeiten von der Überzeugung lebt, dass Menschen zu beeinflussen sind.


Bachman hat es gewagt, von biblischer Anthropologie her Maßstäbe zu entwickeln, die an die modernen Medien angelegt werden, die sowohl bei der Produktion als auch beim Konsum helfen können. Er fragt danach, wie die Medien dem “Reif werden in Gemeinschaft” dienen. Dazu gehört die positive Einstellung zur Bewahrung der Schöpfung ebenso, wie ein Angebot, dass den Menschen in seiner Geschöpflichkeit ernst nimmt. Er braucht ein Gleichgewicht von Arbeit und Erholung, von Information und Unterhaltung.


 Nachfolge Jesu ist anspruchsvoll, die Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste war anstrengend. Es gibt eine Trivialisierung, die einen geradezu vergessen lässt, dass man sich meistens anstrengen muss, wenn man etwas lernen will. Reife ist dabei die Fähigkeit, den sich aus-dehnenden Zeitabstandes zwischen Wunsch und Erfüllung auszuhalten. Tragen die Medien zum Sinn für Gemeinschaft unter allen Menschen bei? Drücken die Medien ein echtes Bemühen um die Wahrheit aus? Die hohen Verdienste der 4. Gewalt dürfen uns nicht blind für ihre Zwänge machen. “Es passiert in der Welt immer gerade so viel, wie auf eine Zeitungsseite passt“ (Hall in Wunden, S. 104). Darum ist es für den Christen gut, wie Barth empfohlen hat, neben der Zeitung auch die Bibel zu lesen. Nicht nur um aus der Bibel Orientierung für unser ethisches Handeln zu gewinnen, sondern um sich vor Augen führen zu lassen, wie der Rahmen unserer Wirklichkeit gesprengt wird.


 Spiegeln die Medien die Sorge um die Benachteiligten wider? Dies hat ja auch starken Einfluss auf das Verhalten der Zuschauer. Fernsehsender können eine Spendenlawine auslösen, von der Hilfswerke nur träumen können. Allerdings geraten wir hier an ein weiteres Problem: Informationsfülle kann auch abbrühen und zu Gleichgültigkeit führen.


4. Menschenwürde in der digitalen Welt:


 „Ich bin drin“, das ist der globale Slogan für den Zugang in die schöne neue Welt der absoluten virtuellen Kommunikation. Hier entwickelt das Medium sich zu einer eigenen Welt – mit kultischen Kennzeichen. Am Zugang zum Internet entscheidet sich, ob ein Mensch, eine Firma, eine Institution den Anforderungen der Zukunft standhalten wird oder nicht. Für die evangelische Kirche stellt sich aus medienethischer Sicht zu-nächst einmal die Frage der Partizipation: Wer kann mit welchen Startbedingungen an diesem Fortschritt teilhaben? Die Prognosen der Zukunftsforscher sind da düster. Sie prophezeien noch einmal mehr das Auseinanderklaffen der Standards und der daraus folgenden Lebensbedingungen rund um den Globus. Einmal mehr werden die Reichen und Großen expandieren, und die, die keinen Strom haben, werden einmal mehr den Anschluss verpasst haben.


Ich denke, Entwicklungshilfe der Kirche muss heute auch die Entwicklung technischer Standards sein. Wir werden weiter Anbauprojekte unterstützen, aber wir werden in Zukunft die jungen Menschen auch in die Lage versetzen müssen, am technischen Kommunikationsfortschritt zu partizipieren.


Die neuen Kommunikationstechniken bieten dazu – wenn einer erst einmal einen Anschluss hat – erstmalig in der Welt, die Möglichkeit einer völlig gleichberechtigten Kommunikation.


Kein Mächtiger kann dem Ohnmächtigen im Internet den Mund verbieten, Keiner kann den Anderen zensieren, jeder ist für das, was er veröffentlicht, selbst verantwortlich. Das bietet unglaubliche Chancen, erfordert jedoch eine konsequente Erziehung zur Mündigkeit des Mediennutzers.


Völlig gleichberechtigt nebeneinander, unzensiert und ungeordnet, unrecherchiert und unbewertet finden Sie im neuen Medium Internet, die Kataloge von Bibliotheken, die Archive von Zeitungen, Web-Seiten von Kinderpornohändlern oder Rechtsradikalen, Informationen über Einzelpersonen oder einzelne Sachverhalte. Unkraut und Weizen wachsen da nebeneinander ungetrennt, völlig vermischt. Die totale Freiheit der Auswahl hat eine totale Atomisierung der Gesellschaft zur Folge. Jedes noch so abstruse Spezialinteresse wird auf einer jedem Menschen zugänglichen Bühne dargestellt.


In seinem Buch „Das Technopol“ hat Neil Postman vor den Gefahren der Überinformation gewarnt. Es ist nahezu unmöglich geworden, zu unterscheiden. „Unterstützt vom einem Bildungssystem, dem seinerseits jede kohärente Weltsicht abhanden gekommen ist, raubt uns das Technopol die gesellschaftlichen, politischen, historischen, metaphysischen, logischen und geistigen Kriterien, um zu erkennen und zu ermessen was unglaublich und unglaubwürdig ist“ (Postman, S. 67).


„Der Geist aus der Flasche, der die Information zur neuen Gottheit der Kultur erhob, war ein Betrüger. Er löste zwar das Problem der Informationsknappheit, deren Nachteile unübersehbar waren. Aber er warnte nicht vor der Informationsschwemme, deren Nachteile nicht so klar erkennbar waren.“ (Postman, S. 69).


Es wird sich die Rolle der Print- wie der elektronischen Medien in Zukunft verändern, denke ich. Die Journalisten, die vormals recherchierten, und selektierten und berichteten und kommentierten, sie werden nicht mehr das Privileg des ausschließlichen Zugangs zu den nachrichtlichen Informationen haben. Diese sind für alle zugänglich.


Es fragt sich, ob man in Zukunft dem Journalisten in unserer Gesellschaft eine neue Rolle zuwachsen sieht. Müsste das nicht heißen, dass die Medien in Zukunft viel stärker als bisher die Rolle von Deutern übernehmen müssten – eine Art moderner Prophetie. Nicht mehr die pure Berichterstattung ist gefragt, sondern in welche Zusammenhänge einzelne Fakten gestellt werden und welche Orientierungshilfe diese Zusammenschau dann den Zuschauern und Leserinnen anbieten kann.


 Noch vor 10 Jahren hätten manche Journalisten das Berufsbild des Orientierers und Deuters weit von sich gewiesen. Ich denke, das transparente Orientieren wird die prophetische Aufgabe der Zukunft sein, und wir werden uns besinnen müssen auf bewährte Deutungsmuster und Wertekategorien, mit denen man die Zukunft erfassen kann. Welche Kraft haben die Kirchen, dabei zu helfen, wie gemeinsame Werte, „Verbindlichkeit“ und ethische Verantwortung erlernt werden?


Die Kirchen haben aus ihrer Botschaft Weltdeutung anzubieten, zu der die Menschenwürde als der oberste Wert gehört. So jedenfalls können sie dazu beitragen, einen medien-ethischen Kodex zu entwickeln, der weltweit gelten soll.


 Um nicht mehr und nicht weniger geht es.