Pressemitteilung

70 Jahre Barmer Theologische Erklärung: Predigt von Präses Nikolaus Schneider

Predigt

  • 1.6.2004

Hinweis: Zu diesem Jubiläum haben wir heute die Pressemitteilung Nr. 65/2004 mit dem Titel „Präses Schneider: Gott ist kein Stammesgott. Gott ist kein Kriegsgott“ herausgegeben. Wir bitten um Beachtung!


 


Predigttext: 1. Korinther 12,4-11


 


Liebe Gemeinde,


Gaben, Ämter, Kräfte – sie werden uns also gegeben. Auch heute.


Dem einen wird durch den Geist gegeben, erfolgreicher Staatsführer eines mächtigen Landes zu sein, der seine Wirtschaft zu weltbeherrschender Dominanz und die Armee seines Volkes von Sieg zu Sieg führt.


 


Einem anderen wird die Erkenntnis gegeben, Pflanzen, Tiere und Menschen gentechnisch zu perfektionieren; und er nährt die Hoffnung auf ein von Menschen geschaffenes Paradies auf Erden – möglichst leidfrei und ohne Behinderungen.


 


Einem anderen wird die Kraft und Gabe der geschliffenen und überzeugenden Sprache gegeben, und seine Worte bewirken blindes Vertrauen und kritiklosen Gehorsam.


Dies alles aber bewirkt derselbe eine Geist und teilt jedem das seine zu, wie er will.


 


Ist das die Pfingstbotschaft des Korintherbriefes heute, liebe Gemeinde?


Können wir die Botschaft von dem uns alle begabenden und bewegenden Geist Gottes kurz und knapp so auf den Punkt bringen:


„Was immer ihr als Christen und als Kirche denkt, redet und tut, alles lässt sich aus dem Wort und Willen Gottes ableiten und alles lässt sich mit dem Segen Gottes ausstatten?


Euch ist alles erlaubt, wenn ihr es mit den Worten eures Glaubens erklärt und es aus eurem Glauben heraus tut?“


Grenzenlose Toleranz statt Inquisition und Ketzerverbrennungen?


Also kein Ringen und Streiten mehr und die Wahrheit und um die Konkretionen der Wahrheit des Gotteswortes?


Stattdessen belanglose Beliebigkeit und heillose Beschwichtigung:


„Wir haben doch alle denselben Gott“.


„Es ist doch alles derselbe Geist“.


Ist das der Geist unseres heutigen Pfingstfestes?


Ich denke, ein solch beschwichtigendes theologisches Reden und Denken, in solchen theologischen Einheitsbrei würde Jesus mit der Peitsche dreinfahren, wie in die Verkaufsstände im Tempelvorhof.


 


Nach unserem Predigttext gilt etwas anderes:


Gottes Geist beschenkt uns tatsächlich mit verschiedenen Gaben, begabt uns mit verschiedenen Kräften, erfüllt uns mit Gottes Gegenwart und Nähe in unseren verschiedenen Ämtern. Der Geist aber drängt in eine bestimmte Richtung. Das muss erkennbar werden in unserem Reden und Tun.


Auf den einen Geist Gottes können und dürfen wir uns nur dann berufen, wenn unsere Gaben und Kräfte, unsere Ämter und Funktionen für das Wohl aller Menschen, für Frieden, Gerechtigkeit und gelingendes Leben in allen menschlichen Gemeinschaften eingesetzt werden.


 


Oder wie Paulus es ausdrückt: „In einem jeden offenbart sich der Geist Gottes zum Nutzen aller“.


 


Mit diesem paulinischen Prüfkriterium für die Urheberschaft des Geistes unseres Tuns können wir als Christen und als Kirche Jesu Christi nicht jedwedes politisches Reden und Handeln gut heißen. Wir binden es vielmehr an inhaltliche Vorstellungen, die universal und für alle Menschen gültig sind. Das gilt für staatliches Handeln, für die Forschung und die Wissenschaft und auch für die Arbeit mit dem Wort und dem Bild.


 


Die Barmer Theologische Erklärung bringt die inhaltlichen Erwartungen an staatliches Handeln in der fünften These auf folgenden Punkt: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“.


 


Dass Gewalt zu den Realitäten unseres Lebens gehört, ist damit ganz nüchtern festgestellt und anerkannt. Dass diese Gewalt nur dem Staat zusteht, dieser grundlegende Fortschritt für das Zusammenleben der Menschen wird in dieser These vorausgesetzt. Wie gefährlich und zerstörerisch gewaltsames, staatliches Handeln sein kann, auch das ist bei dieser These bewusst mit gedacht.


Wie in Israel/Palästina und im Irak täglich neu zu erkennen ist, dient staatliches Handeln dem gelingenden Leben aller Menschen dort gerade nicht. Die dort ausgeübte Gewalt provoziert Gegengewalt, Terror und Hass. Die dabei angewandte Folter zerstört die Menschenwürde von Tätern und Opfern.


Die Wertebasis gerade eines demokratischen Rechtstaates wird zerstört, wenn dieser in seinem Handeln die Grundlagen verlässt, auf denen er aufgebaut ist: Ohne öffentliche Verhandlung, Darlegung der Beweise, Anklage und Verteidigung als kriminell erkannte Menschen zu töten.


Der Geist Gottes drängt im Gegensatz dazu darauf, den Nutzen und das Interesse aller in den Blick zu nehmen. Gott ist kein Stammesgott, sondern der Vater aller Menschen. Gott ist kein Kriegsgott, sondern derjenige, der sich den Menschen in Liebe zugewandt hat und ihnen in ihren Dunkelheiten ganz nahe ist, wie am Leben Jesu von Nazareth abzulesen.


 


Ein Umgang und eine Gestaltung staatlicher Ämter geleitet vom Geist Gottes ist durchaus möglich. Allen soll staatliches Verhalten und Agieren nutzen. Recht und Frieden sind die Zielorientierungen dieses Verhaltens. Die angewandten Methoden und Mittel müssen dem entsprechen. Das gilt auch für die Anwendung von staatlicher Gewalt, sei es durch Polizei oder Militär.


 


Wissenschaftliches Denken und Forschen ermöglicht uns einen immer größeren Handlungsspielraum für von Menschen zu verantwortendes Gestalten der Welt. Gerade die Forschung im Bereich der Mikrobiologie eröffnet neue Möglichkeiten des Verstehens der Grundzusammenhänge des Lebens. Damit verbunden sind aber auch Eingriffs- und Manipulationsmöglichkeiten, die noch vor 20 Jahren undenkbar erschienen.


Gerade deshalb ist es wichtig, dass wissenschaftliches Denken und Forschen an ethische Werte und Normen gebunden ist. Ohne die Frage nach Gottes Gebot und Willen, der das Leben geschaffen hat und für alle erhalten will, wird unser menschliches Leben bedroht und gefährdet. Das gilt auch für unser Zusammenleben im Staat und in der Gesellschaft.


Nicht mehr das solidarische Miteinander und Füreinander von Generationen, von Gesunden und Kranken, der verschiedenen Rassen und Religionen inspiriert dann unsere Gesetzgebung, sondern Machbarkeit, Kosten-Nutzen-Relationen und die Maximierung des Gewinns für Einzelne oder für Firmen.


Diese Dimensionen sind alle wichtig, sie sind aber nur dann segensreich, wenn sie sich selbst an der Würde eines jeden Menschen orientieren.


In wissenschaftlichem Denken und Forschen ohne Verantwortung vor Gott offenbart sich nicht der Geist Gottes zum Nutzen aller. Unser Predigttext verbietet uns eine grenzenlose Toleranz und eine ethische Beliebigkeit.


Wir wollen und dürfen nicht zurück ins „finstere Mittelalter“, nicht zurück zur „Heiligen Inquisition“, Hexenverbrennung oder zur Verteufelung eines aufgeklärten naturwissenschaftlichen Denkens.


Wir sind nicht die Herren oder Hüter des göttlichen Geistes. Gott selbst schenkt seinen Geist wem er will und wo er will – auch über die Grenzen unserer Konfessionen unserer Kirche und unserer staatlichen Gemeinschaften hinaus.


In der Barmer Theologischen Erklärung formuliert die zweite These den umfassenden Anspruch Gottes auf unser ganzes Leben, all unser Denken und Forschen. „„Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbaren Dienst an seinen Geschöpfen“.


Wir haben also alles Denken, Reden und Handeln von Menschen und Gemeinschaften zu prüfen, ob und inwieweit sie das Wohl und den Nutzen aller bedenken und anstreben.


 


Die Medien werden in unserem Land gerne als die vierte Gewalt im Staat bezeichnet. Das ist auch nachzuvollziehen, denn wir erleben täglich, welche Macht durch Worte und durch Bilder ausgeübt werden kann. Ja wir selber leben von Worten und Bildern, die uns ermutigen, trösten und Orientierung vermitteln. Wir werden auch von Bildern erschüttert, aufgewühlt oder regelrecht wütend gemacht. So wird deutlich, welcher Missbrauch und welche Manipulation in diesem Bereich möglich sind. So können die klaren Begriffe Wahrheit und Lüge abgeschafft werden zugunsten der Fragestellung: „Wie verkaufe ich meine Sache am besten?“


Auftritte in den Medien werden regelrecht initiiert, um sie bestimmten manipulatorischen Zwecken unterzuordnen. So werden Menschen nicht eingeladen, kritisch nachzudenken und sich eine eigene Meinung zu bilden; sie werden vielmehr abhängig gemacht, des selbstständigen kritischen Denkens und Analysierens beraubt.


Diese Problematik begegnet uns aber nicht nur im staatlichen Bereich wie in vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Wir kennen sie auch aus unserer Kirche. Selbstkritisch haben wir zu überprüfen, wo wir manipulativ mit anderen umgehen, wo also die Durchsetzung eigener, partikularer Interessen dem Gehorsam gegenüber dem Geist Gottes, der auf ein gelingendes Leben für alle aus ist, entgegen steht.


 


Die sechste These der Barmer Theologischen Erklärung macht uns darauf aufmerksam, dass die Perspektive des Redens der Kirche auf das Wohl aller Menschen hin ausgerichtet sein muss. „Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“.


 


Das Reden der Kirche ist also gebunden an die Botschaft des Evangeliums, eingebunden in das Werk Christi als Nachfolge und ausgerichtet am Wohl aller Menschen.


Deshalb kann Kirche gerade dann ihren Auftrag verraten, wenn sie ganz bei sich selber ist, allein auf ihre eigenen Interessen sich konzentriert. Frei wird sie, kommt zu sich selbst und entspricht ihrem Herrn, wenn sie sich ganz an ihn bindet. So wirkt der Geist von Pfingsten im Reden der Kirche.


 


Staatliches Handeln, wissenschaftliche Arbeit und der Umgang mit dem Wort und dem Bild sollen ein Segen für alle Menschen sein. Wir benötigen dies alles, wenn wir unser Leben auf dieser Welt gestalten wollen. Gaben, Ämter und Kräfte sind aber nur dann ein Segen, wenn sie an das Evangelium gebunden bleiben, vom Geist Gottes bewegt werden und sich zum Nutzen aller auswirken.


Im Interesse dieses Dienstes von Christinnen und Christen und der Kirchen unter den Menschen wurde die Barmer Theologische Erklärung am Pfingstfest 1934 verabschiedet, in diesem Dienst und verpflichtet auf die Grunderkenntnisse von damals stehen auch wir Heutigen. Gott regiere unsere Gedanken, Worte und Taten. Er segne uns, damit wir zum Segen werden.


Amen.