Pressemitteilung

„Warum haben wir noch keine Sozialhauptstadt?“

Fachgespräch im Landeskirchenamt zu Armut und Reichtum

  • Nr. 164
  • 23.11.2005
  • 6140 Zeichen


Die Armut nimmt zu – der Reichtum aber auch. Die wachsende Polarisierung zwischen Arm und Reich wurde vor knapp einem Jahr im Armuts- und Sozialbericht des NRW-Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziale erstmals mit entsprechendem Datenmaterial dokumentiert. In einem Fachgespräch mit Vertreterinnen und Vertretern aus dem Ministerium und aus den Beratungsstellen der evangelischen Kirche wurde heute im Landeskirchenamt Bilanz gezogen.



Christian Drägert, Vizepräsident der Evangelischen Kirche im Rheinland, eröffnete das Fachgespräch mit einer Ausstellung mit Karikaturen zur Sozialpolitik des Essener Karikaturisten Thomas Plaßmann, bekannt aus der Tagespresse und Träger zahlreicher Preise und Auszeichnungen. Plaßmann setze „die spitze Feder“ in hervorragender Weise zu den Themen der Sozialpolitik an: Arbeitslosigkeit, Armut, Alt und Jung. Drägert betonte, dass das Thema Sozialpolitik in der rheinischen Kirche auch in Zeiten knapper Kassen und erforderlicher Sparmaßnahmen in den eigenen Reihen einen hohen Stellenwert habe und behalten werde. Er begrüßte, dass die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag in vereinbart habe die Armuts- und Reichtumsberichterstattung zur Grundlage einer Politik zu machen, „die einem Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich entgegenwirkt“ – so zitiert aus dem Vertrag. „Wir sind gespannt, wie die politischen Akteure Erkenntnisse aus der Armutsberichterstattung tatsächlich in zukunftsfeste Armutsbekämpfung münden lassen“, so der Vizepräsident und oberste Jurist der rheinischen Kirche.



Genau um diese Frage ging es auch immer wieder in dem Fachgespräch. Gabi Schmidt, Referentin aus dem Ministerium, erinnerte daran, welche Differenzen der NRW-Armuts- und Sozialbericht 2004 feststellt. Während in den Jahren 1975 bis 1985 in Nordrhein-Westfalen eine halbe Million Industriearbeitsplätze aus Gründen des Strukturwandels verloren gingen, stieg die Zahl der Einkommensmillionäre. Während heute – nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben – vom Durchschnittsverdienst ca. 51 Prozent im Geldbeutel der Arbeitsplatzbesitzerinnen und -besitzer verbleiben, sind es bei den „oberen Reichen“, das sind 1000 Personen in NRW, ca. 59 Prozent. Unterm Strich bleibt ihnen mehr, weil sie höhere Steuern zahlen, aber nur bis zu den Bemessungsgrenzen höhere Sozialabgaben. Während die Altersarmut gesunken ist, stieg die Kinderarmut drastisch an. Auch zeigte der Bericht die Komplexität von Armut auf. Sie benachteiligt Menschen nicht nur materiell. Sie schließt Menschen von gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten aus. Wer arm ist, hat weniger Bildungschancen, aber mehr Gesundheitsrisiken als Besserverdienende.



Doch was wird gegen diese Entwicklung unternommen? Von Vertretern aus Beratungsstellen und Arbeitslosenprojekten war in der Aussprache Bedenkliches zu hören. Kleinere Geschäfte und Kneipen machten zu, die insolventen Einzelhändler seien frustriert, es steige die Nachfrage nach gebrauchter Kleidung und Mahlzeiten aus den Suppenküchen. „Ghettobildung in einzelnen Stadtteilen und zunehmende Radikalisierung sind schon da“, hieß es einhellig. Und es wurde gefragt: „Manche machen die drohende Polarisierung sogar noch zum Programm – wo bleibt die Handlungsorientierung?“



Gabi Schmidt unterstrich, dass die Armuts- und Sozialberichterstattung in NRW erfreulicherweise fortgesetzt würde, auch unter der neuen Landesregierung. Für 2007 sei ein neuer, noch differenzierter angelegter Bericht geplant, in dem auch andere Gruppierungen – u.a. Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Kommunen – eigene Stellungnahmen veröffentlichen. Ein vorbereitendes Fachgespräch dazu sei bereits im Dezember 2005 geplant. Das „kommunale Armutspotenzial“ aufzuzeigen, sei ein zusätzliches neues Ziel des Berichts – „Pionierarbeit“ im Vergleich zu anderen Armuts- und Reichtumsberichten. Stärker hervorheben wolle man auch die reale Verwendung von Einkommen. Die eigenen Erkenntnisse würden außerdem mit Resultaten aus der Gesundheits- und der Bildungsberichterstattung verknüpft – eine „Vernetzung“, wie sie zurzeit noch nicht üblich sei, so die Referentin.



Die Debatte um die „Handlungsorientierung“ der Politik blieb während der Veranstaltung kontrovers. Wie kann verhindert werden, dass – trotz in der Sozialberichterstattung dokumentierten Problemlagen – nichts unternommen wird? Muss die Politik selbst initiativ werden? Oder haben andere – und wer – Druck auszuüben? „Handeln braucht Anlässe – z.B. die breite öffentliche Diskussion um Armut und Reichtum“, lautete ein Votum. Die „sachliche Munitionierung mit einem NRW-Bericht 2007“ könne nützlich sein. Auch kreative Vorschläge kamen zur Sprache: „Essen bewirbt sich darum‚ Kulturhauptstadt zu werden, aber warum haben wir keine Sozialhauptstadt oder eine Hauptstadt für Chancengleichheit?“


Dass die Kirchen sich in der Sozialpolitik nachhaltig einmischen, darauf wurde in dem Fachgespräch immer wieder hingewiesen. Und wie Vizepräsident Drägert schon in der Begrüßung feststellte, bleibt es dabei: „Wir lehnen uns nicht zurück und ‚beobachten‘ die Politik, auch als Kirche wissen wir uns in der konkreten Handlungsverantwortung“, sagte er. Das Thema Arm und Reich sei in Kirche und Diakonie „seit jeher ein klassisches Gebiet.“ Er verwies auf die zahlreichen Projekte, Foren und Arbeitshilfen der rheinischen Kirche, aber auch auf die Kooperationen in andere Landeskirchen hinein, zu Ministerien und wissenschaftlichen Instituten. „Uns liegt daran, in wechselseitigem Miteinander und in kritischem Dialog Armut gemeinsam zu skandalisieren, der Armut eine Grenze und dem Reichtum ein Maß zusetzen,“ so sein Votum – mit Hinweis auf die gleichnahmige Arbeitshilfe der rheinischen Kirche mit Beispielen für kirchliches Handeln gegen die soziale Polarisierung, veröffentlicht im letzten Jahr.