Pressemitteilung

Oberkirchenrat Dembek: Rechtfertigung als „antidepressives Mittel von großer Kraft“

Im Wortlaut

  • Nr. Achtung, Sperrfrist: Heute, 31. Oktober 2008, 19 Uhr! Es gilt das gesprochene Wort. Predigtmanuskript für den Reformationsgottesdienst in Mülheim/Ruhr
  • 1.11.2008
  • 13951 Zeichen

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
Oberkirchenrat Jürgen Dembek, hauptamtliches Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland, predigt heute Abend im Reformationstagsgottesdienst in der Petrikirche in Mülheim/Ruhr. Der Gottesdienst beginnt um 19 Uhr.
Nachfolgend finden Sie das Predigtmanuskript von Oberkirchenrat Dembek zu Ihrer Verwendung. Bitte beachten Sie die o.a. Sperrfrist und den Wortlaufvorbehalt.
Mit freundlichem Gruß
Jens Peter Iven
Pressesprecher

„Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Reformationstag: Erneuerung – Aufbruch – Bewegung –   alle Jahre wieder!?
Und dann, liebe Gemeinde, bleibt die Realität dazwischen hinter dem, was an Reformationstagen gesagt wird, meist weit zurück.
Also nichts mehr sagen an solchen Tagen? Das wäre kurzschlüssig, denn das brauchen wir schon und immer wieder: Die Erinnerung an das gute Erbe der Reformation, damit es nicht selbstverständlich und irgendwann unerheblich wird, und die Erinnerung an den Stachel der Reformation, dass die Kirche, unsere Kirche, immer wieder zu reformieren, zu erneuern ist, dass wir in und mit dieser Kirche uns bewegen, aufbrechen.
Wohin das führen soll? Vielleicht/hoffentlich hilft der Predigttext aus Jesaja 62 bei der Antwort auf diese Frage:
6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen,
7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
11 Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!
12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«. (Jes 62, 6+7.10-12)

In der Tat: Um Aufbruch geht’s! „Gehet ein, gehet ein! Machet Bahn, machet Bahn! Räumt Steine weg!“ In Bewegung setzen sollen diese Worte, mobilisieren; Resignation und Lethargie aufbrechen. Die nämlich drohen die Hoffnung zu ersticken, das Vertrauen zu zerbrechen, die Kräfte zu lähmen – damals um 520 vor Christus in Jerusalem.
18 Jahre zuvor hat der Perserkönig Kyros den nach Babylon Verschleppten die Erlaubnis zur Heimkehr gegeben. Daraufhin kehrten die ersten Wagemutigen nach Jerusalem zurück. Ihre Stadt liegt in Trümmern. Die zerstörten Mauern bieten keinen ausreichenden Schutz. Spuren von Verwüstung prägen immer noch das Erscheinungsbild der Stadt, Angst und Unsicherheit das Lebensgefühl der Menschen. Trotzdem sind seit kurzem Hammerschläge zu hören. Es gilt, den zerstörten Tempel wieder aufzubauen, die Mauern der Stadt, die Häuser. Ein mühsames Unterfangen ist das. Und ob die Zukunft wirklich dadurch gewonnen wird, dass man die Vergangenheit rekonstruiert, ist eine offene Frage. Der Schrecken sitzt tief. Die Erfahrung des Exils hat die Fundamente des Glaubens wohl tiefgreifender erschüttert als die Trümmerfrauen und –männer es wahrhaben wollen. Die Verheißung, dass das Exil ein Ende nehmen würde, war erfüllt worden, aber sollte nicht auch „die Herrlichkeit des Herrn offenbart werden“ (Jes 40, 5)? Davon ist nichts zu sehen, zu erfahren. Angesichts der erlebten Dürftigkeit hat sich die religiöse Bedeutung der Heimkehr aus dem Exil nicht als erneuernde und  mobilisierende Glaubenserfahrung erwiesen. Unsicherheit, Ungewissheit, Zweifel stellen den Glauben in Frage. Ist Gott verstummt? Hat er sein Volk nicht doch verlassen? Sind seine Versprechen leere Worte, seine Verheißungen Wortgeklingel?
Sie merken, liebe Schwestern und Brüder, von Aufbruchstimmung  und von Erneuerung ist da nichts zu spüren.
Und trotzdem stellt sich dieser Prophet ohne Namen, den man – weil nichts anderes einfiel – den Dritten Jesaja nennt, zwischen die Trümmer und die wenig überzeugenden Anfänge des Wiederaufbaus, stellt sich neben die Enttäuschten, die Entmutigten und Verzagten und wiederholt die alten Verheißungen, greift sie auf, wandelt sie um, sagt sie neu. Dieser unbekannte Prophet will Erneuerung, will Aufbruch und er weiß zugleich, dass beides nur gelingen kann, wenn nicht nur die babylonische Gefangenschaft beendet wird, sondern auch das innere Exil – der verzagte Rückzug auf sich selbst, der Einschluss in die Gemäuer der eigenen Bekümmernis.

Und noch eins weiß der Prophet: Wer so in sich selbst verschlossen lebt ohne Aussicht, so verstrickt in seine Fragen ohne Antwort, wer nicht anders kann, als sich selbst zu genügen in seiner Resignation, der findet von selbst nicht heraus, kann sich nicht selbst befreien, nicht aus eigenen Kräften aufbrechen.
Da muss jemand mobilisiert, zum Aufbruch gebracht werden, der solche Verschlossenheit aufbrechen und die Verstrickung lösen kann. Deshalb tut der Prophet – einigermaßen kühn – etwas, was sonst der Gott Israels von sich sagt: „Ich habe Wächter über euch gesetzt“ (Jer 6, 17). Der Prophet bestellt Wächter über die Mauern Jerusalems, auch wenn die noch gar nicht fertiggestellt sind. Er bestellt Wächter, nicht um die Stadt zu bewachen, sondern um Gott wach zu halten Tag und Nacht, Wächter, die Gott keine Ruhe lassen.
„O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe!“
Nicht die Stadt, sondern Gott sollen die Wächter wach machen und wach halten, ihn an seine Zusagen erinnern, damit er sie erfüllt und in seinen Aufbruch sein Volk hineinzieht.
Gott in den Ohren liegen, ihn aufrütteln, bitten und beten und betteln – zudringlich, unverschämt. Zu lernen in der Gebetsschule Israels und auch bei den Reformatoren! Ihr Vermächtnis an uns!
Verhalten formuliert bei Calvin: „…man darf den Mut nicht sinken lassen, wenn man nichts als Trümmer vor Augen hat und jammervolle Versprengung; unsere Sache vielmehr ist’s, darum zu beten, der Herr, er wolle sie wieder aufrichten, was er nach seiner Verheißung ja auch tun will.“ Und deutlich, prägnant Luther an Melanchthons Krankenbett: „Allda musste mir unser Herrgott herhalten, denn ich warf ihm den Sack vor die Tür und rieb ihm die Ohren mit allen Verheißungen von der Erhörung des Gebets…, dass er mich musste erhören.“
Vor dem Aufbruch, wohin auch immer,  also unser Aufbruch zu Gott! Beten! Gott in den Ohren liegen! Vergessenes Wächteramt der Kirche? Gott mit unserem Gebet – aus Vertrauen oder aus Verzweiflung, das liegt soweit nicht auseinander! –Gott mit unserem Gebet auf den Geist gehen, bis er uns seinen Geist gibt, der aus der Erstarrung löst und mobilisiert und neu macht.
Sage niemand, das hätten wir nicht nötig! Es gibt nicht nur den in sich selbst verkrümmten, sich um sich selbst drehenden Menschen, wie Luther den Sünder beschreibt; es gibt auch die in sich selbst verdrehte, nur mit sich selbst beschäftigte, auf sich selbst fixierte Kirche.
An ein solches Bild der Kirche erinnerte manche Diskussion in den letzten Jahren über sinkende Mitgliederzahlen, schrumpfende Finanzen, fortschreitende Säkularisierung, Traditionsabbruch und abnehmende Akzeptanz in der Gesellschaft. Eine kultivierte Depressivität machte sich breit – nicht nur in Sitzungszimmern. Diesen Zustand der Selbsteinschüchterung zu verlassen, das gelingt wohl nur, wenn das Vertrauen zu Gott gestärkt wird. Damit sind die Probleme nicht gelöst, schwierige Rahmenbedingungen werden nicht schön geredet, aber all das bekommt einen nachgeordneten Stellenwert. Und wir selbst, jede und jeder einzelne von uns, liebe Gemeinde, und auch die Kirche, die wir sind, bekommt einen anderen Stellenwert: „Heiliges Volk“, „Erlöste des Herrn“, „Gesuchte – nicht mehr verlassene Stadt“, das sagt der Prophet der Tochter Zion. Können wir uns und unsere Kirche mitangesprochen wissen? Ich glaube, ja.
Gottes Wertschätzung stärkt unser Gottvertrauen und auch unser Selbstvertrauen. Diese Wertschätzung kommt nicht zuletzt in dem zum Ausdruck, was als Erbe der Reformation auf uns gekommen ist – in der Rechtfertigungsbotschaft. Ein antidepressives Mittel von großer Kraft! Ein Lebenszeichen von Gott! Ein Lebenszeichen für Sie und mich, ein Lebenszeichen für unsere Kirche!
Gott – so lautet diese frohe Botschaft – rechtfertigt die Person; sie ist ihm recht, auch wenn er ihre Taten ablehnt. Gott trennt zwischen Person und Werk, Mensch und Geschick, Identität und Erfolg. Er wertet nicht das Scheitern der Werke als Scheitern der Person. Er sagt: Du bist gut, obwohl nicht alles gut ist, was du tust. Er sagt: Ich erkenne in euch mein Ebenbild, obwohl ihr viel dazu beitragt, dieses Ebenbild zu zerkratzen. Er sagt: Du bist geliebt – obwohl die Härte des Lebens dir oft den Eindruck gibt, ich meinte es nicht gut mit dir.
Diese Rechtfertigungsbotschaft versichert uns: Es kommt nicht darauf an, wieviel ihr tut. Und sie eröffnet eben deshalb die Freiheit
engagiert und mit vollem Einsatz tätig zu sein.
Sie bestätigt uns: Es kommt nicht darauf an, ob ihr Erfolg oder ob ihr Misserfolg habt; denn von eurem Erfolg hängt nicht das Bild ab, das Gott von euch hat. Durch eure Misserfolge wird es nicht in Frage gestellt. Und eben deshalb könnt ihr Erfolg und Misserfolg riskieren.
Gut zu hören, nicht wahr. Noch besser, sich darauf einzulassen, darauf zu vertrauen! Und diese Wertschätzung macht Mut zur Erneuerung, zum Aufbruch. Wo der hingeht? In welche Richtung, mit welchem Ziel?
Für den Propheten sind Weg und Richtung klar. Und um das Ziel nennen zu können, verändert er kühn die Tradition. Das alte Prophetenwort: „Bereitet dem Herrn den Weg!“ (Jes 40, 3) bezieht er auf das Volk: „Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, räumt die Steine hinweg!“ Die, die aus dem Exil bereits heimgekehrt sind, sollen denen entgegengehen, die sich später auf den Rückweg nach Jerusalem machten. Und nicht nur ihnen entgegengehen, auch ihnen den Weg bereiten, Hindernisse beseitigen, Steine wegräumen, willkommen heißen, die Heimkehr erleichtern, aufnehmen.
Ein solcher Aufbruch würde nicht wenig bei uns, in unserer Kirche erneuern: Wir brechen auf – hin zu denen, die nicht im Kern unserer Gemeinde leben; auf sie gehen wir zu, nehmen sie wahr und ernst –  Menschen, die sich der Gemeinde nur für einen kurzen Lebensabschnitt zuordnen oder punktuell an bestimmten Feiertagen und in lebensbegleitenden Gottesdiensten; Interessierte außerhalb der Kirche, die sich für konkrete Projekte engagieren – auch finanziell; Ausgetretene, die durch die Taufe nach wie vor zum Leib Christi gehören. Die Botschaft von der freien Gnade Gottes gilt ihnen genauso wie den treuen Kirchennahen. Ob wir die ferner Stehenden leichter erreichen in Zeiten, in denen Menschen spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt und das Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht? In Zeiten, in denen die Gier nach Gewinn rücksichtslos in die Krise treibt, weil Gewinn mindestens genauso geil ist wie Geiz? Mag sein!
Klar ist für mich, dass wir Steine aus dem Weg zu räumen haben: sprachliche Barrieren, strukturelle Schwierigkeiten, die Folgen erfahrener Verletzungen.  Und dass wir dabei nicht nur auf Sendung gehen, um unsere Angebote und Antworten nach außen zu bringen, sondern dass wir auch auf Empfang gehen und unser eigenes Verstehen des Glaubens in Frage stellen, erweitern und vertiefen lassen.

Der Aufbruch wird uns zu Wegmarken führen, die dann aus dem Blick zu geraten drohen, wenn wir uns in der Kirche zu sehr mit uns selbst beschäftigen. Die Option für die Armen in unserer Gesellschaft und in der Welt ist eine solche Wegmarke, die Parteinahme für die sozial Schwachen, Benachteiligten und Machtlosen, für die kommenden Generationen.
Und auch die beiden Wegzeichen konziliarer Prozess für Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Dekade zur Überwindung von Gewalt markieren den Weg.
Unsere Landeskirche hat sich auf diese drei Wegmarken selbst verpflichtet – sind wir’s nicht mit ihr?
Wie gesagt: Wenn wir Herz, Kopf, Hand und Fuß freihaben vom Kreisen um uns selbst, können wir sie gebrauchen für unseren Aufbruch und zur Erneuerung – in dem Vertrauen auf Gott, für das Martin Luther folgende Worte gefunden hat:
 „Denn da ist wohl Trübsal und Jammer vorhanden, die mich sauer ansehen und gern wollten, dass ich mich vor ihnen fürchten und sie um Gnade bitten sollte. Aber ich weise sie ab und spreche: Lieber Butzemann, friss mich nicht; du siehest wahrlich scheußlich genug aus für den, der sich vor dir fürchten wollte. Aber ich habe einen anderen Anblick, der ist desto lieblicher, der leuchtet mir wie die liebe Sonne bis ins ewige Leben hinein, dass ich dich kleines, zeitliches, finsteres Wölklein und zorniges Windlein nicht achte.“
(M. Luther; WA 31,1,9f).

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.“